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Personal > Gastbeitrag Hermann Simon

Deutschland braucht eine angemessene Deindustrialisierung

Deutschlands Wirtschaft im Wandel: Deindustrialisierung und neue Sektoren bieten Chancen für eine zukunftsfähige Entwicklung.

Hermann Simon
Hermann Simon ist Gründer und Ehrenvorsitzender der weltweit tätigen Unternehmensberatung Simon-Kucher.© OneLineStock.com/Shutterstock.com; Schafgans DGPh

Unter Deutschlands Unternehmern ist die Stimmung übertrieben schlecht und die Äußerungen der Regierenden übertrieben optimistisch. Das ist grundsätzlich nicht neu, aber die Amplituden derzeit gewaltig. Doch wie stark ist der Standort tatsächlich in Gefahr? Kippt der Arbeitsmarkt in Richtung Massenarbeitslosigkeit? Nur auf den ersten Blick! Die Mutigen und Realisten sehen Joseph Schumpeters „kreative Zerstörung“ am Werk. Das Wort Deindustrialisierung emotionalisiert. Es weckt Ängste und erzeugt Kurzschlusshandlungen in der Politik. Ich bin der Meinung, dass wir eine angemessene Deindustrialisierung brauchen und zulassen sollten. Es gibt vor allem diese fünf Argumente, um die in manchen Ohren womöglich steile These zu begründen:

Erstens ist unser Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt etwa doppelt so hoch wie in anderen hochentwickelten Ländern. Das legt die Vermutung nahe, dass dieser Anteil vielleicht zu hoch ist und niedriger sein sollte. Warum?

Zweitens gehören energieintensive und stark umweltbelastende Industrien nicht nach Deutschland, für sie gibt es geeignetere Standorte. Letztlich geht es in der neuen Globalisierung darum, für jede Aktivität den optimalen Standort zu finden. Am deutlichsten wird das am Beispiel Wasserstoff: Kooperationen mit anderen Ländern, wo zum Beispiel häufiger die Sonne scheint und grüner Wasserstoff günstiger gewonnen werden kann, sind die bessere Lösung als hierzulande um jeden Preis eine übermäßig große Infrastruktur zu schaffen.

Drittes Argument: Auch in der Vergangenheit sind riesige Branchen verschwunden. Ich nenne als Beispiele Textilindustrie, Bergbau und Kameras. Hat uns das geschadet? Nein, im Gegenteil, denn an ihre Stelle traten andere zukunftsgerichtete Sektoren. Und wo immer wir versucht haben, alte Branchen mit Subventionen zu erhalten, wurden Milliarden vergeudet, siehe Bergbau an der Ruhr und an der Saar.

Viertens: Unser Engpass auf Jahre ist und bleibt der Fachkräftemangel. Wo sollen die qualifizierten Fachkräfte herkommen, wenn nicht aus alten Branchen? Ich kenne Unternehmer, die nur darauf warten, dass die rheinischen Braunkohlegruben Mitarbeiter freisetzen. Wir wissen, wie träge die Deutschen im Hinblick auf Jobwechsel sind. Gesunder Druck mag sich für den oder die einzelne hart anfühlen, davor habe ich Respekt. Aber volkswirtschaftlich betrachtet brauchen wir für höhere Produktivität dringend mehr Fluktuation.

Fünftens: Ein weiterer Knappheitsfaktor ist Industrieland. Freiwerdende Areale wie etwa das Opel-Werk in Bochum oder Hoechst in Frankfurt sind längst von neuen Nutzern besetzt. Die Braunkohlegruben zwischen Köln und Aachen belegen riesige Flächen. Dass Microsoft gerade dort große Rechenzentren bauen will, werte ich als Indikator für zukünftige Chancen.

Geht man auf die Unternehmensebene, so könnte ich Hunderte von Beispielen anführen, welche die Sinkflug-Hypothese widerlegen. Eine kleine Auswahl: Apple hat 767 Zulieferer in Deutschland. Die Brennkammern der SpaceX-Raketen werden auf den Systemen des Mittelständlers MK Technology gefertigt. Die Schlüsselkomponenten der Extremen-Ultraviolett-Lithographie-Systeme von ASML sind der Laser von Trumpf und die Optik von Carl Zeiss. Diese Produkte haben faktisch ein Weltmonopol. Deutsche Hidden Champions sind in Hunderten von globalen Märkten führend und bieten Spitzenleistungen. Ich bin trotz der momentan schlechten Zahlen optimistisch im Hinblick auf die Substanz der deutschen Unternehmen und ihrer Fähigkeit, die Phase der kreativen Zerstörung zu meistern.

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