Sparmaßnahmen: Stellenabbau in Rekordtempo
Industrie im Krisenmodus: Laut Studie sehen Manager hohe Standortkosten als größte Gefahr – Firmen reagieren mit Jobabbau und radikalen Sparprogrammen.

Die deutsche Industrie befindet sich in einer tiefgreifenden Umstrukturierungsphase. Bereits in den ersten Monaten des Jahres 2024 sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes fast 70.000 Stellen im produzierenden Gewerbe weggefallen. Allein im März kündigten deutsche Konzerne den Abbau von mehr als 10.000 weiteren Arbeitsplätzen an. Diese Entwicklung ist kein vorübergehendes Phänomen, sondern Ausdruck struktureller Veränderungen in der Wirtschaft.
Kostenexplosion als Haupttreiber
Die Ursachen für den massiven Stellenabbau sind vielschichtig, doch ein Faktor sticht besonders hervor: 79 Prozent der Manager aus dem produzierenden Gewerbe nennen in einer aktuellen Umfrage der Managementberatung Horvath die hohen Kosten am Standort Deutschland als größte Belastung.
An erster Stelle stehen dabei die hohen Fertigungskosten, insbesondere durch teure Energie. Gleichzeitig belasten inflationsbedingt gestiegene Materialkosten die Unternehmen erheblich. Im Bausektor liegen die Materialpreise teilweise um 50 Prozent über dem Niveau von 2021.
Hinzu kommen steigende Personalkosten durch jüngste Tarifabschlüsse mit Lohnerhöhungen von fünf Prozent und mehr. Nach Angaben der Personalberatung Kienbaum sind die Gehälter 2024 bereits um 4,8 Prozent gestiegen – mit weiter steigender Tendenz. Die Lohnnebenkosten befinden sich zudem auf dem höchsten Niveau seit 20 Jahren.
Verwaltung im Fokus der Sparmaßnahmen
Die aktuelle Restrukturierungswelle konzentriert sich zunächst auf die Verwaltungsebenen der Unternehmen. Viele Konzerne haben in den wirtschaftlich starken Jahren zwischen 2010 und 2020 ihre Verwaltungen ausgebaut, ohne genauer auf die Kosten zu achten.
Bei der Deutschen Bahn sollen bis Ende 2027 in Vertrieb und Verwaltung rund 10.000 Stellen entfallen – etwa 20 Prozent der dort Beschäftigten. Bahn-Chef Richard Lutz begründet dies mit der "größten Krise seit 30 Jahren".
Der Pharmakonzern Bayer hat unter seinem neuen Chef Bill Anderson Hierarchien gestutzt, Abteilungen aufgelöst und durch eigenständig arbeitende Teams ersetzt. Weltweit wurden seit Herbst 2023 bereits 10.000 Stellen abgebaut, überwiegend im Management.
Auch Audi plant den Abbau von 7.500 Stellen, fokussiert auf den indirekten Bereich außerhalb der Produktion. Personalvorstand Xavier Ros erklärt, man wolle die "Teamaufstellung fokussiert und an den Anforderungen der Zukunft ausrichten".
Von der Verwaltung zur Produktion
Während in früheren Sparrunden die Produktion oft unangetastet blieb, zeichnet sich nun ein Wandel ab. Siemens baut 3.000 Stellen in Deutschland ab, betroffen sind Werke für die Produktion digitaler Industriesteuerung.
Die Autobranche plant besonders umfangreiche Kürzungen: Porsche (1.900 Stellen), Volkswagen (35.000 Stellen) und ZF (bis zu 14.000 Stellen) wollen ausdrücklich auch in der Fertigung Personal reduzieren. Dies deutet darauf hin, dass die Unternehmen nicht von einer vorübergehenden konjunkturellen Schwäche ausgehen, sondern strukturelle Anpassungen für notwendig halten.
Ein weiteres Indiz dafür: Auf Kurzarbeit greifen aktuell nur wenige Unternehmen zurück. Während der Finanzkrise 2010 und der Corona-Pandemie 2021 waren mehr als eine Million Beschäftigte in Kurzarbeit. Im Februar 2025 waren es laut Bundesagentur für Arbeit nur knapp 70.000 – genauso viele wie ein Jahr zuvor.
Sozialverträgliche Lösungen statt Kündigungen
Betriebsbedingte Kündigungen wird es im Zuge der laufenden und geplanten Sparprogramme in Deutschland voraussichtlich nur wenige geben. Konzerne wie Siemens, BASF und Mercedes-Benz sind durch Verträge zur Beschäftigungssicherung gebunden. Mercedes hat diese Sicherung kürzlich bis 2034 verlängert.
Stattdessen setzen die Unternehmen auf andere Instrumente: Stellen in der Verwaltung werden nicht neu besetzt, wenn Mitarbeiter von sich aus kündigen oder einem Aufhebungsvertrag zustimmen. Die Unternehmen locken dabei mit hohen Abfindungen – bei Mercedes könnten diese bis zu einer halben Million Euro erreichen, Bayer bietet sogar bis zu 52,5 Monatsgehälter.
Besonders im Fokus: der vorzeitige Ruhestand. Firmen bieten Mitarbeitern ab 57 Jahren an, in den Vorruhestand oder in Altersteilzeit zu gehen – oft ohne finanzielle Einbußen. Sie erhalten sechs Jahre lang die Abfindung in monatlichen Summen plus Zuschläge, bis sie mit 63 Jahren Frührentner werden können. Das Potenzial ist groß: Die Zahl der Frührentner ist von 179.000 im Jahr 2019 auf 279.000 im Jahr 2023 gestiegen.
Chancen und Risiken
Die aktuellen Restrukturierungsmaßnahmen bringen sowohl Chancen als auch Risiken für die betroffenen Unternehmen und den Wirtschaftsstandort Deutschland mit sich.
Chancen:
- Effizienzsteigerung durch schlankere Strukturen ermöglicht es Unternehmen, wettbewerbsfähiger zu agieren und Ressourcen gezielter einzusetzen. Daimler-Truck-Chefin Karin Radström plant Einsparungen von einer Milliarde Euro bis 2030, um in Technologien, Produkte und Services zu investieren.
- Digitalisierung und Automatisierung werden durch den Kostendruck beschleunigt. 50 Prozent der von Horvath befragten Unternehmen wollen Prozesse in Verwaltung und Produktion automatisieren, 60 Prozent nutzen bereits KI oder planen dies.
- Strukturelle Anpassungen können langfristig zu einer robusteren Positionierung im internationalen Wettbewerb führen. Unternehmen wie Adidas verschieben Entscheidungen stärker in die Regionen und bauen doppelt besetzte Funktionen in der Zentrale ab.
Risiken:
- Verlust von Fachkräften und Know-how durch pauschale Stellenstreichungen kann die Innovationsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigen. Besonders der Abbau in Forschung und Entwicklung könnte langfristige negative Folgen haben.
- Sinkende Investitionen am Standort Deutschland könnten zu einer Abwärtsspirale führen. Ökonomen wie Lars Feld von der Uni Freiburg sprechen von einem "toxischen Gemisch" an hohen Kosten, das abschreckend auf Investitionen wirkt.
- Zusätzliche Belastungen durch US-Zölle könnten den Druck weiter erhöhen. Patrick Heurich, Partner und Restrukturierungsexperte bei Horvath, warnt: "Die Zölle der USA werden deutsche Exportindustrien weiter belasten, was den Druck zu Kostensenkungen erhöht."
Kurzer Blick auf die Geschichte der Industriellen Restrukturierung
Umstrukturierungen und Stellenabbau sind keine neuen Phänomene in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Bereits in den 1970er Jahren durchlief die deutsche Stahlindustrie eine tiefgreifende Krise, die zu massiven Stellenstreichungen führte.
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1970er Jahre – Krise der Stahlindustrie
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Tiefe Krise der deutschen Stahlindustrie
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Ursachen: internationale Konkurrenz, Überkapazitäten, steigende Kosten
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Folge: massiver Stellenabbau
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1990er Jahre – Restrukturierung nach der Wiedervereinigung
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Privatisierung und Schließung von Betrieben durch die Treuhandanstalt in Ostdeutschland
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Verlust von ca. 2,5 Millionen Arbeitsplätzen
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Ursache: strukturelle Anpassung, nicht konjunkturelle Schwäche
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Parallele zur Gegenwart: langfristige Transformation statt vorübergehender Krise
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Finanzkrise 2008/2009
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Einführung und erfolgreicher Einsatz von Kurzarbeit
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Vermeidung von massenhaftem Stellenabbau
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Unterscheidung zur heutigen Situation: damalige Krise galten als temporär
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Lehren aus der Vergangenheit
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Erfolgreiche Restrukturierungen kombinierten Kostensenkung mit Investitionen in Zukunftstechnologien
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Reiner Personalabbau führte langfristig oft zu Wettbewerbsverlust
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Joseph Schumpeter prägte den Begriff der "schöpferischen Zerstörung" – ein Prozess, bei dem alte Strukturen weichen müssen, um Neues entstehen zu lassen. Doch die entscheidende Frage lautet: Werden durch die aktuellen Sparmaßnahmen tatsächlich überholte Strukturen abgebaut, oder schneiden Unternehmen ins eigene Fleisch? Die aktuelle Herausforderung besteht darin, Effizienzsteigerungen mit strategischen Investitionen zu verbinden – eine Balance, die in früheren Krisen nicht immer gelungen ist.