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Debatte > Das Individuum im Zentrum

Was bedeutet moderner Liberalismus wirklich?

Der Liberalismus stellt das Individuum ins Zentrum. Seine ethische Qualität besteht darin, dass wir anderen dieselben Rechte zubilligen wie uns selbst. Doch der individualistischen Liberalismus wird er von links und rechts angegriffen.

Christian Lindner, MdB, Bundesminister der Finanzen
Christian Lindner spricht beim Ludwig-Erhard-Gipfel 2023. Foto: WEIMER MEDIA GROUP

Während der Liberalismus das Individuum ins Zentrum stellt, folgen andere Philosophien kollektivistischen Werten. Der Kommunismus beispielsweise sieht den einzelnen Menschen vor allem als Teil seiner Klasse, der Republikanismus fordert einen Gemeinwillen, der Kommunitarismus eine tradierte Wertegemeinschaft, das ökologische Denken fokussiert die Natur.

Wir sprechen also heute über den Individualismus. Aus Individualismus folgt notwendigerweise Freiheit, weil ein Leben in Würde unter dem Diktat anderer undenkbar ist. Selbstbestimmung über das eigene Leben, die freie Rede und Eigentum sind Rechte, über die alle Individuen in einer liberalen Ordnung verfügen. Gleich sind die Individuen in ihren Rechten, vielfältig sind sie in dem, was sie aus ihren Rechten machen. Eine freie Gesellschaft kann deshalb kaum je homogen sein. Im Gegenteil, im Gedanken der Homogenität läge eine autoritäre Note.

Es würde hier jeden Rahmen sprengen, die Angriffe auf den Liberalismus und die Literatur gegen ihn darzustellen. Es ist schlicht uferlos.

Schlagwortartig kann man sagen, dass der Liberalismus von links angeklagt wird, er verantworte Ausbeutung, Verelendung und Ungleichheit, weshalb er über entfesselte wirtschaftliche Macht zugleich antidemokratisch wirke und natürliche Lebensgrundlagen verbrauche. Von rechts wird dem Liberalismus vorgeworfen, er zerstöre Traditionen, Zusammenhalt und kulturelle wie nationale Identitäten.

Diese Kritikpunkte sollten wir nicht leichtfertig verwerfen. Manche sind zwar schlicht abwegig. Andere aber beschreiben gesellschaftliche Entwicklungen, die fälschlicherweise der liberalen Ordnung zu Lasten gelegt werden, obwohl wir Liberale sie eigentlich ebenfalls ablehnen müssten. Leider hat der Liberalismus neben einer Reihe von echten Gegnern auch falsche Freunde, die ihn zu einer festgefügten Ideologie machen wollen. Dabei gehören seine Lernfähigkeit und sein Vertrauen auf Fortschritt als inkrementellem Prozess menschlicher Zivilisation zu seinem Kern.

Schauen wir zuerst nach links.

Norberto Bobbio ordnete das Links-Rechts-Schema einst anhand der Gedanken von Egalitarismus und Anti-Egalitarismus. Linkes Denken thematisiert also materielle Ungleichheit. Die Schere zwischen Arm und Reich gehe auseinander. Es bilde sich eine abgehobene und privilegierte Oberschicht, die mit dem Leben der Mehrheit nichts mehr zu tun habe. Tatsächlich können wir in vielen Gesellschaften eine entsprechende Spreizung sehen. Übrigens nicht nur in kapitalistisch verfassten Systemen, sondern auch bei systemischen Rivalen.

Bestimmte Stimmen der liberalen Literatur neigen dazu, dies achselzuckend hinzunehmen. Wenn eine Verfassung besteht, die Vertragsfreiheit und Eigentum sichert, müsse man sich schlicht mit Ungleichheit abfinden. Die liberale Ordnung habe den Charakter eines Prozesses, moralische Ansprüche seien ihr fremd. Diese Position wurde mobilisiert insbesondere in Abgrenzung zu John Rawls, an dessen „Theorie der Gerechtigkeit“ man in der politischen Philosophie nicht – und schon gar nicht in Princeton – vorbeigehen kann, da er hier seine akademische Laufbahn begonnen hatte.

Eine Ordnung jedenfalls, die von ihren Mitgliedern als nicht gerecht empfunden wird, kann nicht stabil sein. Denn wenn politische Theorie nicht in der Praxis überzeugt, werden die Menschen sich in Wahlen oder mit den Füßen von ihr abwenden.
„Ethische Gefühle“ spielten ja auf der Ebene des Individuums bereits für Adam Smith, einen der Urväter des Liberalismus, eine bedeutende Rolle. Schließlich widmete er ihnen sein erstes Werk. Erst danach legte er mit dem „Wohlstand der Nationen“ jene Schrift vor, die mit der „unsichtbaren Hand“ des Marktes Grundlagen der Wirtschaftstheorie geschaffen hat. Den inneren Zusammenhang der beiden Bücher im Denken von Smith zu ergründen, bleibt ein Gegenstand der Philosophiegeschichte. Die politische Praxis belegt ihn jedenfalls empirisch. Auch die Verhaltensökonomik hat längst Abstand vom gefühllosen Nutzenmaximierer genommen.

In Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie sind für meine Überlegungen heute zwei Aspekte wichtig. Erstens seine Betonung der Chancengleichheit, nach der – in meinen Worten – gesellschaftliche Positionen nach Leistung und nicht nach Herkunft vergeben werden. Und zweitens das Differenzprinzip, wonach Ungleichheit – ebenfalls in meinen Worten – dann akzeptiert wird, wenn die Dynamik der Ordnung so viel Wohlstand produziert, dass selbst das schwächste Mitglied der Gesellschaft noch von ihr profitiert. Anders gesagt, es ist nichts gewonnen, wenn alle zwar gleich, aber jeder bitterarm ist.

Was ist Ihr Eindruck? Meiner ist, dass – gemessen an diesen Maßstäben – für Liberale viel zu tun bleibt. Chancengleichheit ist nicht verwirklicht. In Deutschland beispielsweise prägt die Herkunft aus einer Familie den Lebensweg. Gerecht wäre dagegen, wenn Unterschiede in Talent, Fleiß und Risikobereitschaft über den Platz in der Gesellschaft bestimmen und nicht – wie Rawls sagt – die „natürliche Lotterie der Geburt“.

Ich bin überzeugt, dass der Zugang zu Bildung dafür die wesentliche Ressource ist. Und wir müssen dort mehr investieren, wo aus der Herkunft besondere Benachteiligung schon in jungen Jahren zu befürchten ist. Denn Bildung verbessert die soziale Durchlässigkeit. Die Intervention des Staates muss vor allem hier beginnen, damit die sich später aus Lebensentscheidungen ergebenden Unterschiede allgemein als fair empfunden werden können.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um Stefan Kolev willkommen zu heißen – nicht zuletzt, weil seine Biographie ein beeindruckendes Beispiel dafür ist, was es heißt, nicht vor der "Lotterie der Geburt" zu kapitulieren.

Ich kenne Stefan Kolev seit langem. Wir stammen aus der gleichen Generation. Aber wir sind in völlig unterschiedlichen Welten aufgewachsen. Er wurde in Bulgarien geboren, in der Zeit des Kommunismus. Heute ist er Professor in Deutschland. Außerdem ist er wissenschaftlicher Leiter des Ludwig-Erhard-Forums für Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin. Im vergangenen Semester war er hier in Princeton als Visiting Fellow im Fachbereich Politik tätig.

Betrachtet man Rawls' zweiten Grundsatz, so zeigt die gegenwärtige Situation der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, dass viele liberale Ordnungen in der Welt diesem Anspruch nicht gerecht werden. Der große Liberale Ralf Dahrendorf forderte einst, dass man zwar keine Deckenbegrenzung einziehen dürfe, aber alle auf „dem gleichen Boden“ stehen sollten. Ich bin davon überzeugt, dass ein solcher gemeinsamer Boden beispielsweise den Zugang zur Gesundheit, den Schutz bei persönlichem Unglück und die Gewährleistung eines materiellen Existenzminimums, das die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht, umfasst.

Hier ist wiederum die staatliche Gemeinschaft gefordert, die, wenn der Markt den Boden nicht garantiert, diesen sozialen Ausgleich organisieren muss. Dafür erhebt auch ein liberaler Staat Steuern, zu deren Aufkommen die Stärkeren gemäß ihrer Leistungskraft herangezogen werden müssen. Tatsächlich ist es in meinen Augen fair, wenn die Leistungsträger von ihrem Einkommen auch prozentual höhere Beiträge leisten, da ihr Erfolg auf stabilen Verhältnissen, Kooperationschancen und zivilisatorischen Bedingungen basiert, die sie selbst vorgefunden und nicht individuell hervorgebracht haben. Dadurch werden die materiellen Unterschiede, die sich aus dem Marktprozess ergeben, auf ein gesellschaftlich zu akzeptierendes Maß begrenzt.

Da deutsche Journalisten anwesend sind, die vermutlich ihren Ohren gerade kaum trauen werden, wenn ich diese Überzeugung äußere, muss ich für sie ergänzen: In Deutschland ist der Grad an sozialem Ausgleich mehr als ausreichend. Ob dies etwa für die USA zutrifft, müssen andere beurteilen.

Viele linke Positionen verwechseln den Liberalismus zudem mit einer Philosophie des Laissez-faire oder des „anything goes“. Die Chicago Boys werden assoziiert mit einem Bild des so genannten Neoliberalismus, der unbegrenzte Gier akzeptiert, wenn sie konform mit dem freien Markt verfolgt wird. Solche Positionen gibt es ohne Frage. Doch das ist ein Missverständnis. Der wirkliche Liberalismus ist keine Pro-Business-Ideologie, sondern eine Pro-Markt-Überzeugung.

In Abgrenzung zu dem, was ich kurz Steinzeit-Liberalismus nennen will, sprach zum Beispiel Alexander Rüstow 1932 von einem „neuen Liberalismus“, der einen den Markt durch Regeln ordnenden Staat empfahl. Genauer forderte er in einer Rede „einen starken Staat, der über den Gruppen, über den Interessenten steht, einen Staat, der sich aus der Verstrickung mit den Wirtschaftsinteressen herauslöst“. Ich habe keinen Zweifel, dass die damaligen Zuhörer Zeugen der Geburtsstunde einer neuen deutschen Schule des Liberalismus wurden, die wir heute Ordoliberalismus nennen. Erst vor wenigen Monaten hat der Chicagoer Ökonom Luigi Zingales eine Rückbesinnung auf den Geist dieses deutschen Ordoliberalismus gefordert, vor allem auf dessen Plädoyer für allgemeine Regeln als Kampfansage gegen das Streben Einzelner nach immer neuen Privilegien in Wirtschaft und Gesellschaft.

Diese Besinnung ist tatsächlich nötig. Denn bedroht wird die Freiheit zum Beispiel durch wirtschaftliche Machtkonzentration, wo Plattform-Unternehmen teilweise selbstherrlich über die Regeln des Spiels bestimmen, worauf der Staat mit der Durchsetzung von Regeln antworten muss. Er muss Partei ergreifen für die Newcomer und Außenseiter, die einen Zugang zu Märkten und ihren Chancen auf innovative Umwälzung erhalten müssen. Dafür ist einerseits ein Kartellrecht mit Zähnen nötig, das die Ballung wirtschaftlicher Macht unterbindet. In der Datenökonomie ist dies eine Voraussetzung, die ich hier nur umreißen kann.

Als Finanzminister schaue ich natürlich auch und gerade auf die Kapitalmärkte und die Banken. Ohne in die Details gehen zu können, kommt hier – wie überall nach meiner Überzeugung – dem Prinzip der Verantwortung besondere Bedeutung zu. Verantwortung bedeutet, dass man für seine freien Entscheidungen haftet. Gelingt eine geschäftliche Entscheidung, so sollten wir den Erfolg nicht mit Neid betrachten. Aber misslingt eine Spekulation, so müssen die Entscheider wirtschaftlich dafür geradestehen. Das Prinzip der möglichst individuellen Haftung für Entscheidungen ist dabei nicht nur ein ethisches Gebot. Es ist zugleich eine natürliche Bremse für Risiken, deren Eintritt das System als Ganzes gefährden würden. An den Kapitalmärkten haben wir dagegen zu lange hingenommen, dass Gewinne privatisiert wurden, während Verluste auf die Allgemeinheit – also auf uns – abgewälzt wurden.

Schauen wir nun auf die Kritik am Liberalismus von rechts.

Dem liberalen Individualismus wird vorgeworfen, er zerstöre Gemeinschaften und traditionelle Werte wie die Familie. Man muss nicht zu Papst Pius IX. zurückgehen, der 1864 den Liberalismus noch als Irrglauben verdammte. Sie finden dazu reichlich Literaturstimmen aus unserer Gegenwart. Tatsächlich will Emanzipation Menschen aus der Hand anderer – um die lateinische Wurzel zu bemühen – befreien. Das Dorf früherer Epochen, das zwar eine fest gefügte Gemeinschaft bildete, aber zugleich Menschen quasi ab Geburt auf eine soziale Rolle festgelegt hat, mag bei manchen romantische Gefühle wecken. Es war aber ein hartes Gehäuse, das der Selbstbestimmung enge Grenzen gesetzt hat. Die Emanzipation und die Liberalität haben dagegen vielen einen Horizont eröffnet, die eigenen Bedürfnisse zu leben.

Gleichwohl gehört es nicht zur menschlichen Natur, das Leben als Robinson Crusoe zu verbringen. Es geht nicht um die Vereinzelung liberaler Atome, die bindungslos schweben. Vielmehr müssen wir Voraussetzungen schaffen, die selbst gewählte Gemeinschaften ermöglichen. Die Grundlage dafür sind allgemein akzeptierte Werte des Zusammenlebens, insbesondere der Respekt vor den Lebensentwürfen anderer Menschen, und neue gesellschaftliche Institutionen, die neue und verlässliche Grenzen setzen. Darauf kann ich heute nicht näher eingehen, aber ich möchte Ihnen ein Beispiel für eine neue gesellschaftliche Institution nennen, die Vielfalt und gesellschaftlichen Zusammenhalt zusammengebracht hat: die Homo-Ehe.

Wir müssen mehr solche neuen Grenzen finden. Angesichts der Tatsache, dass die Pluralität und Vielfalt unserer modernen Gesellschaften so stark zugenommen hat, bin ich überzeugt, dass nur der Liberalismus in der Lage ist, uns zusammenzuhalten und den sozialen Frieden zu fördern. Ideen, die versuchen, die Ordnungen der Vergangenheit wiederherzustellen, würden schwere soziale Konflikte und Spaltungen hervorrufen.

Die James Madison Free Speech Initiative hier in Princeton ist ein wichtiges Instrument zur Förderung der Gedankenfreiheit und der freien Meinungsäußerung. Es ist ein Merkmal der Demokratie und der akademischen Welt, dass wir die Freiheit haben, uns mit verschiedenen Meinungen auseinanderzusetzen und somit in einen Dialog darüber zu treten. Gerade die Universitäten sind Orte, die Meinungen schützen. Aber sie schützen die Menschen nicht vor Meinungen.

Stellen wir uns vor, wir hätten diese anspruchsvolle liberale Agenda verwirklicht. Wir entwickelten uns frei, mit fairen Chancen in unseren toleranten Gesellschaften voller Prosperität. Wäre damit der Anspruch einer liberalen Ordnung erfüllt? Mitnichten.

Denn wenn unser Anspruch wirklich die Orientierung an jedem einzelnen Individuum, seiner Würde und Freiheit ist – dürften wir dann absehen von denen, die nicht in unseren politischen Kontexten, sondern in anderen Regionen der Welt leben? Oder von denjenigen, die noch nicht geboren sind? Auch deren Würde und Freiheit verpflichtet uns. Wir müssen unseren Blickwinkel also weiten – räumlich und zeitlich, zu einem Universalismus liberaler Werte.

Während wir hier in Frieden und Freiheit Gedanken und Ideen entwickeln, kämpfen in der Ukraine Menschen in Lebensgefahr für genau das – für Frieden und Freiheit.

Das letzte Mal war ich vor der Corona-Pandemie in Kiew. Ich habe dort viele Gespräche geführt. Mein Haupteindruck war: Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind ein Volk, das

sich gegen eine Zukunft als Satellit von Putins Russland entschieden hat und für die Gemeinschaft der liberalen Demokratien des Westens;
sich gegen Putins Oligarchen-Kapitalismus entschieden und für unsere liberale Marktordnung;
sich gegen Putins autoritäre Gesellschaftsform mit Zensur, Unterdrückung und Anti-Pluralismus entschieden und für demokratische Vielfalt und Toleranz.
Natürlich gab es damals und gibt es heute in der Ukraine noch Reformbedarf. Niemand weiß das besser als die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Dennoch bin ich überzeugt: Genau wegen dieser Entscheidungen hat Putins Russland die Ukraine im vergangenen Jahr angegriffen. Und genau deshalb sind wir als liberale Demokratien verpflichtet zur Solidarität mit ihnen. An diesem Anspruch müssen wir uns jeden Tag politisch messen lassen.

Wir leben in einer Realität, in der viele Gesellschaften unsere Vorstellungen von Menschenrechten und Freiheitsrechten nicht teilen, sondern sie in unseren Augen oft sogar mit Füßen treten. Der Gedanke des Universalismus liberaler Werte könnte deshalb einen Interventionismus nahelegen, der uns fortwährend ethisch zum Eingreifen verpflichtet. Vielleicht gar mit den Mitteln militärischer Gewalt und dem Ziel eines Regime-Changes. Es ist hier keine Gelegenheit, auf die kontroversen theoretischen Debatten einzugehen, die in den letzten Jahrzehnten über einen möglichen liberalen Interventionismus geführt worden sind. In der Realität haben wir zum Beispiel in Afghanistan erlebt, dass das Streben nach Regimewechsel nur allzu oft scheitert. Praktische Erwägungen mahnen uns zur Vorsicht in Sachen Interventionismus.

Lassen Sie mich den Gedanken mit einer Analogie zwischen der globalen Ordnung und der inneren Ordnung liberaler Gesellschaften verdeutlichen. So wie wir in unseren Gesellschaften also von der Selbstbestimmung des Individuums ausgehen, so müssen wir in der Völkergemeinschaft von der Selbstbestimmung jedes ihrer Subjekte ausgehen. Das rechtfertigt aber weder Schweigen noch Untätigkeit. Im Gegenteil.

Aus der Selbstbestimmung der Völker erwächst der Gedanke des Völkerrechts, einer liberalen Weltordnung, gemeinsamer Institutionen, wechselseitiger Verträge und Verbindungen. Unabhängig von Macht und Größe haben alle dieselben Rechte und dieselbe Würde. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Scherz eines früheren luxemburgischen Regierungschefs, der bei einer Begegnung mit einem chinesischen Staatschef einst sagte: „Wir sind mächtige Politiker. Zusammen regieren wir eine Milliarde Menschen.“ Davon hatte Luxemburg 640.000 Einwohner.

Niemand herrscht also über andere. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds, an dessen Frühjahrstagung ich gerade teilgenommen habe, müssen allen ihren Mitgliedern und dem Ausgleich divergierender Interessen in gleicher Weise verpflichtet sein. Natürlich wird innerhalb dieser Organisationen in der Praxis dennoch Machtpolitik praktiziert. Aber die Konflikte sind eingehegt in den Rahmen von Regeln und kollektiver Entscheidungsfindung. Deshalb ist in diesem Sinne Erhalt, Stärkung und – wo möglich – Reform von Vereinten Nationen, Weltgesundheits- und Welthandelsorganisation, Internationaler Gerichtsbarkeit und anderen Prioritäten einer liberalen Politik. Und wo dieses internationale Recht gebrochen wird, wie in schrecklicher Weise in der Ukraine, darf kein Mitglied der internationalen Gemeinschaft wegsehen. Aus ethischen Erwägungen und aus eigenem Interesse, denn man könnte als nächster betroffen sein.

Wenn wir in unseren Gesellschaften allen Mitgliedern faire Chancen auf Entfaltung ihrer Freiheit eröffnen, so sollte dies auf der internationalen Ebene ebenfalls unsere Agenda sein. Im Sinne des Universalismus liberaler Werte dürfen wir hier jedoch nicht stehen bleiben. Wir müssen ein erstrebenswertes Vorbild für andere Gesellschaftsordnungen sein. Über Dialog und Zusammenarbeit können zivilisatorische Veränderungen unterstützt werden, die langfristig zu mehr Würde und Freiheit für die Individuen führen.

Auf der Weltbühne sehen wir große Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Wohlstand ist extrem ungleich verteilt. Niemanden darf dies kalt lassen. Der globale Süden ist auch von ökonomischen Eruptionen der Gegenwart besonders hart getroffen – beispielsweise durch die gestiegenen Preise von Nahrungsmitteln auf den Weltmärkten oder die Probleme der Überschuldung in Zeiten höherer Zinsen. Das fordert einerseits im Moment unseren Beistand wie bei der Restrukturierung von hoher Staatsverschuldung.

Für eine langfristig bessere Perspektive geht es aber andererseits nicht um Hilfe und Solidarität, sondern um Zusammenarbeit. Die Globalisierung wird gerade von der politischen Linken oft als Grund für Armut ausgemacht. Das Narrativ ist, dass wir andere ausbeuten und unseren Wohlstand damit sichern. Tatsächlich hat die weltweite Arbeitsteilung in den vergangenen Jahrzehnten die Lebenssituation von hunderten Millionen Menschen auf der Welt bereits verbessert. Unsere Wahl ist also nicht keine Globalisierung, sondern eine andere, ausgereiftere Globalisierung.

Ich bin überzeugt, dass ein faires Globalisierungsmodell nachhaltig tragfähige Entwicklungschancen eröffnet. Das Modell nutzt die Arbeitsteilung, indem wir nicht nur unsere Waren und Leistungen exportieren, sondern umgekehrt auch unsere Märkte für Produkte und Dienstleistungen anderer weiter öffnen; indem wir Rahmenbedingungen schaffen, so dass unsere Unternehmen dort investieren und Arbeitsplätze schaffen können.

Eine De-Globalisierung und eine Verringerung der weltweiten Arbeitsteilung im Sinne der Fragmentierung würde gerade keine neuen Lebenschancen für Individuen schaffen. Freilich ist dies auch für unsere Wirtschaft eine Herausforderung – denn bestimmte Branchen würden bei einer fairen Marktöffnung unter Wettbewerbsdruck geraten und sich weiter verändern. Ich denke etwa an die Landwirtschaft, die oft stark ihre Interessen vertritt.

Dennoch werden große Werteunterschiede bleiben, die uns als Angehörige liberaler Gesellschaften teils beschämen. Ich denke nur die Gleichberechtigung der Geschlechter und gesellschaftliche Vielfalt. Wenn die praktische Vernunft den Interventionismus von außen im Sinne des Regime-Change auch ablehnen muss, so heißt das nicht, dass wir schweigen müssen.

Das Mittel der Wahl ist der Dialog über genau diese Werte mit schwierigen Gesprächspartnern. Bei jeder Gelegenheit. Liberale Stimmen innerhalb dieser Gesellschaften brauchen unsere Aufmerksamkeit und unsere Unterstützung, um von Innen zivilisatorische Veränderung zu erreichen. Das erfordert langen Atem. Aber wir müssen ihn beweisen. Trotz freiem Handel müssen wir die Missachtung freier Werte immer wieder thematisieren.

Um nicht missverstanden zu werden, muss ich ergänzen, dass die Akzeptanz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen in der Weltgemeinschaft ihre Grenze dort findet, wo in einem Staat systematisch Völkermord betrieben wird wie einst in Ruanda. Hier greift die Schutzverantwortung der Weltgemeinschaft als Ganzes und begründet eben doch die Notwendigkeit der Intervention.

Die Verantwortung des Liberalen reicht nicht nur in geographischer Hinsicht über seinen eigenen Bereich hinaus. Die Verantwortung erstreckt sich auch in einem zeitlichen Sinne. Weil unsere Nachkommen die gleiche Würde und Freiheit haben sollen wie wir, müssen wir heute an ihre Rechte denken. Der Liberalismus hat eine inter-temporale Verantwortung.

In der deutschen Forstwirtschaft wurde vor Jahrhunderten der Gedanke der Nachhaltigkeit entwickelt. Der Besitzer eines Waldes schlägt demnach in seiner Zeit nur so viele Bäume, wie er pflanzt und wie neu wachsen können, damit seine Nachkommen ebenfalls vom Ertrag des Holzes werden leben können. Spätestens seit der industriellen Revolution folgt die Menschheit dieser Philosophie nicht mehr. Wir schlagen nicht nur mehr Holz aus dem Wald, als nachwachsen kann. Als Kohle und Öl verbrennen wir sogar die unterirdischen Wälder, die vor Jahrmillionen gewachsen sind. Damit verbrauchen wir nicht nur absolut endliche Ressourcen der Menschheit, sondern provozieren die potentiell für künftige Generationen tödliche Erderwärmung. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk spekuliert, dass Prometheus, der der griechischen Mythologie zufolge der Menschheit das Feuer brachte und damit Begründer der Zivilisation sei, inzwischen Reue empfinden müsse.

Die Nutzung endlicher Ressourcen ist im Prozess der Zivilisation vermutlich unvermeidlich, denn das Wissen über Alternativen muss erst entwickelt werden. Nachhaltig ist ihre Nutzung aber nur dann, wenn im Zuge des Fortschritts zugleich technologische Innovationen hervorgebracht werden, die später andere und gleichwertige Formen des Lebens und Wirtschaftens ermöglichen. Das gilt nicht nur intertemporal, sondern auch innerhalb der Weltgemeinschaft: Die entwickelten Wirtschaftsnationen mit ihren historischen und immer noch hohen Emissionen haben somit gegenüber anderen Weltregionen eine Art Innovationsverpflichtung.

Die Bekämpfung der Erderwärmung ist die Überlebensfrage der Menschheit. Sie wird weitgehende Veränderungen unserer Lebensweise erfordern. Ich bin überzeugt, dass der technologische Fortschritt bei der Dekarbonisierung es uns erlauben wird, dass damit keine Einbußen an Freiheit und Wohlstand verbunden sein müssen. In Deutschland haben wir es uns beispielsweise zur Aufgabe gemacht, unsere Energieversorgung weitgehend auf Erneuerbare Energien wie Sonne und Wind umzustellen, die ich daher Freiheitsenergien nenne. Freiheitsenergie meint im doppelten Sinne, dass sie uns unabhängig zum Beispiel von Gas-Importen aus Russland machen und die Interessen künftiger Generationen wahren.

Die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft provoziert Konflikte. In bestimmten Branchen könnten beispielsweise Arbeitsplätze verloren gehen. Unternehmen wollen mit fossilen Technologien weiter Gewinn erzielen. Der Kauf neuer Technologien, neuer Autos oder Heizungen belastet private Haushalte. Mit edlen Motiven legen Klima-Aktivisten dennoch massive Einschränkungen der Freiheit und Verzicht nahe. Dieser Ansatz gefährdet nicht nur die Zustimmung zum notwendigen Klimaschutz; er enthält auch die Gefahr einer Veränderung unserer liberalen Gesellschaft.

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck konstatierte „seinen Freunden von der Umwelt- und Klimabewegung“ vor einigen Jahren, dass sie eine fatale Nähe zum autoritären chinesischen Staatskapitalismus habe – eine Sympathie für die Steuerung von oben. In neuerer Zeit hören wir die Forderung, dass demokratisch gewählte Parlamente durch per Los zusammengesetzte Räte ergänzt oder ersetzt werden sollten, um nach Beratung mit Experten und durch deren Moderation Entscheidungen zu treffen. Was als freundliche Deliberation klingt, ist in Wahrheit die Ersetzung demokratischer Repräsentation, die auf der Beteiligung jedes Individuums basiert, durch subtile Einflussnahme und die mögliche Verzerrung des Mehrheitsvotums.

Liberale müssen Alternativen anbieten. Die Bekämpfung des Klimawandels und der Umweltschutz sind liberale Anliegen, zugleich muss der Weg aber mit liberalen Werten vereinbar sein. Daraus folgt zweierlei:

Würden wir heute beim Klimaschutz ohne Ambition sein, so hat das deutsche Verfassungsgericht vor einiger Zeit argumentiert, so wäre der Anpassungsdruck für unsere Nachkommen unerträglich. Angesichts der Erderwärmung und ihrer Folgen würden später umso massivere Einschränkungen der Freiheit unausweichlich, um das Überleben zu sichern.

Daraus folgt aber nicht, anders als es in Deutschland politisch teilweise dargestellt wird, dass wir dafür in der Gegenwart ad hoc massive Freiheitseinschränkungen hinnehmen müssen. Es geht vielmehr um eine intertemporal faire Verteilung der Veränderung. Ich bin überzeugt, dass dabei der technologische Wandel mit seinen bereits sichtbaren exponentiellen Fortschritten die Balance erleichtert. Weil wir heute die Grundlage für Innovation legen, können wir den Menschen bezahlbare Alternativen für ihre freien Lebensentscheidungen in Aussicht stellen. Damit sichern wir zugleich die Zustimmung der demokratischen Mehrheit zum Klimaschutz.

Notwendig ist also ein langfristiger Anpassungspfad. Für seine Gestaltung – und das ist die zweite liberale Position – ist Mobilisierung von Wissen entscheidend. Der Ideenwettbewerb der Marktwirtschaft ist das effektivste Instrument, um überlegene und effiziente Problemlösungen hervorzubringen.

Wenn die Emittierung von CO2-Emissionen zu einem knappen Gut wird, wird sie einen steigenden Preis erhalten. Es gibt damit einen direkten Anreiz, wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen und technologische Lösungen zu finden, um CO2-Emissionen zu reduzieren und am Ende ganz zu vermeiden. Die Politik muss sich also nicht in die Wahl von Technologien einschalten, sondern kann sich auf die Definition des Ziels beschränken. Die Europäische Union hat sich mit dem Handel entsprechender Emissionsrechte auf diesen Weg gemacht. Nun müsste sie nur dem bereits gewählten Instrument vertrauen, was freilich noch nur teilweise der Fall ist.

Ich habe versucht, Konturen eines Liberalismus auf Höhe der Zeit zu beschreiben. Er ist eine Ordnungsidee, die dann Zukunft hat, wenn sie die Argumente ihrer Gegner ernstnimmt, ohne zugleich vor ihnen zu kapitulieren. Am Ende bleibt der Kern jedoch erhalten: die Verpflichtung auf die Würde und Freiheit eines jeden Einzelnen.

Mir ist es hoffentlich gelungen deutlich zu machen, dass der Ausgangspunkt des individualistischen Liberalismus gleichwohl nicht das „Ich“ ist, sondern das „Du“. Seine ethische Qualität besteht darin, dass wir anderen dieselben Rechte zubilligen wie uns selbst. Auf die Frage, worum es ihm geht, antwortet der Liberale: Um Dich. Um Dein Recht, im Hier und Jetzt glücklich zu werden. Um Deine Chance, Dein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

This is the way.

 

Dies ist der Redetext  der Vorlesung von Christian Lindner, Bundesminister der Finanzen, an der Princeton University am 14. April 2023

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