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Finanzierung > Herausforderungen für Deutschland

Ist Deutschland wieder einmal der kranke Mann Europas?

Kein Zug kommt pünktlich, die Außenministerin strandet im Nirgendwo. Deutschland nimmt Flüchtlinge besser auf als Fachkräfte. Aus Angst vor der AfD wagen die Regierungsparteien keine wirklichen Reformen. Deutschland muss dringend ins Fitnessstudio.

Der deutsche MIchel: eine in der Renaissance entstandene nationale Personifikation Deutschlands. Bildnachweis: picture alliance / ZB | Stefan Sauer

Vor fast fünfundzwanzig Jahren nannte der „Economist“ Deutschland den kranken Mann Europas. Die Kombination aus Wiedervereinigung, einem verkrusteten Arbeitsmarkt und einer nachlassenden Exportnachfrage machte der Wirtschaft zu schaffen und trieb die Arbeitslosigkeit in den zweistelligen Bereich. Dann leitete eine Reihe von Reformen in den frühen 2000er Jahren ein goldenes Zeitalter ein. Deutschland wurde von seinen Konkurrenten beneidet. Nicht nur, dass die Züge pünktlich fuhren, sondern das Land zeichnete sich mit seiner weltweit führenden Technik auch als Exportschlager aus. Doch während Deutschland florierte, drehte sich die Welt weiter. Infolgedessen ist Deutschland wieder ins Hintertreffen geraten.

Europas größte Volkswirtschaft hat sich von einem Wachstumsführer zu einem Nachzügler entwickelt. Zwischen 2006 und 2017 übertraf sie ihre großen Konkurrenten und hielt mit Amerika Schritt. Doch heute erlebt sie gerade ihr drittes Quartal der Schrumpfung oder Stagnation und könnte die einzige große Volkswirtschaft sein, die im Jahr 2023 schrumpft. Die Probleme liegen nicht nur im Hier und Jetzt. Nach Angaben des IWF wird Deutschland auch in den nächsten fünf Jahren langsamer wachsen als Amerika, Großbritannien, Frankreich und Spanien.

Allerdings ist die Lage nicht mehr so besorgniserregend wie im Jahr 1999. Die Arbeitslosigkeit liegt heute bei etwa drei Prozent; das Land ist reicher und offener. Aber die Deutschen beklagen zunehmend, dass ihr Land nicht so gut funktioniert, wie es sollte. Vier von fünf Befragten sagen, dass Deutschland kein fairer Ort zum Leben ist. Die Züge fahren inzwischen so häufig verspätet, dass die Schweiz verspätete Züge aus ihrem Netz verbannt hat. Die Außenministerin Annalena Baerbock hat eine Reise nach Australien abgebrochen, nachdem sie in diesem Sommer zum zweiten Mal im Ausland gestrandet war, weil ihr alterndes Dienstflugzeug eine Panne hatte.

Jahrelang hat Deutschlands überdurchschnittliche Leistung in den alten Industrien über den Mangel an Investitionen in neue Industrien hinweggetäuscht. Selbstgefälligkeit und der Zwang zur Haushaltsdisziplin haben dazu geführt, dass zu wenig öffentliche Investitionen getätigt wurden, und zwar nicht nur in die Deutsche Bahn und die Bundeswehr. Insgesamt sind die Investitionen in die Informationstechnologie im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt weniger als halb so hoch wie in Amerika und Frankreich. Auch der bürokratische Konservatismus ist hinderlich. Die Erlangung einer Lizenz für ein Unternehmen dauert 120 Tage - doppelt so lange wie im OECD-Durchschnitt. Hinzu kommen die sich verschlechternde geopolitische Lage, die Schwierigkeit, Kohlenstoffemissionen zu eliminieren, und die Mühen einer alternden Bevölkerung.

Die Geopolitik bedeutet, dass das verarbeitende Gewerbe möglicherweise nicht mehr der Goldesel ist, der es einmal war. Von allen großen westlichen Volkswirtschaften ist Deutschland am stärksten gegenüber China exponiert. Im vergangenen Jahr belief sich der Handel zwischen den beiden Ländern auf 314 Milliarden Dollar. Früher wurde diese Beziehung durch das Profitmotiv bestimmt, heute sind die Dinge komplizierter. In China verlieren die deutschen Autohersteller den Kampf um Marktanteile gegen die einheimische Konkurrenz. Und in sensibleren Bereichen, in denen der Westen seine Beziehungen zu China auf den Prüfstand stellt, könnten einige sogar ganz abgebrochen werden. In der Zwischenzeit setzt das Ringen um fortschrittliche Fertigungsverfahren und robuste Lieferketten eine Flut von Subventionen zur Förderung der heimischen Industrie frei, die entweder deutsche Unternehmen bedrohen oder Subventionen innerhalb der Europäischen Union erfordern werden.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Energiewende. Der deutsche Industriesektor verbraucht fast doppelt so viel Energie wie der nächstgrößere in Europa, und die Verbraucher in Deutschland haben einen viel größeren CO2-Fußabdruck als die in Frankreich oder Italien. Billiges russisches Gas ist keine Option mehr, und das Land hat sich in einem spektakulären Eigentor von der Kernenergie abgewendet. Mangelnde Investitionen in die Netze und ein träges Genehmigungssystem behindern den Übergang zu billigen erneuerbaren Energien und drohen die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller zu beeinträchtigen.

Auch fehlt es Deutschland zunehmend an den benötigten Talenten. Der Babyboom nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutet, dass in den nächsten fünf Jahren netto 2 Millionen Arbeitnehmer in den Ruhestand gehen werden. Obwohl das Land fast 1,1 Mio. ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat, handelt es sich bei vielen von ihnen um Kinder und nicht erwerbstätige Frauen, die möglicherweise bald in ihre Heimat zurückkehren. Schon jetzt sagen zwei Fünftel der Arbeitgeber, dass sie Schwierigkeiten haben, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Das ist nicht nur ein Jammern auf hohem Niveau: Das Land Berlin kann nicht einmal die Hälfte seiner freien Lehrerstellen mit qualifiziertem Personal besetzen.

Damit Deutschland in einer stärker fragmentierten, grüneren und alternden Welt bestehen kann, muss sich sein Wirtschaftsmodell anpassen. Doch während die hohe Arbeitslosigkeit die Koalition von Gerhard Schröder in den 1990er Jahren zum Handeln zwang, sind die Alarmglocken dieses Mal leichter zu ignorieren. Nur wenige in der heutigen Regierung, die sich aus den Sozialdemokraten, den liberalen Freien Demokraten und den Grünen zusammensetzt, sind sich der Größe der Aufgabe bewusst. Selbst wenn sie es täten, ist die Koalition so zerrissen, dass die Parteien sich nur schwer auf eine Lösung einigen könnten. Außerdem liegt die Alternative für Deutschland, eine rechtspopulistische Partei, in den Umfragen bundesweit bei 20 Prozent und könnte im nächsten Jahr einige Landtagswahlen gewinnen. Nur wenige in der Regierung werden radikale Veränderungen vorschlagen, weil sie befürchten, dieser Partei in die Hände zu spielen.

Die Versuchung mag daher groß sein, an den alten Vorgehensweisen festzuhalten. Aber das würde die Blütezeit Deutschlands nicht zurückbringen. Es würde auch nicht den Ansturm von Herausforderungen auf den Status quo unterdrücken. China wird sich weiterentwickeln und konkurrieren, und Risikoreduzierung, Dekarbonisierung und Demografie können nicht einfach weggewünscht werden.

Anstatt Angst zu haben, müssen die Politiker nach vorne blicken und neue Unternehmen, Infrastrukturen und Talente fördern. Der Einsatz von Technologie wäre ein Geschenk für neue Unternehmen und Branchen. Eine digitalisierte Bürokratie würde für kleinere Unternehmen, die nicht die Kapazität haben, Unmengen von Papierkram auszufüllen, Wunder bewirken. Eine weitere Reform der Genehmigungsverfahren würde dazu beitragen, dass die Infrastruktur zügig und im Rahmen des Budgets gebaut wird. Auch Geld spielt eine Rolle. Zu oft hat die Infrastruktur darunter gelitten, dass die Regierung ihre Regeln für einen ausgeglichenen Haushalt zu einem Fetisch gemacht hat. Auch wenn Deutschland nicht so viel Geld ausgeben kann wie in den 2010er Jahren, als die Zinsen niedrig waren, ist der Verzicht auf Investitionen, um die übermäßigen Ausgaben einzudämmen, eine falsche Strategie.

Genauso wichtig ist es, neue Talente anzuziehen. Deutschland hat seine Einwanderungsbestimmungen zwar liberalisiert, aber das Visumverfahren ist immer noch eisig, und Deutschland nimmt Flüchtlinge besser auf als Fachkräfte. Die Anwerbung qualifizierterer Einwanderer könnte sogar einheimische Talente fördern, wenn dadurch der chronische Lehrermangel behoben werden könnte. In einem Land mit Koalitionsregierungen und vorsichtigen Bürokraten wird dies alles nicht einfach sein. Doch vor zwei Jahrzehnten hat Deutschland einen bemerkenswerten Wandel mit außergewöhnlicher Wirkung vollzogen. Es ist Zeit für einen weiteren Besuch im Fitnessstudio.

© 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.

Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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