Bürokratie-Wahnsinn: Wie Akten, Formulare & Vorschriften Deutschland lähmen – und was jetzt passieren muss
Bürokratie ist mehr als 2000 Jahre alt. Inzwischen beansprucht sie eine von fünf Minuten Arbeitszeit in deutschen Betrieben. Das lähmt. Doch es gibt Hoffnung.

Die historischen Wurzeln der Bürokratie
Vom heiligen Augustinus stammt das Bonmot: „Irren ist menschlich, aber im Irrtum zu verharren, ist teuflisch." Die Geschichte der Menschheit ist geprägt vom Versuch, die eigenen Irrtümer zu korrigieren: Die christliche Mythologie fußt auf der Idee, dass das Menschenleben nichts anderes ist als der Versuch, das Malheur von Adam und Eva wiedergutzumachen. Heute nennen wir das System, das ständig Ausschau nach Fehlern hält, Bürokratie.
Die Entstehung der schriftlichen Dokumentation
Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, legte den Grundstein für Zusammenarbeit und ließ den Menschen zum mächtigsten Tier der Erde aufsteigen. Doch diese Fähigkeit stieß irgendwann an ihre Grenzen. Erzählte Geschichten sind nicht gut darin, objektive Fakten festzuhalten. Irgendjemand muss sie notieren, vor allem in Listen. Das schriftliche Dokument wurde ungefähr 54 vor Christus in Mesopotamien erfunden. Überliefert ist eine Tontafel, auf der die Abgabe von Schafen und Ziegen festgehalten ist. Die Bedeutung dieser Erfindung lässt sich kaum überschätzen, schuf sie doch neue Wirklichkeiten: Wo es Listen und Verwaltungen gibt, ist Rechtsprechung deutlich einfacher und gerechter.
Die Herausforderungen der Bürokratie
Wie so oft lieferte auch diese Erfindung neue Probleme. Die schönsten Listen nützen einem nichts, wenn man sie im richtigen Moment nicht findet. Die Ordnung hinter den Listen nannte man Bürokratie – wörtlich übersetzt „die Herrschaft des Schreibtisches". Der Begriff wurde im 18. Jahrhundert in Frankreich geprägt, als Beamte an einem Schreibtisch mit Schubladen saßen, dem sogenannten Bureau.
Bürokratie ist die Methode, mit der Menschen in Organisationen die Suche nach Informationen lösen. Von Beginn an problematisch: Bürokraten mussten Teile der Wahrheit opfern, um Ordnung herzustellen. Nicht jede Information passt schließlich genau in ein vorgesehenes Raster. Bürokratie hat also seit jeher einen hohen Preis. Statt die Welt so verstehen zu wollen, wie sie ist, baut sich die Bürokratie eine künstliche Ordnung. Anders formuliert: Bürokraten zwängen die Welt in ihre Schubladen. Und was nicht passt, wird so lange gequetscht, bis es darin verschwindet. Das schafft Ordnung, aber oft auf Kosten der reinen Wahrheit.

Die aktuelle Situation in Deutschland
Womit wir in der Gegenwart sind, wo Unternehmerinnen und Unternehmer heute mehr denn je spüren, was das für sie bedeutet. Gerade in Deutschland. Wir haben uns auf dem Weg der seit 2000 Jahren bestehenden Abwägung zwischen Wahrheit und Ordnung verrannt. Je mehr Dokumente entstehen, die Menschen dazu zwingen, andere Dokumente zu verfassen, desto stärker verschiebt sich Autorität. Dokumenten kommt immer mehr Macht zu. Manche verzweifeln daran. Es gewinnen diejenigen, die wissen, wie man verborgene Schlupflöcher in Gesetzen nutzt und sich im Labyrinth der Behörden zurechtfindet.
Bürokratie stärkt seit jeher die Zentralmacht auf Kosten der gewöhnlichen Menschen und der Unternehmen. Die Folge ist Misstrauen. Es zeigt sich zum Beispiel, wenn Organisationen wie QAnon mit vermeintlich einfachen Aussagen Zulauf haben oder Menschen Verschwörungstheorien eher glauben als Wissenschaftlern, wie während der Corona-Pandemie beim Thema Impfstoffe. Wir brauchen Mechanismen, damit Bürokratie und das wahre Leben den Kontakt zueinander nicht verlieren. Ein wesentlicher Grund für Bürokratie ist allerdings auch, Ansprüche zu steuern. Etwa, wenn jemand Kindergeld oder Rente bekommt. Auch Steuervergünstigungen sind bürokratisch geregelt. Politiker schaffen die entsprechende Bürokratie nur sehr ungern wieder ab.
Die Belastung für Unternehmen
Und hier stimmt offenbar das Verhältnis zwischen Aufwand für Bürokratie und deren Ertrag nicht mehr. Bei Unternehmen ist das deutlich. Eine Umfrage des Ifo-Instituts in München zeigte jüngst, wie hoch der zeitliche Aufwand in Betrieben inzwischen ist: 22 Prozent der Arbeitszeit gehen für Formulare, Berichtspflichten, Statistiken und andere Bürokratie drauf. Das ist ein Durchschnittwert. Gerade bei kleinen und mittelgroßen Betrieben können es mehr als 30 Prozent sein. Die Unternehmen müssen knappes Personal für diese aus ihrer Sicht unproduktive Arbeit abstellen. Die Kosten der Bürokratie lassen sich für die Unternehmen berechnen: Sechs Prozent des Umsatzes sind es im Schnitt. Dabei sind einige Anforderungen noch nicht eingerechnet. Einmalige Informationspflichten haben die Forscher nicht berücksichtigt.
Die Bürokratielast ist dem Ifo zufolge seit 2008 um insgesamt 16,5 Milliarden Euro gestiegen, zuletzt so stark wie noch nie seit Beginn der Messung. Ein großer Treiber: die EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung. Insgesamt sind EU, Bund sowie Länder und Kommunen für je ein Drittel der Bürokratie in Firmen verantwortlich. Es scheint, als übernehme die Bürokratie schleichend.
Historische Lösungsansätze - Ende der Hexenverbrennungen
Hoffnungslos ist die Lage nicht. Den Kampf gegen Bürokratie hat die Menschheit schon oft ausgefochten und bisher immer gewonnen. Immer wieder stieß sie an Grenzen beim Umgang mit Wahrheit, Bürokratie und Geschichten. Ein Beispiel ist die Auslegung der Bibel oder anderer religiöser Schriften. Eine der größten Momente der Menschheit war, als sich wissenschaftliche Gremien gründeten, um das Wissen der Welt festzuhalten und zu objektivieren: Wissenschaftsvereinigungen wie die Royal Society in Großbritannien (1660) oder die 1666 gegründete französische Académie des Sciences lösten Jahrhunderte mit Ablassbriefen und Hexenverbrennungen ab.
Der Normenkontrollrat als Lösungsansatz
Dass Bürokraten Bürokratie nicht in den Griff bekommen, führte in Deutschland 2006 zum Normenkontrollrat (NKR). Das unabhängige Beratergremium der Bundesregierung überprüft, welche Kosten neue Gesetze verursachen und ob praxistauglichere Alternativen bestehen. Digitalisierung spielt dabei eine große Rolle. Vorsitzender des Rats ist seit 2022 Lutz Goebel, ein pragmatisch denkender Unternehmer. Der 69-Jährige ist geschäftsführender Gesellschafter des Industriemotorenherstellers Henkelhausen und Mitglied der FDP. Von 2011 bis 2017 war Goebel Präsident des Verbands „Die Familienunternehmer", wo er bis heute noch im Präsidium sitzt. Im Interview mit dem Handelsblatt sagt er kürzlich: „Der NKR hatte Vorschläge für 25 Prozent weniger Bürokratiekosten in vier Jahren. Ich kann nur hoffen, dass die nächste Regierung damit weitermacht."
Aktuelle Entwicklungen und Vorschläge
Es tut sich etwas. Da sind die Praxischecks des Wirtschaftsministeriums von Grünen-Politiker Robert Habeck, die zeigen, wie kompliziert es ist, die Energiewende umzusetzen. Oder der Vorschlag von Habeck, das Vergaberechts zu reformieren. „Das wäre ein Riesending geworden, mit einer jährlichen Entlastung für Wirtschaft und Verwaltung von 1,3 Milliarden Euro", sagt Goebel. Das Aus der Ampelregierung von SPD, Grünen und FDP hat diesen Vorschlag erst einmal ausgebremst. Auch bei der Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren sei einiges in Bewegung gekommen, findet Göbel. „Aber für die Familienunternehmen ist Bürokratie in den Umfragen immer noch das größte Investitionshemmnis."
Bürokratieliebe im Ministerium
Die ersten Vorschläge der CDU klingen für NKR-Chef Lutz Goebel „durchaus vielversprechend". Entscheidend werde jedoch sein, dass den Ankündigungen auch konkrete Maßnahmen und Taten folgen. Dass Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nicht mit allem durchkam, war für Goebel eine gute Nachricht: „Aus Unternehmersicht ist es schon unglaublich, was sich Minister Heil an Regulierung überlegt." Göbel nennt Homeoffice-Pflicht oder Ausgestaltung der Zeiterfassung. „Manchmal frage ich mich, ob im Arbeitsministerium schon angekommen ist, dass wir Facharbeitermangel haben. Dass man gar nicht alles regulieren muss, weil der Markt sich selbst reguliert."
Fünf Punkte für weniger Bürokratie
Was kann also helfen? Experten haben fünf Punkte ermittelt, mit denen weniger Bürokratie gelingen könnte:
- Ändern muss sich die Art, wie Gesetze gemacht und umgesetzt werden. In der Politik herrscht derzeit ein Misstrauen gegenüber Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft. Das führt zu übermäßig detaillierten Vorgaben und Kontrollen. Die Mahnungen der Verbände würden ignoriert, sagen auch objektive Beobachter. Die Vorschläge der Wirtschaft zum Bürokratieabbau finden derzeit praktisch nie Eingang in Gesetze. Von den mehr als 430 Empfehlungen der Wirtschaftsverbände schafften es nur elf in das Bürokratieentlastungsgesetz der Ampelkoalition. Konkret: Vertrauen statt Kontrolle, Stichproben statt 100-Prozent-Prüfungen. Das entlastet enorm.
- Doppelungen sollten verschwinden. Gibt es bereits ein nationales Gesetz und eine europäische Vorgabe wird eingeführt, dann wird derzeit oft addiert. Die EU-Vorgabe als das höhere Recht sollte reichen.
- Kommunen sollten sehr viel früher einbezogen werden, wenn der Bund Gesetze plant.
- Der Normenkontrollrat muss Macht bekommen. Bisher hat er außer dem jährlichen Auftritt in der Bundespressekonferenz und Aussagen in den Medien nicht viel Gestaltungsspielraum. Bevor Gesetze durch das Kabinett gehen, sollte der Rat sie anschauen und notfalls anhalten können, bis bürokratieärmere Lösungen gefunden wurden. Bei der Pflegepersonalbemessungsverordnung hat das Gesundheitsministerium die Hinweise des Gremiums geflissentlich ignoriert, zum Schaden aller, wie man heute weiß.
- Der Staat sollte sich auf seine Kernaufgaben beschränken und Rahmen vorgeben. Das bedeute auch einen Stellenabbau in den Bundesministerien. Die Zahl der Beschäftigten in der Bundesverwaltung ist in den vergangenen zehn Jahren um rund 50.000 auf etwa 300.000 gewachsen. Diese Menschen geben sich auch selbst etwas zu tun.
Realistische Ansätze und internationale Vergleiche
Was davon ist realistisch? Die Ampelkoalition hatte Entlastungen von 3,5 Milliarden Euro versprochen. Nachdem der Bundesrat im Oktober 2024 dem Bürokratieentlastungsgesetz zugestimmt hatte, postete der damalige Justizminister Marco Buschmann (FDP): „Wir machen Tempo, um die Bürokratie spürbar abzubauen." Es sei „das größte Bürokratieabbauprogramm in der Geschichte unseres Landes". Das Bürokratieentlastungsgesetz ist inzwischen das vierte, mit dem eine Bundesregierung die Aufwände für Unternehmen drücken will. Das Urteil aus den Unternehmen klang bisher stets so wie in diesem Fall bei Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik: „Die Bundesregierung hat punktuell für Entlastungen bei Bürokratie gesorgt. Doch diese kommen in den Unternehmen nicht spürbar an." Vielleicht hilft ein Blick über den Atlantik: Dort soll der Milliardär und Unternehmer Elon Musk im Auftrag des US-Präsidenten Donald Trump vorschlagen, wie die Ausgaben der Bundesbehörden radikal zusammengestrichen werden können. Daraus dürfte ein umfangreicher Personal- und Bürokratieabbau folgen. Unklar ist, ob das so funktioniert und der Staat nicht handlungsunfähig wird. Aber wenn, werden Politiker in Deutschland und Europa sehr genau hinschauen müssen.
Bremsen Regulierungen zu sehr aus?
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Was ist Bürokratie?
"Bürokratie" ist ein Kunstwort aus "bureau" und dem Suffix "-cratie", letzteres mit Wurzeln im Griechischen, bedeutet "Herrschaft" oder "Macht".
Bürokratie beschreibt ein Verwaltungssystem mit klar definierten Regeln und Strukturen. In einer Bürokratie sind Aufgaben und Zuständigkeiten streng geordnet. Jede Handlung folgt festgelegten Vorschriften, und alle Abläufe werden präzise dokumentiert. Diese Verwaltungsform ist durch klare Hierarchien und Entscheidungen basierend auf Gesetzen gekennzeichnet und findet sowohl in staatlichen als auch nicht-staatlichen Organisationen Anwendung.
Der Soziologe Max Weber bezeichnete in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ vor ca. hundert Jahren Bürokratie als die „rationale“ Form der „legalen Herrschaft“. Er zählt unter anderem die Trennung von Amt und Person, die Neutralität des Verwaltungshandelns und die Schriftlichkeit der Verwaltung zu deren Eigenschaften.