Azubis als Chefs von morgen: Wie Unternehmen ihren Nachwuchs langfristig an sich binden
Entdecken Sie, wie unkonventionelle Methoden wie Reverse Mentoring und innovative Projekte Unternehmen helfen, Auszubildende zu binden.
Bei der Paul Horn Werkzeugfabrik aus Tübingen ist Tag eins der Ausbildung nicht am 1. September. „Der Kennenlerntag ist sechs bis acht Wochen vorher“, berichtet Patrick Wachendorfer, Ausbildungsleiter und Leiter der firmeneigenen Horn-Akademie.
Dann gibt es einen Termin für die Kleideranprobe in den Sommerferien. „Da können die neuen Auszubildenden ins Haus kommen und ihre Kleidung und Sicherheitsschuhe bekommen – das machen auch eigentlich alle.“
Anfang September kommt dann erst einmal das in vielen Unternehmen übliche: Die Geschäftsführung stellt sich vor, der Betriebsrat, die Jugend- und Auszubildendenvertretung, ein paar ältere Azubis. Es gibt ein gemeinsames Mittagessen. „Und natürlich die Sicherheitseinweisung – das ist für die Zertifizierung nötig“, sagt Wachendorfer. Am nächsten Tag folgen Kennenlernspiele, ein bisschen Theorie.
Acht bis zehn Wochen bleiben die neuen Auszubildenden – in diesem Jahr 29 – nach dem Start zusammen. Die meisten lernen Industriemechaniker, auch Mechatroniker und andere technische und kaufmännische Berufe sowie etwa Maschinenbauer im dualen Studium.
Ihr erster Job in der Zeit: die Mitarbeit an dem jährlichen Projekt, das die Azubis in Eigenregie abwickeln – gemanagt von den Azubis im zweiten Lehrjahr. „Damit machen wir sie natürlich auch gleich zu Beginn ein bisschen heiß auf das, was da noch kommt“, freut sich Wachendorfer.
Das berühmt-berüchtigte Pedal Car etwa, „entwickelt, gebaut und gefahren von Horn-Azubis“, verkündet die Horn-Akademie stolz auf ihrer Seite. Nicht irgendwo, sondern beim Great British Pedal Car Grand Prix im englischen Ringwood. Orchesterinstrumente haben die Azubis schon gebaut, einen VW-Beetle getunt, einen Grill sowie Kryostempel für die Behandlung von Neu- und Frühgeborenen – und damit an Wettbewerben der Metallbearbeitungsmesse AMB teilgenommen. Seit 2011 gehören die Projekte fest zur Ausbildung. Die Azubis sind voll verantwortlich, bekommen natürlich Rat und Hilfe.
Und dann gilt es noch, die einmal gewonnenen Azubis auch zu halten
Unternehmen müssen sich schon lange nicht mehr nur etwas einfallen lassen, um junge Menschen als Auszubildende zu gewinnen. Die Zeiten, in denen es zu wenig Lehrstellen für die vielen Jugendlichen gab, sind vorbei. Seit Jahren kämpfen Betriebe damit, ihre Ausbildungsstellen überhaupt besetzen zu können.
2023 blieben bundesweit 73.444 ausgeschriebene Ausbildungsstellen offen. Die Zahl stieg zum vierten Mal in Folge, wie der Berufsbildungsbericht der Bundesregierung zeigt.
Die Zahl der neu geschlossenen Ausbildungsverträge stieg 2023 um drei Prozent auf 489.183 – immer noch 6,8 Prozent weniger als 2019 vor Ausbruch der Corona-Pandemie und 13,3 Prozent weniger als 2009.
Und dann gilt es noch, die einmal gewonnenen Azubis auch zu halten. Ebenfalls auf absolutem Höchststand ist die Zahl der Ausbildungsabbrüche. 155.325 waren es 2022 dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zufolge.
Der Anteil der gelösten Verträge stieg damit auf 29,5 Prozent. Üblich waren vorher jahrelang 25 Prozent.
- Ein Drittel der Jugendlichen löste den Ausbildungsvertrag in der Probezeit,
- ein weiteres Drittel im ersten Ausbildungsjahr.
Besonders oft enden Verträge im Handwerk vorzeitig (2022: 36,7 Prozent), in den Ausbildungsberufen der Freien Berufe (34,7 Prozent) sowie der Hauswirtschaft (32,6 Prozent).
Technisch sind das nicht alles Ausbildungsabbrüche, bei denen Jugendliche am Ende ohne erfolgreichen Abschluss dastehen. Viele Azubis wechseln lediglich den Betrieb oder Beruf. Mindestens die Hälfte unterzeichnete einen anderen Ausbildungsvertrag. Doch natürlich ist jedem Betrieb daran gelegen, möglichst viele der ausgesuchten Nachwuchskräfte auch zur benötigen Fachkraft heranzuziehen.
„Unternehmen, die in einer Bandbreite von Berufen ausbilden, haben Vorteile“, ist Balint Sulko überzeugt, Ausbildungsleiter bei Samson in Frankfurt am Main. Das Unternehmen entwickelt und baut Ventile und Automationstechnik. „Wenn wir beispielsweise sehen, dass einer der Auszubildenden sich etwas anderes vorgestellt hat, oder wir aus irgendeinem Grund den Eindruck haben, er passe woanders besser hin, können wir sagen ‚Guck dir doch mal vielleicht den oder den Alternativbereich an‘‘‘, erklärt er. „Dass jemand vom Mechatroniker zum Industriemechaniker gewechselt hat, ist bei uns schon vorgekommen.“
Auch bei Samson beginnt die Vorbereitung vorab. „Praktisch mit der ersten E-Mail und der Bewerbung sind wir im Onboarding“, sagt Sulko. Auch hier ist ein Begrüßungstag vier Wochen vor Ausbildungsbeginn angesetzt. An den ersten zwei Tagen der Einführungswoche im Unternehmen lernen sich alle kennen und welche Wertschöpfungstiefe das Unternehmen hat. „Und dann machen wir immer eine dreitägige Einführungsfahrt mit den Jugendlichen“, sagt der Ausbildungsleiter.
Es geht zu Kunden und Tochtergesellschaften, wo es durch die Werke geht. „Ventile sind abstrakt für junge Menschen. Die sehen also erst einmal, was wir für Produkte haben und was mit unseren Produkten passiert.“ Wie die Fahrt verläuft, was genau gemacht wird, all das planen ältere Azubis für die Neueinsteiger, eine Projektgruppe mit je einem Jugendlichen aus jedem Ausbildungsbereich. „Dieses Jahr waren wir in Leipzig, nächstes Jahr geht es nach Nürnberg“, sagt Sulko.
Atmosphäre und Arbeitskultur
Wichtig sind dem Familienunternehmen auch die Atmosphäre, das Miteinander und die Arbeitskultur. „Je mehr die jungen Leute gleich von Beginn an das Gefühl haben, dass sie sich bei uns an eine ganze Fülle von Personen wenden können, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nicht im Fall der Fälle kommentarlos vor vollendete Tatsachen gestellt werden“, sagt Sulko. Probleme kämen immer wieder mal vor. Stress mit der Freundin, finanzielle Schwierigkeiten – etwa, wenn Jugendliche schon von zu Hause ausgezogen sind. „Gelegentlich sind das auch mal gravierendere Themen“, sagt der Ausbildungschef. „Häufig wissen diese ja oft erst 16- und nur vereinzelt mal 21- oder 22-Jährigen auch selbst nicht so genau, wie sie mit der Situation umgehen sollen.“
Auf Vertrauen bauen
Vertrauensverhältnis ist das Zauberwort. Und Begleitung, beispielsweise bei der Gruppe geflüchteter Jugendlicher, die 2015 bei Samson angefangen hat, und auch bei anderen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die jedes Jahr starten. „Wir bieten Sprachkurse an, auch mal Förderunterricht, wir begleiten die Jugendlichen zu Ämtern, wenn nötig“, sagt Sulko. In diesem Jahr starteten 36 Auszubildende bei Samson.
Natürlich hätten kleine Unternehmen mit vielleicht nur einem oder wenigen Auszubildenden es im Verhältnis schwerer, ein attraktives Ausbildungsangebot zu machen als Konzerne oder auch größere Mittelständler, gibt Sabine Beck zu. Sie arbeitet bei der Quabb-Koordinierungsstelle (Qualifizierte Ausbildungsbegleitung in Betrieb und Berufsschule) für Hessen in Offenbach. Aber alle könnten mit den jungen Leuten sprechen, für ein gutes Arbeitsklima sorgen und im Kontakt bleiben.
Quabb berät Auszubildende und Ausbildungsbetriebe seit 15 Jahren. Inzwischen gibt es ein umfangreiches Paket an Tipps für Ausbildende, das auch Unternehmen außerhalb Hessens über www.quabb-hessen.de nutzen können. Darin geht es um die Gründe für mögliche Probleme.
Frühwarnsignale, die Ausbilder kennen sollten, Tipps für den Umgang mit Ausbildungsklassikern wie etwa Verspätungen, ungepflegtes Äußeres oder unhöfliches Auftreten, aber auch zu Handynutzung, Suchtproblemen, sexueller Belästigung.
Die Europäischen Union und das Land Hessen fördern Quabb. „Chefs und Ausbilder wie auch die Jugendlichen können sich natürlich auch für Beratung bei Problemen in der Ausbildung an uns oder eine Beratungsstelle in ihrem Bundesland wenden“, sagt Beck. Möglichst früh, wenn Probleme noch leichter zu lösen sind.
Damit eine begonnene Ausbildung gelingt, kommt es Beck und ihren 50 Quabb-Kolleginnen und Kollegen zufolge vor allem auf eine gute Kommunikation an. „Die sogenannte Generation Z will auf Augenhöhe angesprochen werden“, beobachtet Beck seit Jahren, „also auch in Entscheidungen einbezogen werden.“ Egal, ob es gerade um Überstunden geht oder darum, wie Dinge im Betrieb gemacht werden. „Sie wollen es gern erklärt bekommen, um zu verstehen“, sagt Beck. Und die jungen Auszubildenden wünschen sich Feedback. Das fehlt oft, gerade in den Fällen, in denen es dann auch Schwierigkeiten gibt. Dabei sei es ganz entscheidend, um zu lernen und sich entwickeln zu können. „Die jungen Leute wollen die Dinge richtig und genau machen und wollen dafür natürlich auch wissen: Bin ich auf dem richtigen Weg?“ erklärt Beck.
Teufelskreis vermeiden
„Da rein müssen Betriebe bewusst investieren“, weiß Carola Bremer, die als Ausbildungsbegleiterin für Quabb beim Verein Fresko in Wiesbaden tätig ist. Sie hat selbst 25 Jahre lang als Ausbilderin, unter anderem im Handel, gearbeitet.
„Was leider viel zu oft vorkommt, ist, dass junge Auszubildende buchstäblich allein gelassen werden“, sagt sie. Das überfordere sie. „Dann passieren Fehler, rasch ist auch der Ton nicht mehr so freundlich, es entsteht ein schlechtes Gefühl.“ So kommt ein Teufelskreis in Gang. Dem müssen Ausbildende bewusst ihr ganzes Engagement entgegensetzen, sagt Bremer. Und das heißt vor allem Aufmerksamkeit und Kümmern, trotz zuweilen Personalnot oder Sprachbarrieren. „Unter anderem ist wichtig: Wenn Unternehmen ausbilden, müssen sie sich bewusst vornehmen, erst einmal zu investieren, nämlich Zeit und Aufmerksamkeit.“
Und warum nicht auch mal die jungen Leute fragen, wie sie etwas machen würden. „Ich habe meinen Auszubildenden früher oft gesagt ‚Jetzt gestalte du mal die Auslage‘“, erinnert sich Bremer. Oder sie ermutigt, eigene Ideen einzubringen. Das ist eine einfache Möglichkeit, junge Menschen zu motivieren.
„Natürlich sollen sie dann auch kommen dürfen und fragen, wenn etwas unklar ist, oder eine Rückmeldung bekommen“, sagt die Beraterin. „Betriebe können sich auch von jungen Leuten Dinge zeigen lassen.“ Etwa im technischen Bereich oder vielleicht für den Instagram-Kanal des Unternehmens. „Man kann sie auch einfach bitten, mal ein kleines Video aus ihrem Arbeitsalltag für die Homepage zu drehen. So haben Unternehmen vielleicht auch gleich eine schöne Veranschaulichung für potenzielle Auszubildende: So bilden wir aus“, schlägt Bremer vor.
„Die jungen Auszubildenden einfach zu fragen und sie erklären zu lassen, was sie bewegt und denken, ist extrem wertvoll“, ist auch Isabella Martorell Naßl überzeugt, Vorstandsmitglied der Versicherungskammer Bayern. Dort läuft seit 2018 ein Reverse-Mentoring-Projekt. Dabei begleiten Auszubildende Führungskräfte. „Ich war am Anfang schon sehr aufgeregt und nervös“, erinnert sich Jessica Kuhn, die von 2021 bis Anfang 2024 zur Versicherungskauffrau ausgebildet wurde und Martorell Naßl als Mentorin zur Seite stand. Alle sechs Wochen haben sich Martorell Naßl und Kuhn in deren Abschluss-Lehrjahr eine Stunde lang getroffen, persönlich oder online, und über Themen gesprochen, die sie umtrieben. Es ging um Dinge, die die Arbeitswelt betrafen, Homeoffice, Digital-Projekte, Ausbildungsorganisation. „Der größere Gesprächsanteil soll natürlich beim Mentor liegen, das war Jessica“, sagt Martorell Naßl.
„Diese Wertschätzung zu erfahren und auf Augenhöhe in Kontakt zu kommen, zu einer höheren Führungsebene zu kommen, das hat mich sehr weitergebracht, persönlich und auch privat“, freut sich Kuhn. „Ich habe ganz viele Kontakte auch nach links und rechts dadurch gewonnen.“
Auch Martorell Naßl hat viel gelernt. „Ich habe fachliche Impulse bekommen, hatte viele Fragen zum Thema Ausbildung“, erinnert sie sich. Denn natürlich habe sie mehr Lebens- und Berufserfahrung, aber die Ausbildung sei eben auch schon eine Weile her. „Und ich weiß ja auch nicht alles“, sagt Martorell Naßl. „Perspektivwechsel. Out of the box.“ Eine Folge des Mentoring: Für den nächsten Ausbildungsjahrgang gibt es regelmäßige Kamingespräche. Und ganz wichtig sei über den Informationsaustausch hinaus der soziale Klebstoff, den ein Unternehmen durch Reverse Mentoring zu seinen Nachwuchskräften herstelle, sagt Martorell Naßl, die allen dazu rät. „Ich glaube, das können kleine Unternehmen sogar viel einfacher als größere.“
BU: Volle Power: Die Auszubildenden der Werkzeugfabrik Paul Horn tunten 2016 bis 2018 als Gemeinschaftsprojekt einen VW Beetle.
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