Der Jahresausblick aus Sicht des Mittelstandes
Nicht nur Investoren an den Aktienmärkten werden auch 2023 gute Nerven brauchen. Auch die Vorzeichen für mittelständische Betriebe könnten besser sein. Die Voraussagen von Volkswirten und Unternehmern über Zinsen, Kurse und Co knackig zusammengefasst.
Das Jahr 2022 hat Veränderungen gebracht, die nach Ansicht von Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), noch lange und nachhaltig wirken werden. Von den als „Schwarzer Schwan“ bezeichneten unvorhersehbaren negativen Ereignissen hätten wir 2022 „gleich einen ganzen Schwarm“ gehabt – die Pandemie, die gerissenen Lieferketten, der Krieg in der Ukraine, die Inflation und die hohen Energiekosten allen voran: „Das kommende Jahr wird die Wirtschaft weiter verändern. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass wir zum vorherigen Zustand zurückkehren“, betont Kraemer.
So sei den meisten Unternehmen auch bewusst, dass beispielsweise Effizienz nicht mehr das Maß aller Dinge ist. Viele hätten damit begonnen, die Lagerbestände zu erhöhen, um keinen Stillstand mehr zu erleben, weil Lieferketten mal wieder reißen. „Das wird die Kosten zusätzlich erhöhen“, so der LBBW-Chefvolkswirt, der davon ausgeht, dass die Zeiten der günstigen Energie definitiv vorbei sind. So erwartet die LBBW auch kaum Entspannung könnte am Ölmarkt: für 2023 wird im Schnitt mit einem Preis von 85 Dollar je Fass (159 Liter) gerechnet.
Bedeutung von China wandelt sich
Eine gewisse Umorientierung hält Kraemer mit Blick auf die Absatzmärkte für angebracht. So bleibe China immer noch bedeutsam, sei aber nicht mehr der Wachstumsmarkt von früher. Die Unternehmen sollten sich darum verstärkt auch in anderen Regionen umsehen. Das sieht man auch beim Verband der Deutschen Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) so. Verbandschef Karl Haeusgen rät aufgrund des politischen Kurswechsels in Peking dazu, sich verstärkt in Lateinamerika, Indien, Vietnam oder Indonesien umzusehen. Viele Mittelständler bauen inzwischen auch auf der Zuliefererseite die Abhängigkeit von China ab und suchen verstärkt in Europa nach neuen Anbietern, wie eine Erhebung der DZ-Banz kürzlich unter 1000 Geschäftsführern und Entscheidern ergeben hat.
Vor allem die USA haben im vergangenen Jahr an Attraktivität zugenommen. „Relevant bei der Standortentscheidung sind nicht nur der Zugang zu Lieferanten oder Fachkräften, sondern auch die Arbeitskosten oder Energiekosten“, erklärt DIHK-Präsident Peter Adrian. In den USA seien die Preise deutlich niedriger als in Deutschland, aber auch niedriger als in Südostasien. „Zudem spricht auch die Größe des Marktes für ein Engagement in den USA. Die angekündigten Steueranreize im Rahmen des „Inflation Reduction Acts“ schaffen hier nochmals zusätzliche Anreize.“ Die jüngste amerikanische Förderpolitik sollte nach Ansicht von Spitzenverbänden kein Anlass sein sich abzuschotten. Vielmehr muss die EU ebenfalls die Belastung der Unternehmen abbauen.
Produtkion zurück nach Europa holen
LBBW-Chefvolkswirt Kraemer hält es angesichts des demografischen Wandels ohnehin für unmöglich, die Fertigung in großem Umfang nach Europa zurückzuholen. „Die Unternehmen finden schon jetzt nicht genug Arbeitskräfte. Auch in den Nachbarländern nicht. Und die Lage wird sich in den kommenden Jahren noch weiter zuspitzen.“ Kraemer rechnet deshalb mit einer Zunahme der Automation und neuer Verfahren. Gerade die mittelständischen Betriebe habe immer wieder bewiesen, dass sie flexibel reagieren können. Der Begriff „Mittelstand“ werde im angelsächsischen Raum ohne Übersetzung benutzt: Das drückt die Bewunderung für unsere Unternehmen aus“, unterstreicht Kraemer.
Rezession bei Vollbeschäftigung
Der der hohe Bedarf nach Arbeitskräften führt zu einer so nie erlebten Konstellation: „Wir steuern in eine Rezession und haben dennoch nahezu Vollbeschäftigung. Das ist eine völlig neue Situation.“ Nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) rechnen 23 von 49 Wirtschaftsverbänden mit einer stabilen Beschäftigungslage. Und in neun Branchen – etwa Luft-/Raumfahrt, Gastgewerbe und Tourismus – entstünden neue Jobs. „Die erkennbare Stabilität am deutschen Arbeitsmarkt wirkt als ein wichtiger konjunktureller Anker." Mit Massenentlassungen ist in den kommenden Monaten also nicht zu rechnen.
Gleichwohl wird 2023 über weite Strecken kein einfaches Jahr. Erst im kommenden Jahr sieht die LBBW den Tiefpunkt der Wirtschaftsentwicklung erreicht. Für 2023 werde es deshalb insgesamt ein Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 1,5 Prozent geben. Immer mehr Unternehmen prüfen die Möglichkeit von Werksschließungen oder Verlagerungen ins preiswertere Ausland, sollten die Energiepreise dauerhaft hoch bleiben. Die gegenwärtige Energiekrise mit Rekordpreisen und Gaslieferengpässen schade der Wettbewerbsposition der deutschen Industrie im weltweiten Vergleich überproportional, urteilen die Analysten der LBBW. Nicht ganz so Pessimistisch ist die Industriestaaten-Organisation OECD, die für Deutschland ein Minus von 0,5 Prozent erwartet. Die fünf Wirtschaftsweisen gehen in ihrem Jahresgutachten für die Bundesregierung hingegen nur von minus 0,2 Prozent aus.
Der allgemein skeptische Blick ins neue Jahr bestätigt die IW-Umfrage: Demnach bewerten 39 Verbände ihre wirtschaftliche Situation jetzt schlechter als vor einem Jahr", Die globalen Produktions- und Zuliefernetzwerke bleiben unvermindert anfällig für Störungen“, folgern die Wirtschaftsforscher. Das gelte besonders für die Energieversorgung im Winterhalbjahr 2023/2024. Der breite Optimismus, der für 2022 bestand, ist in der aktuellen Befragung der Wirtschaftsverbände mit Blick auf 2023 verschwunden." Während vor einem Jahr keiner der vom IW befragten Verbände einen Geschäftsrückgang für 2022 erwartete, sind es in der Befragung für nächstes Jahr 30 Organisationen.
Preise steigen weiter
Noch nicht ausgestanden ist nach Ansicht von Kraemer und seinen Kollegen die Entwicklung der Teuerungsrate. Die werde bis Februar sogar den Spitzenwert von zwölf Prozent und somit einen Rekordwert erreichen. Deshalb sei die Europäische Zentralbank (EZB) erst im März mit ihren Gegenmaßnahmen fertig, so Kraemer, der die Arbeit der Notenbank ausdrücklich lobt – was in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. Das Zinsniveau wird weiter hoch erwartet, was für Kreditnehmer eine weniger gute Nachricht ist. Kraemer sieht auch aufgrund der weiter hohen Nachfrage keine Entspannung am Immobilienmarkt: „Wohnen wird insgesamt teurer, das gilt für die Nebenkosten wie auch die Mieten.“
Insgesamt müssen sich die Verbraucher und Unternehmen darauf einstellen, dass die Preise 2023 weiter steigen werden: „Wenn die Inflation ab dem Frühjahr wieder zurückgeht, dann heißt das ja nicht, dass die Preise wieder fallen. Sie steigen nur langsamer“, so Kraemer. Er rechnet deshalb damit, dass der Konsum weiter zurückgehen wird. „Die Leute haben weniger in der Tasche.“ Darum seien die Energiepreisbremsen wichtig, auch wenn sie manchen Haushalten zu Gute kommen, die es nicht nötig haben. Trotz des Reallohnverlustes hätten die Tarifpartner Weitsicht bewiesen, lobt Kraemer, der davon ausgeht, dass die Gewerkschaften den Ausgleich in der zweiten Hälfte der Dekade dann einfordern werden.
Aktienmärkte weiter auf Achterbahnfahrt
Von der Kurserholung der vergangenen Wochen dürfen sich die Anleger nicht täuschen lassen, warnt Kraemer: „Die Folgen der Rezession sind in den Kursen noch nicht eingepreist.“ Die Wall Street sei sogar noch höher bewertet als im langjährigen Mittel. Darum sei den ersten Monaten des kommenden Jahres noch mit weiteren Rückschlägen an den Finanzmärkten zu rechnen. „Ab April oder Mai könnten sich interessante Kaufkurse ergeben“, so Kraemer. Von der zweiten Jahreshälfte an soll es dann auch am Aktienmarkt aufwärts gehen: die LBBW erwartet den Deutschen Aktienindex (Dax) Ende 2023 bei 15.500 Punkten. Ähnlich sehen es die Analysten der DZ Bank. Die Baader Bank ist mit 16.000 Punkten etwas optimistischer.
Eine Erholung erwarten die Analysten auch für die amerikanischen Märkte. Nach einer Erhebung der Nachrichtenagentur Reuters wird im Durchschnitt für Ende Dezember 2023 mit einem Stand des S&P 500 von 4.200 Punkten gerechnet. Für den industrielastigen Dow Jones, in dem Tech-Titel weitaus weniger dominieren, sind die Analysten ebenfalls recht optimistisch und erwarten einen Stand von 36.500 Punkten. Allerdings hat sich die Stimmung unter den Börsianern merklich abgekühlt: Im späten August hatten die Strategen noch mit einem S&P 500-Jahresschlussstand von 4.700 Punkten gerechnet.
Festgelder wieder attraktiver
Wer Aktien für zu unsicher hält, für den können Anleihen und Festgelder eine Alternative sein. Seit Mitte 2022 haben auch hier die Zinsen wieder angezogen, wenn auch nur zögerlich. Wer sein Erspartes für zwei Jahre fest anlegt, erhält dafür im Marktdurchschnitt der bundesweit verfügbaren Angebote aktuell 2,09 Prozent Zinsen. Anfang August – und damit unmittelbar nach der ersten Leitzinserhöhung durch die EZB – lag der Durchschnittszins noch bei 0,82 Prozent. Bei den Festgeldern mit zwölf Monaten Laufzeit haben sich die Zinsen im selben Zeitraum sogar mehr als verdreifacht und stiegen von 0,54 auf aktuell 1,73 Prozent.
„Der Markt hatte den erwarteten Zinsschritt der EZB schon im Vorfeld ein Stück weit eingepreist“, erklärt Oliver Maier, Geschäftsführer der Verivox Finanzvergleich. Auch bei den Regionalbanken steigen die Zinsen. Doch mit 1,14 Prozent ist der Durchschnittszins zweijähriger Festgeldanlagen bei genossenschaftlichen Kreditinstituten wie den örtlichen Volks- und Raiffeisenbanken und den Sparda-Banken nur etwas mehr als halb so hoch wie bei den bundesweit verfügbaren Angeboten. Auch der Abstand zu den Sparkassen fällt deutlich aus: Sie zahlen im Schnitt 1,21 Prozent Zinsen für Festgeld mit zwei Jahren Laufzeit.
Angriff auf die Regionalbanken
„Die Regionalbanken müssen aufpassen, dass ihnen die Kunden nicht weglaufen“, betont Oliver Maier. „Er verweist darauf, dass aktuell mehrere Wettbewerber mit Kampfkonditionen versuchen, den anderen Banken die Kundschaft abzuwerben. Bei diesen Aktionsangeboten erhalten Neukunden, die ein Tagesgeldkonto eröffnen, für einige Monate einen Zinsaufschlag. Nach Ablauf der Frist wird das Guthaben dann zu den regulären Standardkonditionen weiter verzinst. Bis zu 2,1 Prozent Zinsen zahlen Banken im Rahmen solcher Neukundenaktionen aktuell aufs Tagesgeld – und damit fast doppelt so viel wie deutsche Geldhäuser als Standardkondition maximal zu bieten haben.
Wer 10.000 Euro für die Dauer von 2 Jahren bei Top-Banken anlegt, erhält dafür insgesamt 261 Euro mehr Zinsen als bei einer durchschnittlich verzinsten Anlage. Das Vergleichsportal Verivox beobachtet derzeit viel Bewegung am Zinsmarkt. Gut aufgestellt seien Sparer mit zwei abwechselnd auslaufenden Festgeldanlagen, so dass jedes Jahr eine der beiden Anlagen zurückkommt. Bei der Wiederanlage profitieren die Sparer dann von zwischenzeitlich gestiegenen Zinsen. Immerhin: Dass wir dieses Niveau bei Zinsen überhaupt wieder haben – das hätte beim Ausblick auf 2022 wohl niemand für möglich gehalten.