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Finanzierung > Tariferstreit IG Metall

Alle Seiten mussten große Kröten schlucken

Der Tarifabschluss bei der Metall- und Elektroindustrie zeigt: In der Krise herrscht Vernunft – die Verhandlungen waren hart, aber fair. Und dass die Branche extrem heterogen ist: Konzerne verhandelten bei weitem nicht so hart wie der Mittelstand.

Der Tarifabschluss bei der Metall- und Elektroindustrie zeigt: In der Krise herrscht Vernunft – die Verhandlungen waren hart, aber fair. © Shutterstock

Das war knapp: Morgens um drei ist den Verhandlern ins Gesicht geschrieben, dass die vergangenen zwölf Stunden viel Kraft und Nerven gekostet haben. Dabei war man so zuversichtlich nach Ludwigsburg gekommen. Roman Zitzelsberger, der mächtige Stuttgarter IG Metall-Chef, glaubte am Nachmittag sogar noch, „bis zu den Tagesthemen“ fertig zu sein. Als in Ludwigsburg auch IG Metall-Chef Jörg Hofmann und Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf gesichtet werden, ist allen Beobachtern klar, dass auch die Topvertreter entschlossen sind, die Kuh vom Eis zu treiben. „Wir müssen das jetzt vom Hof bringen“, raunt Wolf während einer Verhandlungspause.

Doch je länger sich die Gespräche hinziehen, desto angespannter die Mienen. Um Mitternacht ist sogar nicht mehr ausgeschlossen, dass die Gespräche ganz scheitern. Denn diesmal haben auf der Arbeitgeberseite – mit Verhandlungsführer Harald Marquardt an der Spitze – die Vertreter der mittelständischen Betriebe das Sagen. Und die können mit der Rechnung der IG Metall wenig anfangen: Bei einer Laufzeit von 18 Monaten soll es 6,5 und bei 27 Monaten mehr als zehn Prozent mehr Geld geben. Eine lineare Tariferhöhung ist der Gewerkschaft wichtig. Zudem will man die von Berlin erlaubte Möglichkeit einer Inflationsausgleichsprämie von 3000 Euro einbauen. „Da haben wir uns dann ziemlich verhakt“, gibt Zitzelsberger später zu.

Tatsächlich fordern die Arbeitgeber ihrerseits eine flexible Ausgestaltung. Sie wollen den Hauptteil der Belastung nämlich möglichst in die Zukunft schieben. Denn sie sehen bereits einen Silberstreif am Horizont. „Die Kunden fragen für 2023 wieder mehr neue Projekte an“, erläutert Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer von Südwestmetall. Die Rezession werde also nicht so dramatisch ausfallen, wie befürchtet. „2024 wird dann wieder ein ordentliches Jahr.“ Die Unternehmer ringen deshalb der Gewerkschaft die Möglichkeit ab, die Einmalzahlungen je nach wirtschaftlicher Lage zu leisten. Also auch erst wesentlich später. Das bedeutet, dass es im Januar erst einmal nur 750 Euro steuerfrei gibt. Mehr nicht. Zudem zündet die erste Stufe der Lohnerhöhung erst im Kommenden Juni. „Die Kröte mussten wir schlucken“, räumt Zitzelsberger dann ein.

Aber auch die Arbeitgeber müssen einiges hinnehmen. Aus Sicht der Gewerkschaft werden über eine Laufzeit von zwei Jahren Lohnerhöhungen von 8,5 Prozent erreicht. Hinzu kommt eine Reihe von Sonderzahlungen. Ein Facharbeiter komme so auf 7000 Euro mehr, wobei 3000 Euro steuerfrei sind, rechnet IG Metall-Chef Hofmann vor. Damit werde man die Kaufkraft stützen ganz für eine bessere Binnenkonjunktur. Die Arbeitgeber rechnen anderes und verweisen, um die eigenen Reihen zu beruhigen, dass über die gesamte Laufzeit hinweg die Mehrbelastung lediglich 3,4 Prozent beträgt. Eben diese lange Laufzeit schaffe zudem Planungssichert, darum habe man am Ende zugestimmt, unterstreichen Wolf und Marquardt in der Nacht mit etwas gequältem Gesichtsausdruck. Den letzten Ruck haben sich die Unternehmer offenbar erst gegeben, als die IG Metall damit drohte, Baden-Württemberg mit tagelangen Streiks zu überziehen. „Das konnten wir unseren Mitgliedern nicht antun, gesteht Dick, dem diese Drohung offenbar noch lange zu schaffen machen wird. Der Pilotabschluss in Baden-Württemberg gilt nicht automatisch für ganz Deutschland – er wird in den anderen Tarifbezirken weiterverhandelt. Aber üblicherweise werden die Ergebnisse mit leichten Abweichungen übernommen. Sicherlich wird der Abschluss auch Einfluss haben auf die nächste große Tarifrunde: Am 24. Januar 2023 starten die Verhandlungen für 2,5 Millionen Beschäftigte von Bund und Kommunen.

So ist es am Ende, wie es praktisch immer ist nach einer langen Tarifnacht: Jede Seite ist um eine für sich günstige Deutung des Erreichten bemüht. Die IG Metall muss nun verkaufen, warum die Mitglieder einen Teil der Inflation doch aus eigener Tasche tragen müssen – die führenden Wirtschaftsinstitute rechnen mit einer Rate von 8,4 für 2022. Das wird vor allem bei den Beschäftigten der glänzend verdienenden Autoriesen nicht einfach. Die Arbeitgeberseite wird ebenfalls viel argumentieren müssen, um vor allem die kleineren Mitgliedsbetriebe mitzunehmen. Ob die Adressaten den Flötentönen der Verhandler erliegen, ist vor allem auf Unternehmerseite noch offen. Die meisten Metaller haben wohl kaum mit acht Prozent mehr Geld für das kommende Jahr gerechnet.

Die Tarifparteien haben sich trotz allem überraschend schnell geeinigt. Denn die Ausgangslage war diesmal so schwierig wie selten zuvor. Auf der einen Seite die inflationsgeplagten Beschäftigten, die auf Kompensation pochten. Auf der anderen die Unternehmer, denen die Energie- und Materialkosten davonlaufen, die sie nur selten an die Kunden weitergeben können. Schon im Mai hatte der mächtige Stuttgarter IG-Metall-Chef Roman Zitzelsberger gestöhnt: „So eine Ausgangslage habe ich in 30 Jahren noch nicht erlebt.“ Und es wurde in den Folgemonaten nicht besser. Zwar sind die Auftragsbücher der Unternehmen immer noch brechend voll, doch zunehmend rutschen Betriebe in die roten Zahlen, weil Teile – und somit Umsatz – fehlen. Gleichzeitig haben die Beschäftigten Monat für Monat immer weniger übrig. Eine hochexplosive Mischung, die nun in Ludwigsburg in großer Eile entschärft werden musste.

So zählen die Verhandler selbst wohl zu den Glücklichsten dieser Tarifrund. Ihnen ist es gelungen, einen Abschluss zu erzielen, bevor die Lage unkalkulierbar eskaliert ist. Die Gewerkschaft musste durchaus befürchten, dass durch Streiks die Erwartungen in den Himmel wachsen würden. Und im Unternehmerlager rumorte es zwischen jenen mit viel Arbeit – und Ertrag - haben und jenen, die keine Handbreit nachgeben wollen, weil jeder zusätzliche Euro an Kosten einer zu viel ist. Schon im Vorfeld hatte der Mittelstand dem eigenen Verband gedroht, von der Fahne zu gehen, sollte der Abschluss zu hoch ausfallen. Ein Ergebnis wie 2018 wolle man nicht wieder erleben. Damals waren es 4,3 Prozent. Die hätte man jetzt gleich unterschrieben. So haben sich die Zeiten gewandelt.

Um dem angefressenen Mittelstand mehr Gewicht zu geben, hat Südwestmetall Harald Marquardt als Verhandlungsführer ins Rennen geschickt. Er steht vor allem für die Zulieferer der Autoindustrie, die in Baden-Württemberg besonders zahlreich vertreten sind. Die meisten haben große Probleme, weil zu wenig Autos gebaut und gleichzeitig die gestiegenen Kosten von den Autokonzernen ignoriert werden. „Es trifft diesmal alle, von Großkonzern bis zum kleinen Betrieb auf der Schwäbischen Alb“, hat Marquardt die Lage seiner Branche vor ein paar Tagen beschrieben. Entsprechend hatten diese Unternehmen, die im Arbeitgeberlager und der Gewerkschaft viel Gewicht haben, großes Interesse den Abschluss selbst zu gestalten.

Doch auch die IG Metall im Land kann mit dem Abschluss belegen, dass man dem Anspruch gerecht geworden ist, die führende Organisation bei den Tarifverhandlungen zu sein.  „Das gehört zur DNA der IG Metall Baden-Württemberg“, hat Zitzelsberger bereits im Mai selbstbewusst verkündet und Ansprüche „auf den Piloten“ angemeldet. „Dabei waren die Chancen groß, dass man sich diesmal eine blutige Nase holen kann“, gibt der IG Metall-Chef zu. Er weist mit diesem Argument auch den Gedanken weit von sich, dass er den Pilotabschluss angestrebt habe, um seinen Vorgänger Jörg Hofmann nun auch in Frankfurt zu beerben. Im Herbst will die IG Metall neu bestimmen, wer sie dann als Chef anführt. Mit dem kniffligen Abschluss hat Zitzelsberger jedenfalls einigen Boden gut gemacht.

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