Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Firmen-News > Gastbeitrag

Agil, nein danke? Mittelständische Unternehmen zwischen traditionellem und agilem Management

Wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und technologischer Wandel erfordern bewegliche Organisationen und Prozesse. Kurz: Agilität.

Quelle: shutterstock

Mehr als 20 Jahre nach der Veröffentlichung des agilen Manifests stellt sich die Frage: Ist das Thema für den Mittelstand noch relevant, oder gehört es in die Mottenkiste?


Von Julia Lettinger, Mittelstandsberaterin und Dozentin für strategisches Management
 

Laut einer aktuellen Telekom-Studie (Digitalisierungsindex Mittelstand 2021/2022) befindet sich der deutsche Mittelstand mitten in der digitalen Transformation, mit einem Digitalisierungsgrad von 59 von 100 möglichen Punkten. Digitale Transformation bedeutet allerdings nicht nur die Einführung digitaler Tools. Digitale Transformation heißt: Entwicklung neuer Geschäftsanwendung, die digitalisierte Daten und Anwendungen integrieren. Dieser Prozess hat drei Dimensionen:

  1. Einsatz von modernen digitalen Tools und IT-Systemen, um Daten zu erfassen und Prozesse (stärker) zu automatisieren.
  2. Die Einführung dazu passender Arbeitsmethoden, um Organisation, Prozesse und Rollen an die neuen Anforderungen anzupassen.
  3. Die Investition in Mitarbeiter, um Mindset, Wissen und Unternehmenskultur an veränderte interne und externe Rahmenbedingungen anzupassen.

Punkt 2.  und 3.  bedeuten, die Organisation auch agil zu transformieren. Agilität dabei steht für ein Set von Arbeitsmethoden, Führungsstrukturen und Denkansätzen, die Unternehmen helfen, sich in dynamischen und volatilen Geschäftsumfeldern und Märkten erfolgreicher zu behaupten. Agile und digitale Transformation werden deshalb oft in einem Atemzug erwähnt. Denn in vielen Fällen ist eine wirkliche digitale Transformation ohne eine parallele agile Transformation nicht möglich. 

Warum überhaupt Transformation?


Selten sahen sich Unternehmen und Individuen so vielen rasch fortschreitenden und schwer einzuschätzenden Umwälzungen gegenüber wie heute. Das wirtschaftliche Umfeld ist geprägt von disruptiven Technologien (KI) und globalen Entwicklungen (neue oder wiederaufflammende Konflikte, Verschiebung politischer Mehrheiten). Dazu kommen gesellschaftliche (Fachkräftemangel, demographischer Wandel), technologische (fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung) und ökologische (Dekarbonisierung der Wirtschaft) Transformationen. 

Die Entwicklung und Umsetzung wandlungs- und anpassungsfähiger Strategien ist in einem solchen Umfeld mehr denn je entscheidend für Wettbewerbs-, Innovations- und Zukunftsfähigkeit, kurz: Das wirtschaftliche Überleben des Unternehmens. 
 

Agilität im Unternehmenskontext: Langfristige Planbarkeit war gestern


Agilität im Unternehmenskontext bedeutet eine Abkehr von den traditionellen und eher starren Managementkonzepten der 80er und 90er. Die traditionellen BWL-Konzepte der langfristigen strategischen Planung nach der Wasserfall-Methodik haben als theoretische Grundlage die Fließbandfertigung und sind heute oft nicht mehr dynamisch genug. Denn die unternehmerische Wirklichkeit ist nicht (mehr) so planbar, wie sie es einmal war oder zumindest schien. 

Schnelligkeit und globale Abhängigkeiten haben die systemische Unsicherheit der heutigen Märkte erhöht, so dass langfristige unternehmerische Planungen schon Wochen nach Fertigstellung überholt sein können. VUKA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) lautet der Fachbegriff für diese neue Wirklichkeit, mit der auch der Mittelstand konfrontiert ist. Agile Methoden sind Meta-Regelwerke, die zwar einen Rahmen vorgeben (z.B. beim Scrum in Form von Rollen, Ritualen und Artefakten), aber keinen Schritt-für-Schritt Plan, der „komme was wolle“ abzuarbeiten ist. Das von acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften) vorgegebene Ziel der Zukunft für die deutsche Wirtschaft ist das lernende agile Unternehmen.


Wie sieht es mit der Agilität im Mittelstand aus?


Die agilen Werte, erstmalig von amerikanischen Softwareentwicklern im agilen Manifest festgehalten, sind mehr als 20 Jahre alt. Und trotzdem ist Deutschland bei der Anwendung agiler Methoden mit 45 Prozent laut einer Studien der Hochschule Karlsruhe Schlusslicht im Agile-Methoden Index, weit hinter China (88 Prozent) und Indien (82 Prozent).
 
Doch wie steht es um das Thema Agilität im klassischen Mittelstand? In einer Studie der IUBH zum Thema Agilität im Mittelstand gaben über 75 Prozent der befragten mittelständischen Unternehmen an, eine agile Strategie zu verfolgen. Der Mittelstand scheint den Wert von Agilität zur Sicherung seiner Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft zu erkennen. In der Umsetzung vorn liegt laut Eigenauskunft in der Studie das verarbeitende Gewerbe.


Hilft agile Unternehmenskultur dem Mittelstand bei der Mitarbeitergewinnung in Zeiten des Fachkräftemangels?


Wie bereits erwähnt, ist eine der drei Säulen der digitalen Transformation die Investition in Mitarbeiter um Mindset, Wissen und Unternehmenskultur an veränderte interne und externe Rahmenbedingungen anzupassen. Gleichzeitig kommt der Mitarbeiterbindung in Zeiten des Fachkräftemangels insbesondere auch im Mittelstand große Bedeutung zu. Dabei spielen neben Gehalt und Incentives, Wertschätzung, Weiterbildungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Gerade letztere werden von Mitarbeitern zunehmend auch eingefordert. Dazu gehört auch die Weiterbildung von Mitarbeitern, etwa in agilen Arbeitsmethoden und Mindsets. 

Das muss nicht immer in teuren Fortbildungskursen vor Ort erfolgen. Nicht umsonst boomen E-Learning Angebote wie zum Beispiel Udemy mit Kompaktkursen, die sich gezielt an mittelständische Unternehmen richten und sie in die Lage versetzen, Transformationsprozesse zu meistern. Das Credo der Agilität lautet: Kontinuierliche Verbesserung. Das inkludiert auch kontinuierliches Lernen. Die klassische jährliche Vor-Ort-Schulung reicht dazu nicht mehr aus. Aufgrund der Schnelligkeit der digitalen Märkte ist auch der Bedarf an schneller ad-hoc Weiterbildung gestiegen. Zugang zu neuestem Wissen in digitaler und rund um die Uhr verfügbarer Form ist heute unerlässlich.

Spricht etwas dagegen?


Agilität ist nicht für jedes Unternehmen und jedes Projekt geeignet. Eine Bedarfsanalyse muss individuell erfolgen. Die sogenannte Stacey-Matrix kann, angewendet in Kombination mit dem  Cynefin-Framework, dabei helfen: Sie klassifiziert Projekte nach der Beschreibbarkeit der Anforderungen und der Bekanntheit des Lösungswegs. Diese Spanne reicht von einfach über kompliziert und komplex bis chaotisch. 

Das heißt konkret: Agile Methoden sind bei Projekten mit ungenauen Anforderungen und unklarem Lösungsweg (also komplexe oder chaotische Situationen) sinnvoll. Sind die jeweiligen Anforderungen und der Lösungsweg vollkommen klar, braucht es keine agilen Methoden.

 
Change Management im Mittelstand


Eine agile Transformation kann von der Geschäftsführung (von oben = top down) initiiert oder durch einzelne Teams als Vorreiter (von unten = bottom up) angestoßen werden. Das klassische Vorgehen beim Change Management ist ein Top-Down-Ansatz, zum Beispiel das acht Phasen-Modell nach Kotter. In der Praxis ist ein Bottom-Up-Ansatz jedoch oft leichter durchzuführen, zum Beispiel in Clustern. Dabei kann jeder Mitarbeiter, jedes Team oder jeder Bereich den Transformationsprozess im eigenen Einflussbereich starten und nach und nach andere Teams und/oder die Geschäftsführung einbinden.
 
Durch diesen Cluster-Ansatz wird agile Methodenkompetenz und Mindset nach und nach „von unten“ im Unternehmen verbreitet. So können sich ganz im Sinne des Circle of Influence nach Stephen R. Covey agile Mindsets und Methoden im Unternehmen verbreitet, ohne dass ein agiler Change Prozess jemals offiziell ausgerufen wurde. Diese Methode ist für den Mittelstand interessant, denn sie erlaubt es zu testen, ob und welche agilen Methoden überhaupt zum Unternehmen passen und ob sie die gewünschten Ergebnisse bringen. Sie kann zudem helfen, Ängste vor dem Wandel abzubauen. 
 

Fazit
 

Ursprünglich aus der Softwareentwicklung stammend, finden agile Methoden in bestimmtem Umfang heutzutage in nahezu jedem Unternehmen Anwendung, da digitale Präsenz zur Norm geworden ist, oder, wie es ein Unternehmer formulierte: „Jedes Unternehmen ist heute ein Software-Unternehmen“. Nicht umsonst zeigen Studien, dass sich nahezu der komplette deutsche Mittelstand mitten im digitalen und damit einhergehend auch im agilen Transformationsprozess befindet. Erfolg ist im Mittelstand noch stärker von Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Innovationsstärke abhängig als in Unternehmen mit größeren Ressourcen. Gleichzeitig sind genau diese Themen auch die Stärke des Mittelstandes. Das agile Mindset passt damit perfekt zum Innovations-Mindset des deutschen Mittelstandes und sollte definitiv noch nicht in die Mottenkiste.

Infokasten: Welche agilen Methoden für was?


Es gibt tausende von agilen Methoden, und es werden täglich mehr. Jedes Unternehmen muss für sich entscheiden, welche Methoden aus dem agilen Methodenkoffer es für welchen Zweck und in welchem Bereich verwendet möchte. Ein INQA Coaching für mehr Agilität im Mittelstand, momentan vom BMAS gefördert, kann hier eine erste Orientierungshilfe sein.

Die wichtigsten und bekanntesten agilen Methoden im Überblick:

 

  1. Innovationsmethoden wie das Design Thinking und Design Sprints: „Design Thinking ist eine systematische Herangehensweise an komplexe Problemstellungen. Im Gegensatz zu vielen Herangehensweisen in Wissenschaft und Praxis, die Aufgaben von der technischen Lösbarkeit her angehen, steht hier der Mensch im Fokus”. Quelle: Hasso-Plattner Institut.
  2. Organisations- und Projektmanagement: Methoden wie Scrum (inklusive Skalierungsframeworks) und Kanban. Scrum ist „eine Methode, Arbeit in einem Team in kleinen Teilen zu erledigen, mit kontinuierlichem Experimentieren und Feedbackschleifen, um auf dem Weg zu lernen und sich zu verbessern. Scrum hilft Menschen und Teams dabei, Werte schrittweise auf kollaborative Weise zu liefern.“ Quelle: Scrum.org
  3. Transformationsmethoden wie Objektives and Key Results sowie Management 3.0: „Objectives and Key Results (OKR) sind ein Rahmenwerk für agiles Management von Organisationen, das aus der Unternehmensstrategie Teilziele von Teams und Mitarbeitern ableitet und einen kurzfristigen Fokus auf das nächste Quartal legt.“

Quelle: Wirtschaftslexikon.gabler.de
 

Über die Autorin


Julia Lettinger ist Expertin für die Umsetzung agiler Methoden und verfügt über langjährige Managementerfahrung aus den Branchen Technologie, Digitalwirtschaft, Medien und Telekommunikation. Sie ist Gründerin der Unternehmensberatung Responsive Strategy, autorisierte Mittelstandsberaterin (BAFA, Offensive Mittelstand) und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales autorisierter agiler Coach für KMUs (INQA - Initiative Neue Qualität der Arbeit).

Als Dozentin für strategisches Management an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) sowie auf der digitalen Lernplattform Udemy bildet sie offline und online Management-Nachwuchs sowie Fachkräfte auf dem Weg in Führungsverantwortung aus. Ihr Schwerpunkt ist dabei die Verbindung von klassischen Elementen der Unternehmensstrategie mit modernen Strategiemethoden und agilem Projektmanagement. Ihre Kunden sind vorwiegend kleine und mittelständische Unternehmen, bei denen Innovation und digitale Transformation höchste Priorität hat.