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Putin braucht einen Ausweg

Deutschland versinkt im Hurra-Patriotismus. Doch wer im Schützengraben liegt, kann nicht argumentieren. Wir brauchen das rote Telefon zum russischen Diktator genauso dringend, wie er selbst. Doch wo steht es?

rotes Telefon
Wo steht das rote Telefon?

Sanktionen, was das Arsenal zu bieten hat, Aufrüsten, was die Fabriken hergeben, Putin die
Beißzähne zeigen, ihn einen Lügner und Betrüger zu nennen, ihn vor den Strafgerichtshof
zerren zu wollen – es besteht kein Zweifel: Deutschland und EU-Europa sind in den
Schützengraben gestiegen. Es heißt: Die Freiheit gegen einen Diktator zu verteidigen, der
keine andere Sprache mehr als die der Waffen versteht. Das ist nur zu verständlich. Es heißt
aber auch: Der Gesprächsfaden ist gerissen. Mit Putin wird nicht mehr verhandelt. Und das ist
ein Fehler von historischem Ausmaß.

Wie ein Rausch zieht der Patriotismus durch Städte und Dörfer. Er weht, ja er stürmt seit der
historischen Debatte im Bundestag vom Sonntag wieder durch Deutschland. Er fühlt sich an,
wie das, was Historiker über den Ausbruch des ersten Weltkriegs berichten, und was sich im
Satz Kaiser Wilhelms II. auf den Punkt gebracht findet: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich
kenne nur noch Deutsche.“ Worin diese trunken machende nationale Einigkeit vor mehr als
100 Jahren geführt hat, wissen wir: Im Westen war darauf nichts Neues mehr möglich.
Warum sind wir dennoch drauf und dran, in alte verhängnisvolle Muster zu verfallen? Auch
kalte Krieger brauchen kühle Köpfe. Und wenn schon Verständigung nicht mehr möglich ist,
so muss doch ein rotes Telefon im Kanzleramt stehen bleiben, das die Nummer des Feindes
gespeichert hält. Doch wo steht es?

Putin, so sieht es aus, hat die Entschlossenheit der Ukrainer unterschätzt. Er hat die
Symbolkraft dieses Landes und die Strahlkraft seiner politischen Führer auf die eigenen
Leute, auf Europa und die freie Welt in seinem Kalkül falsch berechnet, und das erweist sich
für ihn jetzt als gefährlich. Jeder Schritt scheint ihn aus westlicher Sicht tiefer in eine Schlucht
zu führen, die keinen Ausgang hat. Doch anstatt zu applaudieren, muss irgend jemand
überlegen, wer ihm das Seil hinunterlassen kann.

"Wir müssen“, twitterte am Sonntagabend der Co-Direktor der britischen Nuklear-Aufsicht
James Acton, "Putin eine Ausfahrt geben.“ Sie solle darin bestehen, die Aufhebung der
Sanktionen in Aussicht zu stellen, sobald der Vorkriegszustand wieder hergestellt sei. Acton
ist gelernter Physiker. Solche Leute wissen viel über Druck und Gegendruck. Und vorsichtige
Physiker haben dafür das Ventil erfunden. Genau das fordert Acton.

Wir sollten uns dem anschließen. Was wir brauchen, ist die Tugend des Verstehens.
Verhandeln können immer nur die, die sich in die andere Seite hineinversetzen können, ohne
ihren eigenen Standpunkt deswegen aufzugeben. Wir brauchen Putin-Versteher, die deswegen
nicht gleich zu Putin-Verteidigern werden. Gerhard Schröder könnte zum Beispiel so einer
sein. Er hat Putins Handy-Nummer. Anstatt ihn aus der Partei zu werfen, sollte die
Kanzlerpartei ihn zum Sonderbotschafter ernennen. In der Raserei der Selbstgerechtigkeit
übersehen wir schnell die, die noch einen Draht zum Feind haben. Genau der aber ist
überlebensnotwendig. Denn am Ende heißt das einzig mögliche Ziel jeder
Auseinandersetzung: friedliche Koexistenz. Ob mit oder ohne Putin spielt dabei keine Rolle.

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