Warum Pleitefirmen für strategische Zukäufe attraktiv sind
Insolvente Firmen sind oft wahre Schatztruhen: Wer schnell und klug handelt, kann günstig zukaufen und neue Märkte erobern.

Von Midia Nuri
Für die einen ist es eine Niederlage. Der Moment, den sie seit Monaten oder gar Jahren fürchten und mit Macht zu verhindern versuchen. Für die anderen ist es die (überraschende) Chance, das eigene Unternehmen durch einen strategischen Zukauf zu bereichern – um einen Unternehmensteil, der neue Möglichkeiten eröffnet oder Märkte erschließt. Manch ein Unternehmer in guter wirtschaftlicher Lage beobachtet dafür sogar die Insolvenzbekanntmachungen. Denn hier tauchen nicht nur die hoffnungslosen Fälle auf. „Auch in den Fällen, in denen es vielleicht anders geplant war und vielleicht sogar ein Schutzschirmverfahren in Eigenverwaltung angestrebt wird, gilt: Mit der Insolvenz ist das Unternehmen faktisch auf dem Markt“, sagt Insolvenzverwalter Andreas Kleinschmidt, Partner der Kanzlei White & Case in Frankfurt.
Und der Markt für Übernahmen solch angeschlagener Firmen wächst. Distressed Mergers & Acquisitions (M&A) nennen die Experten das Geschäft. Trotz Insolvenz steht manch attraktives Unternehmen oder Asset zum Verkauf. Und neben der strategischen Chance gibt es Erleichterungen für solche Käufe. Dafür müssen sie schnell gehen. Und bergen ein paar Tücken.
In der Krise eine strategische Chance zu sehen, ist das Gebot der Stunde. Krisen finden sich derzeit überall. Nicht mehr nur Bäcker und Fleischereien schließen oder wie auch in besseren Zeiten Baubetriebe. Auch Automobilhersteller und deren Zulieferer sowie Maschinenbauer oder Anbieter erneuerbarer Energien stehen unter Druck. Für 2024 meldeten die Amtsgerichte dem Statistischen Bundesamt 21.812 Unternehmensinsolvenzen, 22,4 Prozent mehr als 2023. Nach einem Tiefstand 2018 mit 19.552 Insolvenzen und die durch die ausgesetzte Insolvenzantragspflicht bedingte Coronapause lag die Zahl fast so hoch wie 2015 mit 23.101 Firmensinsolvenzen. 2009 waren es 32.687.
Schon bevor die Insolvenzzahlen stiegen, interessierten sich immer mehr Firmen für den Kauf eines Pleitebetriebs, wie die M&A-Beratungsgesellschaft Livingstone 2019 feststellt. Und jetzt werden es noch mehr. Ein neues Phänomen ist das nicht. Schon die Konkursordnung von 1877 ließ gesetzlichen Spielraum für Transaktionen von Betrieben oder Betriebsteilen.
Einerseits zieht die Nachfrage ausländischer Investoren gerade für größere Firmen an. Deren Anteil an den Insolvenzen steigt. „Beteiligungsgesellschaften sind gerade gut unterwegs“, beobachtet Kleinschmidt. „Die haben Geld, investieren allerdings auch eher in große Unternehmen.“ Auch strategische Investoren aus dem Ausland kaufen sich gern in den größeren Mittelstand ein. Etwa die indische Sudarshan Chemical Industries. Sie übernahm Heubach Colorants Germany. Der Frankfurter Hersteller mit rund 200jähriger Geschichte, 2800 Mitarbeitern, 19 Produktionsstätten und weltweit führend bei Farb- und Korrosionspigmenten, hatte im April 2024 Insolvenz angemeldet. Kleinschmidt betreute den Fall. Die britische Wourth Group stieg Ende August beim traditionsreichen Modehändler Peter Hahn aus Winterbach im Rahmen eines Insolvenzplans ein.
Auch deutsche Unternehmen nutzen zunehmend Distressed-M&A-Geschäfte für strategische Zukäufe. So verkaufte Sachwalter Kleinschmidt aus der Insolvenz von WeylChem InnoTec über den M&A-Berater RSM Ebner Stolz zwei auf die Auftragsentwicklung und -herstellung für den Pharma-, Elektronik- und Feinchemikalienmarkt spezialisierte Produktionsstätten an die Gesellschafter der ProChem aus Berlin.

Manche Unternehmen finden in der Insolvenz über ein solches Geschäft zurück in Gründerhand, etwa Deinschrank.de, das beim zuvor ausgestiegenen Gründer Frank Budde landete. Und mancher Traditionsbetrieb blüht nach der Insolvenz in der Hand eines jungen Investors neu auf, wie der 1906 gegründete Solinger Klingenhersteller Dovo Stahlwaren, den der heute geschäftsführende Gesellschafter Jens Grudno im Oktober 2020 aus der Insolvenz heraus teilweise übernahm.
„Bei kleineren Unternehmen mit 100 bis 200 Mitarbeitern oder nach Umsatz mit 20 bis 25 oder auch bis zu 50 Millionen Euro tut sich eine Lücke für strategische Investments auf, die mittelständische Unternehmen schließen können“, ist Kleinschmidt überzeugt. Gerade ihnen bieten die hohen Insolvenzzahlen viele Chancen – wenn sie gut vorbereitet sind. Denn vieles ist anders. Zum Beispiel zählt aus Sicht potenzieller Käufer nicht Vorausschau und frühzeitiges Handeln, sondern es lohnt sich, das Schlimmste abzuwarten. Wer um fünf nach zwölf kommt, kauft günstiger.
Falsche Angebote per Mail
Das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Kürzlich versuchten Betrüger unter dem Namen einer renommierten Insolvenzkanzlei, nicht existierende Insolvenzware unter einer dann rasch gesperrten Domain anzubieten, warnten die Rechtsanwälte von Pluta. Zwar sind bekanntermaßen Ladentheken, Messestände oder auch Einrichtungen und hochwertige Maschinen als Insolvenzware günstig. Doch Insolvenzverwalter werden ihr Angebot nicht per Massen-Mail unterbreiten.
Morgens in die Insolvenzbekanntmachungen zu schauen, kann sich dagegen lohnen. „Das machen auch einige“, weiß Malte Köster, Partner und Fachanwalt für Insolvenzrecht bei der Kanzlei Willmerköster. Alle angemeldeten Insolvenzverfahren sind unter Insolvenzbekanntmachungen.de zu finden. „Wer regional sucht, kann über das zuständige Insolvenzgericht durchaus etwas Passendes finden“, sagt Köster. Das ist beispielsweise für Handwerksbetriebe oder regionale Handelsfirmen eine gute Option. Für branchenbezogene oder an Spezialbereichen interessierte Unternehmer lohne sich dagegen eher, Mitteilungen spezialisierter Insolvenzkanzleien und M&A-Berater im Auge zu behalten oder Kontakt aufzunehmen, rät Köster. Auch in Datenbanken wie der Deutschen Unternehmensbörse, Nachfolgekontor oder auch beispielsweise Nexxt-Change können sich interessante Kaufgelegenheiten finden.
Auch wer nicht sucht, bekommt ungefragt Angebote. „Der härteste Wettbewerber wird von der Insolvenz erfahren“, sagt Köster. Die Schande, die viele Unternehmer wegen der Insolvenz fürchten, sei nur ein Gefühl, sagt Insolvenzverwalter Kleinschmidt. „Der Markt reagiert viel eher rücksichts- und verständnisvoll“, beobachtet er. „Teilweise ganz rührend auch noch mit Extra-Aufträgen.“ Denn jedes Geschäft sei besser, als das Unternehmen zu schließen, dessen sind sich die Insolvenzexperten einig und das sehen in der Regel auch Gläubiger, Mitarbeiter und Lieferanten so. „Wenn ich nach meiner Bestellung durch das zuständige Amtsgericht ins insolvente Unternehmen fahre, nehme ich sehr zeitnah Kontakt zu allen Kunden und sämtlichen Auftraggebern auf“, sagt Köster. „Nicht selten sind Kunden später selbst die Käufer – oder kennen und vermitteln an einen möglichen Käufer.“
In aussichtsreichen Insolvenzfällen engagieren die Insolvenzverwalter eine auf Verkäufe aus der Insolvenz spezialisierte M&A-Beratungsgesellschaft. „Unter den vielleicht knapp 2000 M&A-Beratern gibt es eine kleine Auswahl Spezialisten für Distressed M&A“, sagt Köster. Nur die dürfen es sein. „Neulich hatte ich beispielsweise eine Eisengießerei zu verkaufen. Da war klar: Es braucht sich kein M&A-Berater bei mir zu melden, der nicht schon eine Gießerei verkauft hat.“ Gescheitert ist das Geschäft trotzdem. Und dann war da noch Zeitmangel – ein Klassiker bei Insolvenzen. „Oft melden Unternehmen kurz nach Monatsende Insolvenz an, weil sie Löhne und Gehälter nicht zahlen können“, berichtet Köster. „Damit ist aber bereits der erste der drei Monate Insolvenzgeld verbraucht – für den Monat davor.“ Das mindert die Chance auf eine übertragende Sanierung, bei der das Unternehmen verkauft oder auf eine neu gegründete Gesellschaft überschrieben wird.
An Tag drei bis fünf nach Anmeldung einer Insolvenz legt der M&A-Berater dem Insolvenzverwalter eine Liste mit 100 bis 200 Unternehmen vor, die als mögliche Käufer infrage kommen. „Mindestens 80 Kandidaten, die wir sehr rasch ansprechen“, sagt Köster. „Viel hilft viel“, ist seine Devise. „Wir fragen lieber einen Kandidaten mehr in dieser Phase.“ Nach zwei Wochen ist die Liste deutlich kürzer. Der oder die potenziellen Käufer müssen sich nun ein möglichst umfassendes Bild vom insolventen Unternehmen machen.
Auch diese Due Diligence ist verkürzt. „Wesentliche Eckdaten stehen ja bereits fest“, sagt Köster. Gesellschafter müssen nicht beteiligt werden. Das Unternehmen wird ohne Verbindlichkeiten und vertragliche Haftungsrisiken übernommen. Auch für rückständige Steuern haftet der Käufer nicht, anders als bei Akquisitionen außerhalb der Insolvenz. „Der Erwerber kann sich also darauf konzentrieren, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Geschäftsbetriebes möglichst realistisch einzuschätzen“, sagt Köster und gibt als Praxistipp: „Mitunter bietet ein Blick auf die Performance des Unternehmens während der Fortführung im Insolvenzantragsverfahren mehr Erkenntnisse als eine Betrachtung der leistungswirtschaftlichen Vergangenheitsdaten.“
Bei einem Erwerb von Unternehmen aus der Insolvenz ist der Kaufvertrag nahezu immer ein Asset Deal. Verkauft werden also Immobilien, Maschinen, Lagerbestände, Markenrechte oder Patente und Internetseiten bis hin zu Firmenmöbeln. „Die Kaufpreisfindung basiert in aller Regel auf dem Substanzwert des Betriebes“, erklärt Köster. So kann das Unternehmen praktisch anhand der Inventarliste und dem Warenwirtschaftssystem bewertet werden.
In manchen Fällen bleibt das insolvente Unternehmen als Rechtsträger erhalten und muss bei einem Verkauf ein Insolvenzplanverfahren durchlaufen. „Wenn die gesamte Fortführung des Unternehmens an der Fortführung bestimmter Verträge hängt oder von bestimmten behördlichen Genehmigungen abhängig ist“, erklärt Köster. Das Insolvenzplanverfahren ist komplexer und zeitaufwendiger als eine übertragende Sanierung. Dafür bietet es bei Verträgen außergewöhnliche Gestaltungsmöglichkeiten. „Sei es bei Miet- oder Leasingverträgen oder auch durch erleichterte Regeln für die Kündigung von Arbeitsverträgen“, erklärt Insolvenzverwalter Kleinschmidt. „Ich kann als Käufer ein insolventes Unternehmen praktisch auf meine Bedürfnisse zugeschnitten übernehmen.“
Aufpassen müssen potenzielle Käufer von Krisen-Unternehmen speziell vorinsolvenzlich. „Die engen zeitlichen Fristen erhöhen die Gefahr, dass Käufer und Verkäufer Haftungsrisiken nicht vollständig berücksichtigen“, beobachtet Köster. Das kann die Existenz der Unternehmen bedrohen. „Rutscht eine der beiden Parteien kurz nach der Transaktion in eine Insolvenz, rücken Anfechtungsrisiken in den Fokus.“ Es droht Totalverlust. Unternehmer sollten sich daher für den Kauf eines kriselnden Unternehmens unbedingt umfassend und kundig beraten lassen.
Besonders relevant ist die Höhe des Kaufpreises. „In Distressed-Transaktionen drängt der Käufer häufig auf einen besonders günstigen Kaufpreis“, weiß Köster, „schließlich hat der Verkäufer einen gesteigerten Liquiditätsbedarf und damit eine eher schwache Verhandlungsposition.“ Käufer sollten sich den Kaufpreis unabhängig bestätigen lassen, rät er. „Ein auffallend niedriger Kaufpreis wäre ein möglicher Aufhänger für eine Anfechtung“, warnt Köster. Und selbst einen angemessenen Kaufpreis hält der Insolvenzrechtler für nicht frei von Anfechtungsrisiken. „Wenn der angemessene Kaufpreis vom Verkäufer bereits verwendet wurde, um einzelne Verbindlichkeiten auszugleichen, liegt auch eine anfechtungsrelevante Gläubigerbenachteiligung vor.“ Der Insolvenzverwalter rät, sich von einer Investmentbank oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaft den Kaufpreis mit einer sogenannten Fairness Opinion bestätigen zu lassen.
Tücken des Kaufpreises
„Wenn Käufer bei der Due Diligence von einer zumindest drohenden Zahlungsunfähigkeit erfahren, lägen die subjektiven Voraussetzungen für eine Anfechtung vor“, erklärt Köster. Käufer könnten sich die vorhandene Zahlungsfähigkeit des Verkäufers oder ein erfolgversprechendes Sanierungskonzept attestieren lassen. Auch eine Zug-um-Zug-Vereinbarung für den Kaufpreis ist aus seiner Sicht sinnvoll. „Zur Minimierung von Anfechtungsrisiken sollte die Transaktion als sogenanntes ‚anfechtungsprivilegiertes Bargeschäft‘ gestaltet werden“, empfiehlt er. In der Regel sei der Käufer damit auf der sicheren Seite. „Nachgelagerte Kaufpreiszahlungen, Kreditierungen oder Gewährleistungseinbehalte bergen dagegen große Risiken“, sagt der Insolvenzverwalter. Vorsicht ist auch bei Gesellschafterdarlehen geboten. Werden diese binnen eines Jahres vor dem Insolvenzantrag zurückgezahlt, ist das anfechtbar.
Kommt im Insolvenzverfahren kein Geschäft zustande oder scheitert eine Eigensanierung, stellt der Insolvenzverwalter den Geschäftsbetrieb ein und wickelt das Unternehmen ab. Die Zahl der Distressed-Deals ist zuletzt weniger gestiegen, als die Zahl der Insolvenzen, die Quote der gelingenden Sanierungen gesunken, teilt die M&A-Beratungsgesellschaft Falkensteg mit. Unternehmen fahren ihre Investitionsausgaben deutlich zurück. „Die Krise bekommen natürlich auch potenzielle Käufer zu spüren“, weiß Kleinschmidt. „Nur: Die haben die Wahl.“