Lagarde: Europa muss seine Finanzinfrastruktur neu denken und Ersparnisse besser nutzen
Wie die Präsidentin der Europäischen Zentralbank eine grundlegende Reform der zersplitterten Finanzinfrastruktur Europas fordert, um Wachstum zu fördern und Kapitalmärkte zu optimieren.
Von Christine Lagarde
Europa ist nicht arm an Ideen, Innovatoren oder Einsparungen. Die Europäer sparen mehr von ihrem Einkommen als die Amerikaner, und ihr Anteil an den weltweiten Patentanmeldungen liegt nahe bei dem der Vereinigten Staaten.
Aber Europa tut sich oft schwer damit, Ideen in neue Technologien umzusetzen, die das Wachstum vorantreiben können. Ein Grund dafür ist, dass es viel weniger als die Vereinigten Staaten in der Lage ist, seine beträchtlichen Einsparungen in die Steigerung der Innovation zu investieren.
Als Reaktion darauf hat die EU jahrelang versucht, eine "Kapitalmarktunion" aufzubauen. Seit 2015 gab es mehr als 55 Regulierungsvorschläge und 50 nicht-legislative Initiativen. Aber eine breite Agenda hat zu wenig Fortschritt geführt. Europa muss sich neu orientieren, die wichtigsten Blockaden in der Finanzierungspipeline aufdecken und eine kleinere Anzahl von Lösungen mit der höchsten Rendite ermitteln. Drei davon stechen heute hervor.
Erstens: Europäische Kleinanleger zahlen fast 60 % mehr an Gebühren als ihre amerikanischen Kollegen
Die Ersparnisse der Europäer fließen nicht in ausreichendem Umfang in die Kapitalmärkte. Die Europäer halten ein Drittel ihres Finanzvermögens in Form von Bargeld und Einlagen, verglichen mit einem Zehntel in Amerika. Wenn EU-Haushalte ihr Verhältnis von Einlagen zu Finanzvermögen an das der amerikanischen Haushalte angleichen würden, könnte ein Bestand von bis zu 8 Billionen € (8,4 Billionen $) in langfristige, marktgestützte Anlagen umgelenkt werden.
Ein Hindernis für eine solche Diversifizierung ist das Anlageumfeld für Privatkunden in Europa. Viele Haushalte sehen sich nur wenigen geeigneten Anlagemöglichkeiten und hohen Gebühren gegenüber. Kleinanleger, die in europäische Investmentfonds investieren, zahlen beispielsweise fast 60 % mehr an Gebühren als ihre amerikanischen Kollegen.
Ein standardisierter, EU-weiter Satz von Sparprodukten - ein "europäischer Sparstandard" - ist der beste Weg, um voranzukommen. Solche Produkte wären zugänglich und transparent und würden eine Reihe von Anlagemöglichkeiten bieten, die nach klaren Kriterien strukturiert sind. Und sie wären erschwinglich, weil es weniger Bürokratie, mehr Vergleichbarkeit und mehr Wettbewerb geben würde. Die Attraktivität des europäischen Standards würde auch durch die Harmonisierung der Steueranreize in den einzelnen Ländern erhöht.
Zweitens: Die fragmentierte Finanzmarktinfrastruktur behindert den Fortschritt
Wenn Ersparnisse die Kapitalmärkte erreichen, breiten sie sich nicht in ganz Europa aus. Das schränkt die Fähigkeit ein, große Kapitalpools zur Finanzierung von transformativen Technologien zu bilden. So werden beispielsweise mehr als 60 % der Eigenkapitalinvestitionen der Haushalte im eigenen Land getätigt.
Diese nationalen Silos werden durch eine außerordentlich fragmentierte Finanzmarktinfrastruktur gestützt. In der EU gibt es 295 Handelsplätze, 14 zentrale Gegenparteien und 32 zentrale Wertpapierverwahrungsstellen (CSD). In den Vereinigten Staaten gibt es nur zwei Wertpapierclearingstellen und einen CSD.
Ein Flickenteppich unterschiedlicher Unternehmens-, Steuer- und Wertpapiergesetze behindert die Konsolidierung, was noch dadurch verschärft wird, dass die nationalen Behörden für bestimmte Transaktionen die Nutzung nationaler CSDs vorschreiben. Der europäische Ansatz zur Überwindung dieser Hindernisse besteht in einer schrittweisen Harmonisierung. Aber der Fortschritt ist viel zu langsam.
Europa braucht einen Methodenwechsel, um festgefahrene Interessen zu überwinden.
Deshalb habe ich letztes Jahr eine "europäische SEC" gefordert, um die Durchsetzung eines gemeinsamen Regelwerks in der EU zu gewährleisten, wie es die Securities and Exchange Commission in Amerika tut. Neben diesem Ziel gibt es aber auch ergänzende Optionen, die Europa verfolgen kann.
Eine davon wäre ein zweistufiger Ansatz, wie ihn Europa bereits bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts und der Bankenaufsicht verfolgt. Finanzdienstleister, die bestimmte Kriterien - wie Größe oder grenzüberschreitende Tätigkeit - erfüllen, würden unter europäische Aufsicht fallen. Die nationalen Behörden würden kleinere nationale Anbieter weiterhin beaufsichtigen.
Eine weitere Option wäre die Anwendung von "28. Regelungen" in Bereichen, in denen der Fortschritt ins Stocken geraten ist - ein spezieller EU-Rechtsrahmen mit eigenen Vorschriften neben denen der 27 Mitgliedsstaaten. Wir könnten uns zum Beispiel eine 28. Regelung für Wertpapieremittenten vorstellen, die ein einheitliches Gesellschafts- und Wertpapierrecht vorsieht.
Drittens: Ersparnisse fließen nicht in innovative Unternehmen und Sektoren
Die Ersparnisse fließen, nachdem sie von den Kapitalmärkten zugeteilt wurden, nicht in innovative Unternehmen und Sektoren, was auf ein unterentwickeltes Ökosystem für Risikokapital (Venture Capital - VC) in Europa zurückzuführen ist.
Die VC-Investitionen betragen nur etwa ein Drittel des amerikanischen Niveaus, und Europa ist bei der Finanzierung von Innovationen weitgehend von den amerikanischen VCs abhängig. Mehr als 50 % der Investitionen in der Spätphase der europäischen Technologie kommen von außerhalb.
Europa sollte danach streben, das amerikanische Niveau von VC zu erreichen, aber das wird nicht über Nacht geschehen. In der Zwischenzeit muss die EU die gesamte Flexibilität ihres Finanzsystems nutzen, um die Lücke zu schließen.
Da institutionelle Anleger einen langen Anlagehorizont haben, sollte das Regulierungssystem der EU es ihnen ermöglichen, mehr zum langfristigen Wachstum beizutragen. So investieren beispielsweise EU-Pensionsfonds nur 0,01% ihres Gesamtvermögens in europäische VC, ein Bruchteil dessen, was ihre amerikanischen Pendants in amerikanische VC investieren.
Die EU sollte auch das Potenzial der Europäischen Investitionsbank voll ausschöpfen, um Risiken zu bündeln und privates Kapital in europäische VC zu leiten. Und sie sollte prüfen, wie Innovationen nicht nur durch Eigenkapital, sondern auch durch Fremdkapital unterstützt werden können. Die Entwicklung der Verbriefung in Europa könnte es den Banken ermöglichen, in ihren Bilanzen Platz freizumachen und eine größere Rolle bei der Finanzierung von Innovationen zu spielen.
Erforderlich: Eine kleine Anzahl großer Schritte anstatt eine große Anzahl kleiner Schritte
Die Fortschritte in diesen drei Bereichen werden sich selbst verstärken. Mehr wachstumsstarke Unternehmen bedeuten höhere Bewertungen, größere Liquidität auf den EU-Märkten und höhere Renditen für die Sparer. Dies erfordert jedoch einen Wechsel des Ansatzes von einer großen Anzahl kleiner Schritte zu einer kleinen Anzahl großer Schritte - und die Auswahl derjenigen, die am machbarsten sind und den größten Unterschied machen.
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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com