Chaos in der Pharmaindustrie: Curevac schrumpft und die Branche leidet
Curevac muss 330 Mitarbeiter entlassen, nachdem der Corona-Impfstoff floppt. Milliarden-Investitionen verpuffen, die Belegschaft schrumpft drastisch. Kann die Tübinger Biotech-Firma den Fokus auf Krebsforschung retten?
„Kommunikation ist das Allerwichtigste.“ Wenn Andreas Bieber über seine Strategie spricht, fällt dieser Satz sehr oft. Tatsächlich hat der Personalchef des Biotechspezialisten Curevac derzeit viel zu erklären. Jeder Dritte der rund 1000 Beschäftigten soll das Tübinger Unternehmen verlassen. Eine Folge des starken Wachstums während Corona, dem kein entsprechendes Anschlussgeschäft folgte. Einer breiten Öffentlichkeit ist Curevac bekannt, weil das Unternehmen während der Pandemie als Hoffnungsträger bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen Corona galt.
Die Tübinger sind sogar die Wiege der mRNA-Technologie. Mitgründer Ingmar Hoerr hatte 1999 erstmals die Grundlagen der direkten Anwendung des Botenmoleküls als Impfstoff beschrieben. Ein Jahr später gründete er mit zwei Studienkollegen das Start-up Curevac. Der Technologie wird ein Durchbruch gegen Krankheiten wie Krebs oder Malaria zugetraut. Bisher allerdings fehlt er noch.
Zu den größten Förderern gehört schon früh SAP-Mitgründer Dietmar Hopp, der Curevac im Laufe der Zeit mit einem dreistelligen Millionenbetrag gefördert hat. Auch die Stiftung des Microsoft-Gründers Bill Gates ist mit mehr als 50 Millionen Dollar eingestiegen. Während der Pandemie hat der deutsche Steuerzahler 300 Millionen Euro hineingepumpt. Zudem zählt der britische Pharmakonzern GSK zu den Hauptaktionären. Die Aktie ist an der US-Technologiebörse Nasdaq notiert. Denn in den USA sitzen die entscheidenden Investoren und Fonds.
Als Bieber die Personalverantwortung bei Curevac 2018 übernimmt, stehen 400 Beschäftigte auf der Gehaltsliste. Jeder kennt so gut wie jeden und für die monatlichen Versammlungen reicht ein großer Raum. Der Austausch ist wichtig und soll anspornen. Kommunikation eben. Mit der Pandemie ist es vorbei mit der der relativen Ruhe. „Der Druck war gewaltig“, bestätigt Bieber. Binnen zwei Jahren verdreifacht sich die Belegschaft. „Wir haben die Personalplanung nicht mehr jährlich, sondern nach jedem Quartal auf den Prüfstand gestellt“, erinnert er sich. Bieber hat zuvor unter anderem bei HP, Hochtief und M+W Zander (heute Exyte) gearbeitet.
Bewerber rennen bei Curevac die Türen ein. Jeder will direkt im Kampf gegen die Pandemie dabei sein. Personalchef Bieber schaut dennoch genau hin. Die Unternehmenskultur soll trotz des explosionsartigen Wachstums erhalten bleiben. Der Personalchef hört sich auch in der Branche um. So gelingt es, etablierte Leute abzuwerben. Die Integration klappt aber aus der bestehenden Mannschaft heraus, wie Bieber hervorhebt. „Die Mitarbeiter sind trotz der hohen Arbeitsbelastung die Extrameile gegangen. Auch, weil jeder auf Entlastung durch die neuen Kollegen gehofft hat.“ In der Praxis meldeten sich intern Mentoren, die den Neuen den Einstieg erleichtert haben. „Kommunikation, wie wir sie immer gelebt haben“, freut sich Bieber.
Zwischen Forschungseifer und wirtschaftlicher Realität
Curevac wächst nicht nur personell. Der auf Forschung ausgerichtete Mittelständler muss plötzlich auch wie ein produzierendes Pharmaunternehmen handeln, weil man ebenfalls die Herstellung der Impfstoffe entwickeln soll. Das lässt die Tübinger drastisch wachsen. Wo das hätte enden können, zeigt die Entwicklung des Mainzer Wettbewerbers Biontech. Dort gelingt es, einen wirksamen Impfstoff auf mRNA-Basis herzustellen. Die Umsätze schießen in die Milliarden. Aus Tübingen dagegen folgt ein Produkt deutlich später und ist so mager, dass es schnell wieder vom Markt genommen wird.
Solch eine Umsatz-Achterbahnfahrt ist für die großen Pharmakonzerne gelebter Alltag. Sie haben die Power und Rücklagen, um lange Entwicklungszeiten und auch Rückschläge verdauen zu können. Junge Biotechunternehmen sind da schnell überfordert. So erging es schon zur Jahrtausendwende den aufstrebenden Start-ups, die sich am neuen Markt tummelten. Viele sind auch daran gescheitert, dass steigende Personalkosten und hohe Forschungs- und Entwicklungsausgaben nicht mit echten Umsätzen einhergehen wollten. Auch die betriebswirtschaftliche Basis, wie eine Idee in Geschäft umzumünzen ist, fehlte oft. Am Ende wurden viele von den Großen geschluckt.
Restrukturierung und neuer Fokus auf Krebsforschung
Die gleiche Erfahrung machen die Tübinger jetzt auch. Zwar entwickeln sie für GSK einzelne Produkte zum Teil bis zur Serienreife, doch die Umsätze sind dramatisch eingebrochen. Entsprechend lasten hohe Personalkosten auf dem Biotechspezialisten, der immer noch auf eine andere Größe ausgerichtet ist.
Im Frühjahr startete Bieber ein erstes Abbauprogramm: „Wir müssen uns fragen, was wir uns leisten können. Und was wir uns leisten müssen.“
Zum Sommerbeginn ziehen die Tübinger dann die Reißleine. Jeder Dritte soll freiwillig das Unternehmen verlassen: insgesamt 330 Beschäftigte. Das ist Teil eines umfassenden Restrukturierungsprogramms. GSK übernimmt von Curevac entwickelte Produkte und überweist insgesamt weitere 1,5 Milliarden Euro nach Tübingen. Damit ist eine Basis zumindest bis 2028 gesichert. Künftig will sich das Unternehmen vor allem auf die Entwicklung von Krebsmedikamenten konzentrieren. Die Mitarbeiter haben nur wenige Wochen Zeit, um sich zu entscheiden, ob sie die Abfindungen annehmen oder nicht. Gut 15 Millionen Euro sind als Ausgaben dafür eingeplant.
Spätestens im Herbst soll eine Sozialauswahl folgen, denn bis Ende des Jahres soll die personelle Achterbahnfahrt bei Curevac beendet sein. Die Gespräche laufen gut, versichert Bieber. „Die Leute kennen die Lage, wir haben sie ja immer auf dem Laufenden gehalten.“ Gleiches gelte für den Betriebsrat. „Kommunikation zahlt sich auch in so einer Situation aus“, stellt Bieber sichtlich zufrieden fest.
Deutsche Pharmaindustrie im Wachstumsstress: Fachkräftemangel bremst Fortschritt
Auch diesmal sollen die Kontakte in der Branche helfen – in die andere Richtung. Denn insgesamt befindet sich die Branche im Wachstum. Darum suchen die deutschen Pharmaunternehmen, die mehr als 120.000 Menschen beschäftigen, händeringend nach Fachkräften. Zuletzt waren 38 Prozent der offenen Stellen unbesetzt. 2021 waren es noch 20 Prozent. Neben der zunehmenden Bürokratie nennt die Branche fehlendes Fachpersonal als größtes Hemmnis für ihre eigene Forschung und Entwicklung. Der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie knüpft deshalb schon enge Kontakte zu den Hochschulen. Mittelständlern hilft der Fonds der Chemie des Verbands der Chemischen Industrie.
Der Personalmangel hat für die forschungsintensive Branche erhebliche Folgen. Mittlerweile gehen nahezu 60 Prozent der Auftragsforschung an Firmen, Wissenschaftler und Institute außerhalb Deutschlands, vor allem in die Vereinigten Staaten, aber auch nach China. Dennoch bleibt der Standort Deutschland offenbar für Pharmakonzerne hochinteressant.
So will die amerikanische Eli Lilly in den kommenden drei Jahren 2,3 Milliarden Euro investieren. „Wir werden in Alzey einen unserer größten Produktionsstandorte in Europa errichten“, kündigt Produktionsvorstand Edgardo Hernandez an. Bis zu 1000 neue, qualifizierte Arbeitsplätze wolle das Unternehmen dort schaffen.
Die Amerikaner dürften nicht nur die Entwicklung bei Curevac genau verfolgen. Die gesamte Branche spekuliert bereits, dass auch deren Wettbewerber Biontech bald sparen muss. Dabei galten die Mainzer bis vor kurzem noch als Lieblinge der Finanzmärkte. Das 2008 gegründete Unternehmen setzte mit 6100 Beschäftigten 3,8 Milliarden Euro um. Doch nach dem ersten Quartal klafft ein Verlust von einer Milliarde Euro in den Büchern. Die Mainzer sind noch dramatischer gewachsen als Curevac. Immerhin lieferten sie weltweit den begehrten Corona-Impfstoff. Und auch wenn der US-Konzern Pfizer als Partner mithalf, mussten sie kräftig Personal aufstocken. Und jetzt der erste herbe Rückschlag. Wie sich das auf die Personalplanung auswirkt? Die Nachfragen in Mainz bleiben unbeantwortet.
In Tübingen plant der Bieber inzwischen wieder langfristiger. Er hofft, dass er einerseits alle Spezialisten halten kann, die er gerne für den Neustart im Team hätte. Dabei setzt er darauf, dass sich viele im beschaulichen Tübingen zwischen Nordschwarzwald und Schwäbischer Alb so wohlfühlen, dass sie den Verlockungen der Konkurrenz widerstehen. Später sollen auch mal wieder neue Mitarbeiter dazu kommen. Bieber hofft, dann wieder im Ausland oder beim Wettbewerb fündig zu werden. Dank Homeoffice sei auch Tübingen kein Standortnachteil mehr, sagt der Personalchef und lächelt vielsagend. Auf die Kommunikation kommt es an.