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Personal > Kontrollverlust und Überforderung

Corona-Angst: Wie man während des Lockdowns gelassen bleibt

Vor Jahren erkrankte Rüdiger Striemer an einer Angststörung und Depression. Die Erfahrungen von damals helfen dem ehemaligen Vorstand heute beim Umgang mit dem Coronavirus und der Akzeptanz des neuerlichen Lockdowns.

Herr Striemer, wie fühlt es sich an, wenn plötzlich gar nichts mehr geht, weil man vor Angst wie gelähmt ist?
Ganz schrecklich. Eines Nachts wachte ich zum Beispiel auf und habe am ganzen Körper gezittert. Dazu hatte ich Schweißausbrüche, Herzrasen und – einfach Angst. Ich hatte eine wahnsinnige Panik in mir.

Was haben Sie dagegen getan?
Da ich allein lebe, musste ich meine Nachbarin rausklingeln, die dann den Notarzt verständigt hat. Vom Arzt habe ich erst einmal Valium bekommen.

 

Im Sommer 2011 merkte der damalige Vorstand des mittelständischen Softwareherstellers Adesso, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Er litt zunächst unter Schwindel, für den es keine organische Ursache gab. Dann kamen diffuse Ängste hinzu, die mit der Zeit immer stärker wurden. Schließlich konnte der damals 43-Jährige nicht mehr das Haus verlassen.

 

Was war der Grund für ihre Ängste?
Zunächst konnte ich mir keinen Reim darauf machen, für die Angstschübe gab es keine konkreten Anlässe. Heute weiß ich, dass ich mit dem Kontrollverlust nicht klargekommen bin. Als ich zu Adesso kam, hatten wir 50 Mitarbeiter. 2011 waren es dann mehr als 3.000.

Sie hatten also erfolgreich expandiert.
Einerseits ja, aber andererseits wurde mir auch klar, dass zu mir als Vorstand immer mehr Probleme eskalierten. Das heißt: Ich konnte Dinge nicht mehr vollständig durchdringen und musste auf Basis abstrakten Erfahrungswissens schnell entscheiden. Das führte zu immer schnelleren Kontextwechseln. Das hat mich am Ende überfordert.

 

Am Tag nach seiner nächtlichen Panikattacke begab sich Striemer in eine psychosomatische Klinik. Dort beschäftigte sich der IT-Manager acht Wochen lang intensiv mit sich selbst und seinen Bedürfnissen. Nach dem Klinikaufenthalt fühlte er sich deutlich besser und hatte in den folgenden Jahren nur noch selten mit Angstattacken zu kämpfen. Im Februar 2020 breitete sich die Corona-Krise nach Europa aus und traf auch Deutschland mit voller Wucht.

Überforderung und Angst empfinden auch viele Menschen durch die Corona-Krise. Wie gehen Sie heute damit um?
Am Anfang hat mich das schon getriggert. Ich bin jede Nacht aufgewacht und habe gegrübelt, wie die Corona-Pandemie die Wirtschaft und die Gesellschaft zerstört und was sie mit unserem Unternehmen machen wird. Durch diese Krise werden ja unglaubliche Werte vernichtet. Ich hatte schon ein bisschen Zukunftsängste.

 

Sie hatten wieder einen Rückfall?
Ganz so schlimm war es nicht. In der Klinik habe ich mich sehr genau kennengelernt und ich habe eine Strategie für mich entwickelt, was ich tue, wenn das Gedankenkarussell in meinem Kopf wieder losgeht.

Zur Person:

Rüdiger Striemer war von 2001 bis 2015 Vorstandsmitglied von Adesso. Seit 2015 leitet er die Auslandsaktivitäten des mittelständischen Softwareherstellers. Darüber hinaus ist Striemer Honorarprofessor an der Technischen Hochschule Wildau für das Fach Wirtschaftsinformatik. Über seine Erfahrungen hat er auch ein Buch geschrieben.

Wie sieht diese Strategie aus?
Ich habe viel gelesen. In der Klinik über die Funktionsweise des Gehirns und als das Corona-Virus kam Fachbücher über Epidemieologie. Das hat mir geholfen, in dem jeweiligen Thema Zusammenhänge zu verstehen. Aber das Wichtigste ist: Man muss bestimme Dinge einfach akzeptieren.

 

Sagen Sie das mal Anhängern von Verschwörungstheorien!
Diese Leute versuchen letztendlich auch nur mit der Realität klar zu kommen und suchen nach scheinbar plausiblen Erklärungen. Menschen sehnen sich nach einfachen Antworten, aber die gibt es nicht. Gerade Corona versteht niemand auch nur im Ansatz. Das Einzige was hilft, ist angesichts der Pandemie Ruhe zu bewahren. Mir scheint, wer Komplexität nicht akzeptiert, hat in Wirklichkeit Angst vor der Wahrheit. Ich habe für mich beschlossen, dass die Angst kein guter Begleiter ist. Deshalb beschäftige ich mich damit, was passiert.

 

Was würden Sie Menschen empfehlen, die dennoch mit Ängsten und Panik zu kämpfen haben?
Die ganze Welt kämpft gegen Corona und versucht das Virus zu besiegen. Man fühlt sich machtlos, aber das ist nichts, was nur mich tangiert, sondern uns alle. Da müssen wir jetzt alle zusammen durch. Ich bin mir sicher, es wird auch wieder eine Zeit nach Corona geben – sich das Alles immer wieder klar zu machen, hilft wirklich.

 

In seinen ersten Berufsjahren war der heute 51-Jährige sportlich und lief Langstrecke. Im Laufe der Zeit ging der Sport immer mehr unter. Erst in der Klinik nahm er das Lauftraining wieder auf und fand erneut Freude daran. Zudem meditiert Rüdiger Striemer regelmäßig und nimmt sich eine Auszeit, wenn es notwendig ist. Eine wichtige Rolle spielen zudem Freunde.

 

Wie haben Sie Ihre sozialen Kontakte während dem Lockdown aufrechterhalten?
Ich treffe enge Freunde nach wie vor oder telefoniere oder skype. Freunde funktionieren als Ratgeber sehr zuverlässig. Es kann es schon mal vorkommen, dass einer zu mir sagt: „Rüdiger, du solltest vielleicht mal wieder über dich nachdenken.“ Für diese Hinweise bin ich sehr dankbar, denn manchmal entfernt man sich von sich selbst, ohne es zu merken.

 

Was machen Sie noch zum Ausgleich?
Bewegung ist grundsätzlich sehr gut. Manchmal wandere ich einfach ohne Ziel los und lande dann nach fünf Stunden irgendwo in der brandenburgischen Pampa. Dann steige im nächsten Ort in den Zug und fahre wieder zurück nach Berlin, wo ich wohne.

 

Sich psychische Störungen einzugestehen fällt vielen – gerade erfolgreichen Menschen – nicht leicht. Auch Rüdiger Striemer hat wertvolle verstreichen lassen, um einen Termin bei einem Experten auszumachen. Aber da war es schon zu spät.

 

Was sagen Sie Menschen, die sich weigern einen Spezialisten aufzusuchen, weil sich selbst keine Schwächen eingestehen können?
Eine psychische Störung ist heute nichts Ungewöhnliches mehr: Wenn man ein Bein gebrochen hat, geht man ins Krankenhaus, wenn man Zahnschmerzen hat, sucht man den Zahnarzt auf. Und wenn das Gehirn auf Alarm schaltet, geht man eben zum Psychiater – es ist doch toll, dass es diese Möglichkeiten gibt. Das ist ein ganz normaler Arztbesuch.

 

Haben Sie nie damit gehadert, dass Ihre psychischen Probleme Ihre Karriere als erfolgreicher Manager beenden mussten?
Das bin ich ja immer noch, nur eben nicht mehr als Vorstand. Ich bin damals an die Ostsee gefahren und habe drei Tage lang aufs Wasser gestarrt. Dabei habe ich mir überlegt, ob ich mir vorstellen kann, diese Position noch bis zum Ruhestand auszufüllen. Die Antwort war nein. Selbstbetrug bringt auf Dauer nichts. Ich habe Selbstverantwortung und Selbstfürsorge für mich übernommen und mich so akzeptiert, wie ich bin. Ich hatte ja auch noch Glück.

 

Inwiefern?
Wenn ich damals einen Herzinfarkt gehabt hätte, dann würde ich vielleicht gar nicht mehr leben. Stattdessen geht es mir heute wieder hervorragend.

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