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Management > Zufällige Chancen wahrnehmen

Das Unerwartete erwarten

Viele Erfindungen und Geschäftserfolge basieren auf Zufall. Unternehmen brauchen eine Strategie, wie sie solche Momente nutzen können.

Christian Busch, Professor an der New York University
Mann für alle Zufälle: Christian Busch, Professor an der New York University, untersucht, wie das Unerwartete Unternehmen voranbringen kann. Bild: Privat

Erfolg könne man nicht planen, lautet eine Redensart. Die ist in Unternehmen aber nur selten Teil des Alltags. Wir Deutschen planen gern und viel und unterschätzen die Macht des Zufalls. Dabei ist Serendipität sehr wichtig, also das bewusste Wahrnehmen von zufälligen Chancen. Dieses unerwartete Glück, das sich aus ungeplanten Ereignissen und geschicktem Handeln ergibt, erforscht Christian Busch seit über zehn Jahren. Und der Professor von der New York University kann auch Führungskräften erklären, wie man dieses Zusammenspiel aus Zufall und menschlicher Aktion bestmöglich forciert.

Herr Busch, vor Ihnen sitzen 60 Studierende. Wäre es Zufall, wenn zwei davon am selben Tag Geburtstag haben?

Die Teilnehmenden in meinen Seminaren schätzen die Wahrscheinlichkeit dafür oft auf 5 bis 20 Prozent, also sehr gering. Dabei finden sich in so einem Raum mit zwischen 60 und 100 Leuten oft drei bis sechs Personenpaare, die am selben Tag Geburtstag haben. Wir haben oft ein Pro­blem damit, Wahrscheinlichkeiten richtig zu erfassen. Unser lineares Denken führt dazu, dass wir das Unerwartete unterschätzen. Tatsächlich gibt es bereits bei 23 Personen in einem Raum eine 50-prozentige Chance, dass zwei Leute am selben Tag Geburtstag haben. Dann ist es bei 60 erst recht wahrscheinlich.

Welche wichtigen Ereignisse in Ihrem Leben basieren auf einer gewissen Zufälligkeit?

Also mein ganzes Leben fühlt sich an wie eine Verkettung von Zufällen. Die zwei Unternehmen, wo ich Mitgründer war, kamen zufällig zustande. Die Liebe meines Lebens habe ich jetzt in der Pandemie zufällig wieder getroffen. Das unerwartete Glück bestimmt mein ganzes Leben mit.

Gibt es Erhebungen, wie viele Erfindungen auf Zufall basieren?

Schätzungen zufolge sind 30 bis 50 Prozent der großen wissenschaftlichen Durchbrüche das Ergebnis von Unfällen oder Zufällen. Es ist erstaunlich, wie oft Chemikalien in der Geschichte der Menschheit überliefen und sich mit anderen Zellen verbunden haben.

Was ist der Unterschied zwischen purem Zufall und Serendipität?

Oftmals denken wir, dass glückliche Zufälle etwas sind, das einfach passiert. Und bei einigen Dingen stimmt das auch, wie zum Beispiel bei der Geburtslotterie und vielen anderen Sachen, die man sich nicht aussuchen kann. Aber wenn man sich glückliche Zufälle gerade im unternehmerischen Kontext wirklich anschaut – also: Wie kamen Innovationen wie Viagra oder Penicillin zustande? –, da spielt der Zufall eine Rolle, aber da ist eben auch menschliches Handeln mit dabei. Und genau darum geht es bei Serendipität –dieses aktive Glück, das wir selbst mit beeinflussen können.

Fällt Ihnen ein schönes Beispiel ein für so ein quasi erzwungenes Glück?

Vor ein paar Jahren hat ein Servicemitarbeiter eines chinesischen Haushaltsgeräteherstellers einen Kundenanruf entgegengenommen, bei dem ein Bauer ihm erklärte, dass die Waschmaschine ständig kaputtgeht, wenn man Kartoffeln darin wäscht. Nun hätte der Berater schlicht sagen können, dass man nun mal keine Kartoffeln in der Waschmaschine waschen soll. Aber was hat der gemacht? Genau das Gegenteil. Er hat das als User-Case ernst genommen, weitergegeben und gesagt: Wenn dieser Bauer das Problem hat, haben es vermutlich Hunderttausende. So entstand ein neues, innovatives Produkt.

Sie haben Serendipität intensiv erforscht. Wie lässt sich das Phänomen strukturieren?

Wir haben das in drei Fälle eingeteilt: Da gibt es erstens die sogenannte Archimedes-Serendipität: Er sollte ja herausfinden, wie viel Gold in der Krone ist, und das gelang ihm über das Volumen – Stichworte „Badewanne“ und „Heureka“. So etwas kommt in Unternehmen oft vor: Du hast ein Problem, die Lösung liegt aber nicht auf der Hand und ist in dem Moment auch durch Nachdenken nicht zu erreichen. Aber sie kommt später, wenn man nicht angestrengt nachdenkt – in einer Pause oder in der Badewanne wie bei Archimedes. Nur wenn man permanent unter Volldampf ist, kommt es zu solchen Momenten oftmals nicht mehr und damit auch nicht zur Lösung.

Und die anderen Fälle?

Hier ist die Erfindung der Post-its ein gutes Beispiel. Jemand bei 3M hat nach einem stärkeren Klebstoff gesucht und zufällig gesehen: Mensch, ein viel schwächerer Klebstoff würde viel mehr Sinn machen, weil man dann immer wieder abziehen kann. Heute liegen Post-its auf jedem Schreibtisch. Ähnlich ist es bei Viagra: Man sucht eine Sache und erfindet auf dem Weg eine andere, weil man dabei nicht eingleisig fährt, sondern hellwach nach links und rechts schaut. Und der dritte Fall ist der Blitzschlagmoment: Du schüttest jemandem aus Versehen Kaffee auf den Mantel, reagierst aber so, dass man diejenige am Ende heiratet oder mit ihr ein Unternehmen gründet.

Wie können Führungskräfte bei ihren Mitarbeitern fördern, dass sie solche Momente entdecken und dann auch offensiv angehen?

Oftmals ist es so, dass man das Unerwartete als Feind wahrnimmt, der unsere Pläne zerstört. Aber wir sollten das Unerwartete einplanen. Das geht mit kleinen Mitteln, zum Beispiel indem man im wöchentlichen Meeting einfach mal fragt: Was hat euch letzte Woche überrascht? Vielleicht kommt dann, dass Leute ihre Kartoffeln in unseren Waschmaschinen waschen, und vielleicht kommt so ein neues Produkt zustande. Wir haben das sehr viel gesehen in unseren Studien mit weltweit führenden CEOs. Bei der Frage, was die wirklich erfolgreich macht, ergab sich ein Muster. Die sind extrem gut darin zu sagen: Hier ist die Strategie, hier sind unsere Prioritäten, aber ich sage euch jetzt schon: Wenn Kundin Hilda aus Hildesheim sagt, dass die Strategie bei ihr nicht funktioniert, dann werden wir die anpassen – und das ist dann Teil des Plans. Dann ist es kein Angriff auf die Autorität, wenn ein Plan mal angepasst werden muss, sondern ein Zeichen einer guten Unternehmenskultur.

In Ihrem Buch „Erfolgsfaktor Zufall“ sprechen Sie von Serendipitätsauslösern. Wie erkenne ich die?

Es gibt mehrere Arten von solchen Auslösern. Das kann bei der Lektüre eines Buches passieren oder beim flüchtigen Gespräch auf dem Flur. Aber gerade bei den Begegnungen mit spannenden Menschen muss man die Situation auch nutzen. Entscheidend ist, in solchen Momenten Informationen zu verbinden. Expertenwissen kann dabei helfen – aber auch zum Tunnelblick führen.

Welche Hemmnisse für Serendipität gibt es?

Hier gibt es oft mehrere Ebenen: die des Individuums und die der Organisation. Ein typischer Fall für Letzteres ist, wenn Leute unerwartet eine Idee im Meeting haben, die aber nicht äußern, weil sie sich vielleicht selbst zensieren oder das Gefühl haben, es passt gerade nicht so richtig. Dann kann eine Führungskraft natürlich viel machen, zum Beispiel die notwendige psychologische Sicherheit garantieren.

Geben Sie bitte weitere Beispiele!

Verhindern Sie Herdenmentalität. Es bringt schon viel, grundsätzlich die Mehrheitsmeinung infrage zu stellen. Ich kenne erfolgreiche CEOs, die setzen sich mit Laptop in die Firmencafeteria, tun so, als ob sie vertieft an etwas arbeiten, hören aber den Gesprächen zu, um auf Ideen zu kommen. Vermeiden Sie die menschliche Neigung, zu oft darüber zu sprechen, was in bestimmten Situationen falsch gelaufen ist. In solchen Kulturen bringen die Leute seltener Ideen ein. Und gehen Sie offener an all diese Branchendinner mit vermeintlich langweiligen Vorträgen heran. Und verhalten Sie sich nicht nach dem Prinzip Spermium/Ei: Das Erste dringt ein und, danach schließt sich alles.

Und auf der Ebene des Individuums? Warum verschlafen wir solche glücklichen Momente?

Oft erwarten wir das Positiv-Unerwartete nicht und sehen es deswegen auch nicht. Ganz anders ist es beim Negativ-Unerwarteten, damit rechnen wir ständig: Wir gehen über die grüne Ampel und gucken noch rechts und links, ob vielleicht doch ein Auto über Rot fährt. Aber warum erwarten wir nicht auch das Positiv-Unerwartete häufiger und schauen zum Beispiel auf der Straße öfter mal auf den Boden? Sie wären überrascht, wie oft Menschen Münzen und Scheine verlieren, die wir aber nicht sehen, weil wir sie dort nicht erwarten.

Nun stehen ein paar Denkfehler bei uns dagegen, dass wir diese Chancen ergreifen. Die Wissenschaft nennt da zum Beispiel den Survivorship-Bias. Was steckt dahinter?

Wir kriegen ja oft Hero-Stories vorgesetzt, tolle Unternehmerinnen und Unternehmer, die uns auf der Bühne erzählen, wie ihr Weg war. Und viele nennen das nachher inspirierend und probieren, genau den gleichen Weg zu gehen. Der Weg mag bei ihr geklappt haben, aber man sieht nicht die vielen Leute, die sehr ähnliche Entscheidungen getroffen haben, aber nicht dahin gekommen sind. Es kommt sehr viel auf Kontext an, auch auf reines Glück. Wir sehen eben nicht die Gräber von den Leuten, die im Prinzip ähnliche Entscheidungen getroffen haben, wo es aber nicht funktioniert hat. Menschen verwechseln sehr häufig reines Glück und Geschicklichkeit.

Sie vertreten die These, dass man oft von den zweitbesten Leistungsträgern oder Leistungsträgerinnen am meisten lernen kann. Wieso?

Wenn man jemanden anschaut wie Donald Trump, dann wird der entweder Präsident oder landet im Gefängnis (oder beides!). Von solchen Extremen kann man nicht viel lernen. Er ist so viel Risiko eingegangen, hat so viel Glück im Leben gehabt und einmalige Umstände, das kann man nicht reproduzieren. Das gilt für viele Überflieger. Bei Leuten, die seit zehn Jahren in Vorständen sind und sich solide hochgearbeitet haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man von ihnen mehr lernen kann.

Sie wohnen und arbeiten in den USA. Planen wir in Deutschland zu viel?

Je länger ich im Ausland lebe, desto mehr sehe ich, dass ich eigentlich im Herzen sehr deutsch bin und auch sehr viele der Qualitäten, mit denen wir aufwachsen, extrem schätze. Ich schätze Planung, ich schätze Verlässlichkeit. Wie bringen wir das Beste von solchen Kulturen, die planungsorientiert sind und prozessorientiert, mit den innovationsorientierten zusammen? Es geht nicht darum, zu 100 Prozent in den Zufall hineinzugehen. Nein, wir wollen planen, Prioritäten sind wichtig. Das gibt uns eine Richtung vor – und gleichzeitig können wir diesen Muskel trainieren, das Unerwartete besser zu erwarten.

Das Gespräch führte Thorsten Giersch.

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