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Die Über-Akademisierung führt uns ins Abseits

Eine Million fehlende Fachkräfte bedrohen die Zukunft des Handwerks in Deutschland. Mit dringenden Worten fordert Henning Hanebutt zum Handeln auf, bevor es zu spät ist.

Henning Hanebutt, Geschäftsführer in 3. Generation. © Hanebutt GmbH

In den vergangenen Jahren ist in Deutschland vieles „ins Wanken geraten“. Dazu gehört auch das Verhältnis zwischen akademischen Berufen und handwerklichen Tätigkeiten. Bereits heute fehlen eine Million Fachkräfte im Handwerk, viele Betriebe stehen aufgrund der Nachfolgeproblematik vor dem Aus. Es ist Zeit für einen Strategiewechsel, fordert Gastautor Henning Hanebutt, Geschäftsführer eines der größten familiengeführten Handwerksunternehmens im deutschsprachigen Raum.

Müssen Fliesenleger, Sanitärexperten und Malerinnen erst mit ihren Fahrzeugen und Werkzeugen Verkehrsblockaden erzeugen, um wie die Bäuerinnen und Bauern hierzulande politische Aufmerksamkeit zu erlangen? Nun könnte man einwenden: Warum denn? Dem Handwerk geht es doch offenkundig gut. Kundinnen und Kunden müssen oft wochen- bis monatelang auf einen Termin warten, die Auftragsbücher sind ähnlich voll wie die Wartelisten beim Orthopäden. Handwerk, so könnte man meinen, lebt heute nicht auf goldenem Boden, sondern badet in Saphiren, Rubinen oder Smaragden.

Was nützt die beste Auftragslage, wenn Nachfolger fehlen?

Zu fantastisch, um wahr zu sein. Handwerksbetriebe stehen wirtschaftlich in der Regel ordentlich bis gut da. Doch das ist nur eine Momentaufnahme und sagt nichts darüber aus, wie es mit den Unternehmen weitergeht. Die schönste Auftragslage heute hilft nicht weiter, wenn morgen der Betrieb schließen muss. Diese Gefahr ist real – und sie wird in den kommenden Jahren für immer mehr Handwerksbetriebe zwischen Lausitz und Ruhrgebiet, Nordseeküste und Alpenvorland   konkreter werden.

Grund dafür ist die Fachkräftelücke. Es fehlen schlicht die Menschen, die in den nächsten Jahren Elektroleitungen verlegen, Sanitäranlagen installieren oder dringend benötige Solarmodule auf Deutschlands Dächer schrauben könnten. Laut Zahlen des Zentralverbands des Deutschen Handwerks fehlt aktuell bereits eine Viertelmillion Fachkräfte im Handwerk. Rund 20.000 Ausbildungsplätze bleiben im Durchschnitt Jahr für Jahr unbesetzt. Jeder dritte Handwerksbetrieb war 2022 trotz schwieriger Gesamtkonjunktur laut einer Umfrage des Handwerksverbands auf der Azubi-Suche – meist vergeblich. Die Folge: 125.000 Betriebsnachfolgen in den nächsten Jahren sind noch immer ungeklärt, weil dem alternden Chef oder der alternden Chefin niemand aus der Familie, der Belegschaft oder von außerhalb an der Spitze nachfolgen kann oder will.

Grabenkämpfe zwischen Studium und Ausbildung beenden

Um es klipp und klar auf den Punkt zu bringen: Handwerkerleistungen sind gefragt. Doch den Beruf erlernen wollen immer weniger junge Menschen. Im Gegensatz dazu boomt das Studium: Laut Datendienst Statista sind im laufenden Wintersemester rund 2,87 Millionen Menschen an Deutschlands Hochschulen eingeschrieben. Das sind zwar rund 70.000 weniger als im Spitzen-Wintersemester 2021/2022 – aber immer noch rund 400.000 mehr Studentinnen und Studenten als etwa im Wintersemester 2012/2013, meldet Statista.

Im festen Glauben, ihren Kindern das Beste bieten zu wollen, schicken deutsche Eltern ihre Sprösslinge entschlossen auf Fachhochschulen oder Universitäten. Ob sie ihnen dabei immer gerecht werden, ist eine ganz andere Frage.  Die Quote der Studienabbrecherinnen und -abbrecher liegt in Deutschland seit Jahren auf einem hohen Niveau; besonders hoch ist sie in den naturwissenschaftlichen Fächern in den ersten Semestern der Bachelor-Studiengänge.

So richtig und wichtig ein hoher akademischer Anteil für die Zukunft einer modernen Volkswirtschaft ist, so sehr führt uns die Über-Akademisierung als Standort aber auch ins Abseits. Es bedarf jetzt einer echten Gleichwertigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung in materieller und ideeller Hinsicht. Deutschland braucht ausreichend beruflich qualifizierte Fachkräfte, um den Herausforderungen der Zukunft begegnen zu können.

Nicht ganz unschuldig am Trend „weg aus dem Handwerk“ ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. In ihrem jährlichen Bericht „Education at a Glance“ betonte die OECD wiederholt die hervorgehobene Bedeutung der akademischen Bildung gegenüber der beruflichen Bildung – und begründete das mit dem Strukturwandel der Wirtschaft zu einem idealistischen Bild der Wissensgesellschaft. Das Abitur sowie das Studium wurden als Grundlage für eine Wissensgesellschaft hervorgehoben. In der Folge orientierte sich die Bildungspolitik auch in Deutschland zunehmend an dieser OECD-Vorgabe. Der Erwerb theoretischen Wissens wurde als vorrangiges Bildungsziel ausgegeben – Hochschulen (seit 2005 von 370 auf 421) und Studiengänge (seit 2005 von 11.200 auf 21.000) wurden umfassend ausgebaut. Als Folge dieser Bildungspolitik liegt mittlerweile die Zahl der jungen Menschen, die nach der Grundschule an Gymnasien wechseln, in Deutschland bei mehr als 40 Prozent.

Die Studienanfängerquote hat sich von rund 30 Prozent im Jahr 2000 auf 40 Prozent 2010 und sogar auf rund 50 Prozent im Jahr 2020 erhöht. Gleichzeitig ist die Bevölkerung im ausbildungsrelevanten Alter in diesem Zeitraum um rund eine Million zurückgegangen. „Die Qualifikationsstruktur der am Arbeitsmarkt nachgefragten Stellen hingegen zeigt sich stabil: Jeweils circa ein Fünftel der Stellen entfallen auf Helfer- oder akademische Qualifikationen, 60 Prozent auf beruflich qualifizierte Fachkräfte“, meldet der Zentralverband des Deutschen Handwerks.

Deutschland bilde massiv am Bedarf vorbei aus

Um es klar zu formulieren: Wir nehmen es seit Jahren hin, dass wir zu einem nennenswerten Teil am Bedarf des Arbeitsmarkts vorbei ausbilden. Nun geht es hier nicht darum, das Studium zu verteufeln. Auf gar keinen Fall. Es geht darum, das Image des Handwerks zu verbessern und aus dem Gegeneinander und den Grabenkämpfen zwischen Kopf- und Handwerkern ein Miteinander auf Augenhöhe zu erschaffen.

Wesentlich dafür ist ein Imagewandel. Viele Handwerksunternehmen haben ihren Teil dazu in den vergangenen Jahren beigetragen. Auch wenn eine Homeoffice-Quote wie bei Bürotätigkeiten im Handwerk per Definition schwer umzusetzen ist, so haben Handwerksbetriebe in den vergangenen Jahren massiv an den Arbeitsbedingungen gearbeitet: Vier-Tage-Wochen bei vollem Lohnausgleich, Förderprogramme für weiblichen Nachwuchs, attraktive Weiterbildungs- und Aufstiegschancen – das Handwerk ist in all diesen Feldern längst konkurrenzfähig und bietet in der Regel weit bessere Work-Life-Balances als mancher Großkonzern. Auch im Bereich der Digitalisierung steht das Handwerk den akademischen Berufsfeldern durchaus in nichts nach. Digitale Berichtshefte für Auszubildende, die Drohnen-gesteuerte Dachinspektion und Vermessung gehören heute zum Standard in der Dachdeckerei.

Auch die Politik ist dabei gefragt. Sonntagsreden auf Handwerksmessen allein helfen angesichts der Dramatik des Fachkräftemangels in den rund 130 deutschen Handwerksberufen nicht mehr weiter. Auf die Einsicht im aktuellen Koalitionsvertrag muss jetzt Aktion folgen. Konkret geht es etwa darum, die beschlossene „Exzellenzstrategie“ endlich für die berufliche Bildung umzusetzen. Nur so kann es gelingen, Toptalenten eine Alternative zur akademischen Ausbildung anzubieten. Gerade aus diesem Kreis dürfen sich viele potenzielle Unternehmensnachfolger und -gründer rekrutieren lassen. 

Zudem gilt es, im Verbund aller Kräfte die Basisarbeit zu intensivieren, um möglichst frühzeitig eine möglichst große Zielgruppe zu erreichen und für eine Ausbildung im Handwerk zu gewinnen. Dazu gehören die rechtzeitige Berufsorientierung in den Schulen, die Entwicklung neuer Bildungsinstrumente, die Beratung von Studienabbrechern, die Ansprache von leistungsschwächeren Jugendlichen speziell mit Migrationshintergrund sowie die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt.

Zum Autor

Henning Hanebutt führt die Hanebutt Gruppe aus dem niedersächsischen Neustadt am Rübenberge in mittlerweile vierter Generation. Das Unternehmen mit einer mehr als 90-jährigen Geschichte hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der größten familiengeführten Handwerksbetriebe im DACH-Raum entwickelt – mit 14 Niederlassungen an zehn Standorten und beschäftigt heute rund 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
 

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