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Finanzierung > "Agenda Bundeswehr" vor dem Aus?

Bald ein Jahr nach der Scholz-Rede ist die Bundeswehr ärmer dran als zuvor

In der Ukraine tobt ein erbitterter Krieg, der in Deutschland das Bild von Rüstung und Verteidigung über Nacht umgekrempelt hat. Bundeskanzler Olaf Scholz versprach ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro, um die Bundeswehr aufzurüsten. Doch selbst ein knappes Jahr nach dieser historischen Rede zur „Zeitenwende“ ist aus diesem Topf noch kein Geld für Projekte abgeflossen.

Panzer auf Halde: 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr hat Olaf Scholz vor einem Jahr versprochen. Bei der Industrie, die Rüstungsgüter liefert, ist davon noch nichts angekommen.

„Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein „Sondervermögen Bundeswehr“ einrichten.“ So hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor knapp einem Jahr die „Zeitenwende“ für Deutschland angekündigt. Mit 100 Milliarden Euro sollte die heruntergesparte Bundeswehr wieder aufgerüstet werden. Zusätzlich zu den rund 50 Milliarden, die der Verteidigungsetat ohnehin zur Verfügung hatte. Ein Jahr danach sieht die Lage jedoch so aus: Die Bundeswehr wurde weiter dezimiert, denn sie hat – und wird – Panzer, Flugabwehr und jede Menge Gerät aus den vorhandenen Beständen an die Ukraine abgeben. Ersatz ist weit und breit aber nicht in Sicht.

 

Bei der deutschen Industrie sind Aufträge für Ersatzbeschaffungen jedenfalls zu vernachlässigen.

 

„Bis heute ist der Bestelleingang bei der deutschen Industrie aus dem Sondervermögen verschwindend gering“, bestätigt beispielsweise Susanne Wiegand. Sie ist in Augsburg Chefin von Renk, einem Unternehmen, das Getriebe für den Leopard 2 fertigt und alte wartet. Demnächst sollen 14 dieser modernen Kampfpanzer an die Ukraine geliefert werden – aus den Beständen des deutschen Heeres. Ersatz wurde nicht einmal angeschoben. Als Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit vertritt sie beim Bundesverband der Industrie die Rüstungsindustrie.  Entsprechend blickt sie weit über das eigene Unternehmen in Augsburg hinaus. Sie bringt auf den Punkt, was viele Betriebe in der Brache umtreibt: „Wir brauchen Planungssicherheit.“
Doch davon kann ein Jahr nach der historischen Ankündigung des Kanzlers keine Rede sein. Der Verband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) bestätigt, dass bei den Unternehmen bis heute so gut wie keine zusätzlichen Bestellungen eingegangen sind. Zwar bestehe in der Bevölkerung und in weiten Teilen der Politik Konsens. „Doch die Umsetzung dauert“, umschreibt ein BDSV-Sprecher in Berlin höflich den eigentlichen Feind der Branche: die deutsche Bürokratie. So hat es bis Juli gedauert, bis nach der Ankündigung des Kanzlers im Bundestag eine dazu notwendige Grundgesetzänderung vollzogen wurde. Davor hatten die Einkäufer der Bundeswehr keine Rechtsgrundlage, um überhaupt zusätzliches Geld ausgeben zu können.

 

Aber auch danach ist bei der Beschaffung des deutschen Militärs keine Eile ausgebrochen. Dabei weiß die Bundeswehr schon seit Anfang März 2022 ganz genau, was die Rüstungsindustrie sofort liefern kann und was länger dauert. Das wurde detailliert seinerzeit auf den Tisch gelegt. Dazu gehörte beispielsweise auch die Information von Rheinmetall, dass man über 100 ausgemusterte Marder-Schützenpanzer verfügt. Die Bundeswehr könne also sofort an die Ukraine liefern und bekäme aus diesen Beständen schrittweise Ersatz. Es ist Winter geworden, bis man sich überhaupt zu einer Lieferung an die Ukraine durchringen konnte. Insgesamt wartet die deutsche Rüstungsindustrie bis heute auf eine Erklärung der Bundeswehr, was, wann und in welchem Umfang wie schnell benötigt wird.

 

Noch peinlicher ist die Erkenntnis, dass man für den Flugabwehrpanzer Gepard keine ausreichende 35 Millimeter-Munition mitliefern kann.

 

Die kommt aus der Schweiz und die hatte den Export in die Ukraine verweigert. Jetzt baut Reinmetall eine neue Munitionsfertigung in Deutschland auf. Auch insgesamt ist die Bundeswehr bis auf wenige Schuss klamm. Glaubt man den Bundeswehrkennern, hat das deutsche Militär im Ernstfall nur Munition für zwei Tage. „Das deutsche Beschaffungswesen hat in Friedenszeiten die Mangelverwaltung perfektioniert“, stellt Wiegand fest. „Just in time“ umschreibt es der Verbandsprecher. Will heißen, dass in den vergangenen Jahren immer nur so viel beschafft wurde, um den kompletten Kollaps der Bundeswehr gerade noch zu vermeiden.

 

Das Thema Munition macht auch deutlich, dass Rüstung in den vergangenen Jahren wenig Beachtung bei den europäischen Regierungen fand. So verschießt die Ukraine derzeit mehr Munition, als der Westen überhaupt nachproduzieren kann. Der Norwegische Hersteller Nammo hat kürzlich gemeldet, dass die eigenen Kapazitäten um das Zehnfache überzeichnet sind. Allein die Regierung in Oslo hat dort Artilleriegeschosse im Wert von 240 Millionen Euro nachbestellt. Das Beispiel sollte die Einkäufer der Bundeswehr eigentlich hellhörig werden lassen. Denn viele europäische Armeen sind aktuell auf Beschaffungstour unterwegs. Auch in Deutschland. Wie sehr dort eingekauft wird, ist ein wohlgehütetes Geheimnis, das nicht einmal dem eigenen Verband verraten wird.

 

Bei der Bestellung bestimmen bisher mühsame Prozesse, Sonderwünsche – in der Branche gerne Goldrandlösung genannt – und ein schier undurchdringlicher Wirrwarr an Normen, Vorschriften und Bestimmungen das Geschehen. „Wir sind gefangen in den Fesseln dieser Bürokratie“, beschreibt der BDSV-Sprecher die Situation. Inzwischen befürchtet die Branche, dass die Bundeswehr am Ende im Ausland bestellt, um so den inländischen Vorschriften-Dschungel zu umgehen. Diese Furcht ist nicht so abwegig. So soll in den USA der Kampfjet F35 und ein neuer Transporthubschrauber gekauft werden. Die Wartung des Jets übernehmen die Amerikaner auch gleich, so dass auch dieses Geschäft an der deutschen Wirtschaft vorbeifliegt.

 

Während die Bürokraten träge darüber sinnieren, was sie mit den vielen Milliarden alles kaufen könnten, sitzen die Unternehmen aus heißen Kohlen. Wie Kapazitäten planen, wie viel Beschäftigte rekrutieren? Was gerne auch übersehen wird: Die Rüstungsindustrie fertigt meist Kleinserien. Die Unternehmen sind also auch für die Zulieferer keine Topadresse. Da kann es schnell eng werden. Allein das Getriebe, das bei Renk in Augsburg gefertigt wird, besteht aus 22.000 Einzelteilen. Chefin Wiegand versichert, dass ihr Unternehmen lieferfähig ist, weil man auf eigenes Risiko frühzeitig bei den Zulieferern Teile bestellt habe. Das kann sich nicht jedes der meist mittelständischen Unternehmen leisten. Wenn dann noch in Maschinenbau und Autoindustrie die Rezession überwunden ist, geraten die Rüstungsfirmen mit ihren Kleinbestellungen schnell ins Hintertreffen.

 

Probleme drohen beispielsweise beim Motor für den Loepard-2. Der kommt von MTU in Friedrichshafen am Bodensee. „Ich bezweifle, dass wir bei einer kurzfristigen Bestellung von 50 Panzermotoren lieferfähig wären“, meinte kürzlich MTU-Betriebsratschef Thomas Bittelmeyer. Bis 2024 ist die Kapazität für die Bundeswehr auch ohne Nachbestellungen ausgebucht. Und dennoch geht in Friedrichshafen die Angst um. Hintergrund sind Probleme des Mutterkonzerns Rolls Royce Power Systems, der auch bei seinen Töchtern mehr Profit sehen und gleichzeitig weniger investieren will. Aus Sicht des britischen Konzerns machen die Panzermotoren nur neun Prozent des Umsatzes aus. Entsprechend konzentriert man sich auf die Geschäfte, die mehr einbringen – und besser planbar sind. Für den neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gilt es am Bodensee ein dringendes Problem zu lösen, will er seine Panzerflotte wirklich nachhaltig auf Vordermann bringen. Denn aktuell ist ein Sechstel der Panzertruppe nicht einsatzfähig. Die 14 Leoparden für die Ukraine noch gar nicht mitgezählt.

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