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Das Schwarze Loch: Wo sind die Arbeitskräfte hin?

Obwohl eine Krise aufzieht, klagen Arbeitgeber darüber, dass sie keine Mitarbeiter finden. Der Arbeitsmarkt ist wie leergefegt, das Chaos an den Flughäfen, wo Personal in der Abfertigung fehlt, zeugt davon. Doch wo sind all die Arbeitskräfte hin? Eine Spurensuche.

Personalmangel: Betroffen sind unter anderem die Sicherheitskontrollen und die Gepäckverladung an den FlughäfenBild: Shutterstock

Es ist, als hätte sich ein großes schwarzes Loch aufgetan: Hunderttausende von Arbeitskräften sind wie vom Erdboden verschluckt. Mehr als eine Millionen Arbeitskräfte könnten in Deutschland einen Job finden, hatte der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detelv Schele vor sechs Monaten festgestellt. Die Situation ist inzwischen nicht besser geworden. Die Arbeitskräfte, an denen es vor der Pandemie deutlich weniger mangelte, bleiben verschwunden. Und dies, obwohl die deutsche Wirtschaft eher vor einer gewaltigen Rezession steht und nicht am Vorabend eines Megabooms. Die Unternehmen haben dringend Bedarf, um den normalen Betrieb sicherstellen zu können. Doch wo sind die Fachkräfte hin? In vielen Verbänden hebt man abwehrend die Hände: „Wir wissen es selbst auch nicht so genau“, lautet fast unisono die Antwort. Eine Spurensuche ergibt folgendes.

Besonders betroffen sind Branchen, die traditionell keine Spitzengehälter zahlen. Das gilt für Hotels und Gaststätten, wie auch für die Sicherheitskontrollen und die Gepäckverladung an den Flughäfen, sowie für den Einzelhandel und die gesamte Reisebranche. Der Stillstand während der Pandemie hat viele Beschäftigte in eine problematische Lage gebracht. Denn mit 60 Prozent Kurzarbeitergeld bei einem Bruttlolohn von 1500 bis 1800 Euro kamen sie kaum über die Runden. Viele Aushilfen in der Gastronomie gingen sogar ganz leer aus und haben sich deshalb nach einer Alternative umgesehen: Sie sind schnell fündig geworden.

Heute lächeln viele, die zuvor Betten gemacht oder Mahlzeiten an den Tisch gebracht haben, von der Kasse einer Lidl-Filiale ihren Kunden zu. Die Jobs sind pandemiesicher und kennen keine Nacht- oder Feiertagsschichten. Tatsächlich hat der Discounter potenzielle Bewerber schon mitten im Lockdown über Facebook und andere sozialen Medien angesprochen und zum Wechsel angelockt. Besonders sauer ist man im Gastro-Gewerbe, dass der Discounter mit „Lidl muss man können“ mitten in der Pandemie mit „Cash aufs Konto“ geworben hat. Das klinge ja so, als müsse man in Hotels und Gaststätten nichts können, echauffiert sich die Branche. Unsolidarisch sei so ein Verhalten obendrein. Doch die Mitarbeiter sind weg. Da hilft jetzt auch nicht, dass die Gastronomie die Löhne um einen zweistelligen Prozentsatz erhöht hat, wie der Fachverband Dehoga, bestätigt. Gut 60 Prozent der Mitgliedbetriebe beklagen derzeit akuten Personalmangel.

IG Metall-Tarif statt Wochenschicht

Aus dem Reservoir der Dienstleister wie Gastronomie, Handel, Sicherheit, Touristik oder Gesundheitswesen hat sich auch die Industrie bedient. In vielen Unternehmen sind die Auftragsbücher brechend voll und man braucht neue Kräfte in allen Bereichen. So wissen beispielsweise die Gastronomen in Isny im Allgäu sehr wohl, wo viele ihrer früheren Mitarbeiter abgeblieben sind. Sie montieren Wohnmobile bei Dethleffs zu IG Metall-Tarif und bei freiem Wochenende. „Wir stellen laufend Menschen ein, und das Letzte, was wir tun, ist Mitarbeiter zu entlassen“, sagt ein Firmensprecher dem Lokalblatt „Südkurier“. Um ungelernte Arbeitskräfte zügig einzuarbeiten, habe man am 1500-Mitarbeiter-Standort gerade erst die Qualifizierungsprogramme hochgefahren. Nur so gelinge es, die 20 bis 30 Stellen, die jährlich durch Fluktuation frei würden, wieder zu besetzen und gleichzeitig für die Zukunft vorzubauen.

Auf dem Arbeitsmarkt kommen offenbar gerade sehr viele Faktoren zusammen. So sind die exportstarken Branchen nach Ende der Wirtschafts- und Finanzkrise um 2009 so stark gewachsen, dass das Fachkräfteangebot schlicht nicht mehr mithalten konnte. Deshalb wurde praktisch niemand während der Pandemie entlassen, denn die Betriebe sind um jeden Beschäftigten froh, den sie in den eigenen Reihen haben. Zudem sind neue Branchen wie Onlinehandel und Logistik stark gewachsen, die ebenfalls hohen Personalbedarf haben, wie aus einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht. Darum sehen Fachleute eigentlich gar keinen Fachkräftemangel in Deutschland, sondern eher einen Nachfrageüberschuss vor allem in der Industrie. Sie ist also das „Schwarze Loch“, in dem die Leute aus vielen schlecht bezahlten Branchen abgeblieben sind.

Die Rentner fehlen am Arbeitsplatz

Hinzu kommt der demografische Faktor: „Vielfach werden Mitarbeiter, die in Rente gehen, nicht ersetzt. Daher sind am Markt erfahrene Fachkräfte kaum zu bekommen“, sagt Jörg Friedrich, Leiter des Bereichs Bildung beim Verband des Deutschen Maschinen und Anlagenbaus (VDMA). Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren sogar noch erheblich zuspitzen. Der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland war das Jahr 1964. Damals kamen knapp 1,4 Millionen Kinder zur Welt, die jetzt das Rentenalter erreichen. Nach Berechnungen des Prognos-Instituts werden bis 2025 knapp drei Millionen Fachkräfte fehlen. Allein im öffentlichen Sektor - mit rund fünf Millionen Beschäftigten größter Arbeitgeber - wird bis Mitte des Jahrzehnts eine Lücke von 765.000 offenen Stellen klaffen, hat die Beratungsgesellschaft PWC berechnet.

Konkurrenz aus der Schweiz

Wie dramatisch die Nachfragesituation schon heute ist, zeigt sich besonders in Regionen mit traditionell geringer Arbeitslosigkeit. Hier ist das Bild aus Sicht der Unternehmen inzwischen grausig, Bei Arbeitsvermittlern gilt es als kritisch, wenn drei Bewerber auf eine offene Stelle kommen. Im Bezirk Konstanz-Ravensburg der Bundeagentur für Arbeit liegt der Wert bei 1,4. Für Pflege oder Gastronomie sogar bei 0,5. Wer seinen Betrieb auch noch in der Nähe zur Schweiz hat, hat es bei der Personalsuche noch schwerer. Denn jenseits des Rheins zahlen die Unternehmen im Durchschnitt 30 Prozent mehr. Jeden Tag pendeln mehr als 57.000 Beschäftigte in die Schweiz.

Der Personalmangel hat sich inzwischen zur Dienstleistungskrise zugespitzt. Mit abenteuerlichen folgen: Wer in den Urlaub fliegen will, beginnt die Reise derzeit mit einer Art Lotterie. Es gewinnt, wer rechtzeitig im Flieger sitzt. Viele stehen immer noch in der Schlange vor dem Sicherheitscheck, während ihre Maschine bereits in Richtung Süden abhebt. Viele Gastronomiebetriebe müssen mitten in der Hochsaison zeitweise schließen, weil das Personal fehlt. De,r Europa-Park in Rust verkauft nur 30.000 Karten, weil die Anlage nicht mit dem notwendigen Personal besetzt ist. Normalerweise strömen bis zu 50.00 Besucher täglich in den Freizeitpark. In Stuttgart ist das beliebte Sommerfest Anfang August abgesagt worden. Ein Drittel der Gastronomen könne wegen Personalmangels keinen Stand aufbauen. Mit den übrig gebliebenen Anbietern sei es unmöglich gut 500.000 Besucher zu bewirten, begründet die Stadt die Absage.

Sorgenkind Oktoberfest

Schon befürchtet man, dass auch das Stuttgarter Volksfest beeinträchtigt wird. Und die Wirte und Schausteller der Wiesn in München suchen ebenfalls händeringend Personal. Normalerweise sind die Stellen in den Bierzelten des Oktoberfestes wegen der Gehälter auf Provisionsbasis so begeht, dass gleich nach der Veranstaltung schon für das Folgejahr ein Vertrag unterschrieben wird. Aber auch für das Münchner Gesundheitssystem blickt besorgt auf das größte Bierfest der Welt, das den Ärzten und Krankenhäusern rund 30 Prozent mehr Patienten beschert als im restlichen Jahr. Doch schon jetzt sind die Kliniken der Bayern-Metropole am Anschlag. Denn selbst wenn Menschen gefunden würden, die im Gesundheitssektor arbeiten wollen, dauere die Ausbildung eine gewisse Zeit, die bis zum Oktoberfest aber nicht mehr bleibt, so Viktoria Bogner-Flatz, Corona-Krisenmanagerin der Münchner Kliniken.

Das Institut für Arbeitsmarktforschung  sieht den stärksten Hebel in der Migration: „Dabei kommt es auf eine offene Zuwanderungspolitik an, wie auch auf eine Begrenzung der hohen Abwanderung durch verbesserte (Arbeitsmarkt-)Integration:“ In das gleiche Horn stößt auch das Gastgewerbe. „Die Weiterentwicklung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes muss zügig angegangen werden“, fordert Dehoga-Präsident Guido Zöllick. Der Verband dringt zudem darauf, dass die Visavergabe vereinfacht wird. „Hier müssen die Kapazitäten an den deutschen Botschaften ausgeweitet werden“, betont Zöllick. Zudem müsse man die Westbalkanregel entfristen und das auf 25.000 Arbeitskräfte begrenzte Kontingent erweitern. Auch andere Branchen fordern, dass die Zuwanderung frischer Kräfte aus Drittstaaten wesentlich erleichtert wird. Arbeitsmarktexperten rechnen vor, dass Deutschland jährlich eine Zuwanderung von 400.000 Menschen benötigt, um die eigene Wirtschaft am Laufen zu halten.

Nachwuchs bleibt aus

Der Nachwuchs aus Deutschland selbst tröpfelt, klagen beispielsweise die Maschinenbauer. Die Branche konnte im laufenden Ausbildungsjahr zwei Drittel der angebotenen 80.000 Ausbildungsstellen nicht besetzen. „In der Coronazeit waren Schülerinnen und Schüler vielfach verunsichert und hatten kaum Möglichkeiten, sich über Schülerpraktika beruflich zu orientieren. Daher waren in dieser Zeit einige in Wartestellung und haben sich nicht um technische Ausbildungsplätze beworben“, erklärt VDMA-Experte Friedrich. Von dieser Unsicherheit profitiert habe seiner Ansicht nach der öffentliche Dienst. Dort sind die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber um Ausbildungsplätze zuletzt gestiegen.

In Österreich begegnet man dem Fachkräftemangel in der Gastronomie unterdessen auch durch verstärkte Kooperationen. Ein Gasthof leiht dem anderen Personal aus, um Engpässe abzufedern. „Wenn immer noch zu wenig da ist, stimmt man die Öffnungszeiten ab. Das eine Haus öffnet Sonntag bis Mittwoch, das nächste Donnerstag bis Samstag“, erklärt Valentin Weislämle, Touristikprofessor an der DHBW in Lörrach. Einmal kocht der Koch hier, dann dort. Durch solche Kooperationen sind auch flexible Arbeitszeitmodelle möglich. Außerdem sind Betriebswohnungen verbreitet und teils wird ein 14. Monatsgehalt bezahlt. Das führt zu einer Arbeitgeberattraktivität, von der sind die meisten Gastronomen bei uns noch weit entfernt. Statt 15 Euro fürs Schnitzel wären dann um die 30 Euro fällig, so der Experte: „Zumindest ist das nötig, wenn auch das Personal korrekt behandelt und bezahlt wird.“

auk

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