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Personal > Selbstständigkeit

Die Macht der Freien

Für Unternehmen entspannt sich die Lage bei IT-Fachkräften und Pflegezeit­arbeitern etwas. Doch das trügt. Engpässe verstärken sich künftig eher noch.

Pflegekräfte
An die Hand genommen: Pflegekräfte sind rar, deshalb können sie bei Zeitarbeitsfirmen gerade besonders gut verdienen.© picture alliance / Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ZB | Britta Pedersen

Selten haben Soloselbstständige so viel Macht gehabt wie jetzt. Fachkräfte fehlen, besonders in der IT. In nahezu allen Branchen und auch Unternehmen fast jeder Größe werden Freie damit betraut, die Systemadministration zu übernehmen, etwas zu programmieren, den Internet- oder Intranetauftritt zu pflegen oder etwa einen Webshop einzurichten. Dafür können diese Freelancer oft Tagessätze von mehr als 1000 Euro fordern.
Wenig deutet darauf hin, dass sich die Lage grundlegend zugunsten der Unternehmen ändert, externe IT-Experten billiger werden oder sich das Angebot an Spezialisten verbessert. Im Gegenteil. Praktisch alle Unternehmen brauchen IT-Kräfte. Und weil nachrückende Generationen kleiner sind, wird es absehbar auch nicht mehr Spezialisten geben.

Dabei kämpfen selbst sehr gut bezahlte IT-Selbstständige seit Jahren mit dem schwer kalkulierbaren Risiko der Scheinselbstständigkeit. Regelmäßig zweifeln Betriebsprüfer, dass Freiberufler, Kleinstunternehmer oder Kleingewerbetreibende tatsächlich viele Auftraggeber haben und nicht nur überwiegend für einen arbeiten. Jede dritte Überprüfung endet damit, dass der oder die Freie als scheinselbstständig eingestuft wird. Die Sozialkassen fordern dann Geld – von den Beschäftigten und vor allem den Unternehmen, für die die vermeintlich Selbstständigen gearbeitet haben. Eigentlich will der Gesetzgeber mit der Regelung zur Scheinselbstständigkeit verhindern, dass die Freien ausgebeutet werden. Doch oft leben sie mit ihrem Geschäftsmodell sehr gut und wollen es nicht missen.

Mit der Plattformrichtlinie der EU wird die Lage noch einmal unübersichtlicher. Die Richtlinie betrifft auch Arbeitskräfte, die über Online-Plattformen vermittelt werden, darunter Soloselbstständige. Und sie verzichtet auf einheitliche Kriterien, was die Rechtsunsicherheit erhält oder gar erhöht, wie der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland fürchtet. Die Sorge: Firmen kündigen freien Mitarbeitern aus Angst vor teuren Nachzahlungen der Sozialkassen oder Strafen.

„Das ist Zeichen einer bedenklichen Vorstellung, dem ein Zerrbild von Selbstständigen und auch Zeitarbeitern zugrunde liegt“, sagt Oliver Stettes, Leiter des Clusters Arbeitsmarkt und Tarifpolitik des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Zahlreiche frei Tätige haben bereits Firmen gegründet, beispielsweise eine GmbH, die dann die Aufträge annimmt. So soll das Risiko Scheinselbstständigkeit sinken. Als Geschäftsführer mit vielleicht weiteren Angestellten bleiben diese ehemaligen Selbstständigen immerhin dem Markt als Dienstleister erhalten.

Nicht nur Freischaffende haben in den vergangenen Jahren mehr Macht für Verhandlungen gewonnen. Auch Arbeitnehmer diktieren Unternehmen auf Fachkräftesuche mehr und mehr die Bedingungen. In der Alten- und Krankenpflege haben mittlerweile Zeitarbeitsfirmen eine besondere Stellung, locken viele Festangestellte, die ihren regulären Job kündigen und wechseln. Die Folge: Pflegebetriebe müssen noch stärker als ohnehin auf Zeitarbeitsfirmen setzen, um Personal zu bekommen, oder haben große Lücken. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sah deshalb im vergangenen Jahr eine ernsthafte Gefahr für die Patientenversorgung. Zeitweise wurde über ein Verbot der Zeitarbeit in der Pflege debattiert.

Es würde schaden, wie ein IW-Gutachten zeigt. Nur 18 Prozent der insgesamt mehr als 4000 befragten Zeitarbeitskräfte gaben an, dass sie dann zu einem Betrieb wechseln würden, in den die Firma sie geschickt hat. „Hingegen würden 55 Prozent in einen anderen Tätigkeitsbereich wechseln und weitere elf Prozent ihre Erwerbstätigkeit ganz aufgeben“, heißt es im Gutachten. Seit Jahren ist die Verhandlungsmacht auch aufseiten des Pflegepersonals. Es ist gefragt, kann den Arbeitgeber wählen. Und die Beschäftigten entscheiden sich für die besseren Arbeitsbedingungen mit freier Auswahl der Einsatzzeiten und höheren Gehältern – in der Zeitarbeit statt in einem Betrieb.

Kurzfristiger Bedarf

Weder Freiberufler noch Zeitarbeitskräfte konkurrieren mit Festangestellten. „Unternehmen holen sich Freelancer und auch Zeitarbeitskräfte in der Regel für kurzfristigen Bedarf ins Haus“, weiß Stettes. In klar begrenzten Einsätzen federn sie Auftragsspitzen oder Ausfälle ab oder realisieren Innovationsprojekte – und damit Wachstum.

„Während für Unternehmen die Frage ,Make or buy‘ lautet, wägen die Fachkräfte das Gehalt auf der einen und ihr dank hoher Marktpreise sehr gutes Honorar plus ihre Flexibilität und Freiheit dagegen ab“, erklärt Stettes. „Und kommen eben sehr oft zu dem Schluss: Als Freelancer ist die Welt schöner.“ Dabei sinkt die Marktmacht mancher Selbstständigen gerade aus konjunkturellen Gründen. Dem Jimdo-Ifo-Geschäftsklimaindex für Freie zufolge sind sie seit Monaten mit ihrem Auftragsbestand unzufrieden, der schwindet. „Von Optimismus sind die Selbstständigen noch weit entfernt“, sagt Ifo-Expertin Katrin Demmelhuber.

Die Nachfrage ließ auch bei IT-Selbstständigen und Pflege-Zeitarbeitskräften nach. Und insgesamt seien Pflege und IT ja auch kleinere Segmente, sagt IW-Spezialist Stettes. „Aber es sind und bleiben zwei absolute Engpassbereiche, in denen sich eine Macht der Soloselbstständigen daher auch langfristig erhalten wird.“ Und vor allem sind es kritische Bereiche. „Alle wichtigen Entwicklungen, die anstehen – Dekarbonisierung, ökologischer  Wandel – stehen im Zusammenhang mit Digitalisierung“, hebt Stettes hervor. „Und in der Pflege wird die demografische Entwicklung dafür sorgen, dass die Lage im Wesentlichen so bleibt.“

Schon jetzt fehlen im IT-Bereich 149.000 Fachkräfte, wie der Digitalverband Bitkom ermittelt hat. Die Zahl der Engpassberufe ist einer Studie der Bundesagentur für Arbeit zufolge auf 200 von insgesamt rund 1200 bewerteten Berufen gestiegen – ein Rekordwert und ein Plus von einem Viertel binnen eines Jahres. Nur für 153 Berufsgattungen erkennt die Bundesarbeitsagentur derzeit keine Engpässe. Besonderer Mangel herrscht bei IT- und Pflegefachkräften und bei medizinischen Fachangestellten, Kraftfahrern und Kraftfahrzeugtechnikern, Mitarbeitern in Bauberufen oder der Kinderbetreuung und – anders als 2022 noch – auch bei Fachkräften aus dem Hotel- oder Gastronomieservice, Metallbau sowie Busfahrern. 

„Gerade in dieser ungleichgewichtigen Lage muss ich als Einrichtung meine Hausaufgaben machen“, mahnt Stettes. „Die Entwicklung gerade in diesen Engpassbereichen ist ja auch ein Signal, dass die Personalarbeit einfach nicht gut funktioniert.“ Natürlich sei gerade in der Pflege die Frage, wie viel der Gesellschaft Pflege wert sei. „Aber Geld ist nicht alles.“ Einstiegsprämien spielten nur bei 1,3 Prozent der Befragten eine Rolle für den Wechsel in eine Zeitarbeitsgesellschaft. Dagegen nannten 63,5 Prozent der befragten Krankenpfleger den Einfluss auf ihre Dienstpläne als Grund für den Wechsel. 67,1 Prozent der Kranken- und 59,2 Prozent der Altenpfleger und immerhin jeder  dritte Pflegezeitarbeiter hoben hervor, dass sie sich damit nun auch auf ihre Dienstpläne verlassen können. Zwei von drei Pflegezeitarbeitern schätzen die leistungsgerechte Vergütung und mehr als die Hälfte die zusätzliche Wertschätzung. Für Stettes ist klar: „Das sind durchaus Dinge, die ich als Arbeitgeber anders organisieren kann.“ Und so Marktmacht ausspielen.

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