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Personal > Nachweisgesetz

„Ein Akt der Digitalisierungsfeindlichkeit des Bundesarbeitsministeriums“

Die EU wollte mehr Transparenz bei den Arbeitsbedingungen. Und Deutschland baut bei der Umsetzung laut Experten ein bürokratisches Monster. Die ab heute gültigen Regelungen des Nachweisgesetzes treiben viele Mittelständler um. Zurecht, sagt ein Arbeitsrechtler und gibt wertvolle Tipps.

Arbeitnehmer:innen haben Recht auf einen angepassten Vertrag oder eine alternative Dokumentation der Arbeitsbedingungen.Bild: Shutterstock

Statistisch betrachtet hat jeder zehnte Angestellte in Deutschland keinen Arbeitsvertrag. Und auch die übrigen 90 Prozent sollten nicht davon ausgehen, dass mit ihrem Papier alles in Ordnung ist. Die Mängelliste ist länger, als viele denken. Die EU wollte Besserung und setzte einen neuen Standard. Der Bundestag hat am 23. Juni die Vorgaben in einer Änderung des sogenannten Nachweisgesetzes in nationales Recht umgesetzt, das ab heute gilt.
Ab sofort hat jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin das Recht auf einen angepassten Vertrag oder eine alternative Dokumentation der Arbeitsbedingungen, die über die bisherigen Anforderungen hinaus geht. Für Neueinstellungen oder wenn sich der Job nennenswert ändert, besteht die Pflicht automatisch. Der Anwalt für Arbeitsrecht Dr. Ulrich Sittard, Partner bei der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, beantwortet die wichtigsten Fragen.

Herr Dr. Sittard, wie wichtig ist das Nachweisgesetz für Mittelständler?

Alles sollten darüber Bescheid wissen. Durch die neue Bußgeldanordnung von bis zu 2.000 EUR pro Verstoß hört das Nachweisgesetz auf, ein „zahnlosen Tiger“ zu sein. Auf der anderen Seite ist auch nicht davon auszugehen, dass Behörden am 1. August überall vor der Tür stehen. Das Problem ist aber, dass die Unternehmen wahnsinnig wenig Vorbereitungszeit haben – gerade jetzt mitten in der Sommerzeit. Dabei geht es um eine transparente Darstellung von Arbeitsbedingungen. Es ist nicht hilfreich, dass dafür kaum Zeit bleibt. Wir haben gerade sehr viel zu tun und unterstützen Mandanten aller Branchen bei der schwierigen Umsetzung.

Was steckt hinter dem Nachweisgesetz und was kommt auf Firmen zu?

Oft war der Eindruck entstanden, dass nun jeder Arbeitsvertrag angefasst werden muss. Aber das muss nicht unbedingt sein. Das Gesetz verlangt, dass der Arbeitgeber einen schriftlichen Nachweis über die wesentlichen Arbeitsbedingungen erbringt. Das kann er im Arbeitsvertrag in Papierform tun. Er kann mit dem Arbeitnehmer aber auch mündliche Absprachen treffen oder den Arbeitsvertrag mit digitaler Unterschrift abschließen und ihm nachher ein unterschriebenes Papierformdokument zur Verfügung stellen, in dem diese Bedingungen aufgeführt sind. Wir nennen es Nachweisdokument.

Zu welche der beiden Varianten raten Sie?

Aus Sicht des Arbeitgebers raten wir in der Regel zum Nachweisdokument. Jedenfalls dann, wenn die Arbeitsbedingungen komplex sind und sich Regelungen aus Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen ergeben. Der wesentliche Unterschied liegt im folgenden Punkt: Einen Vertrag kann man in der Regel nur ändern, wenn beide Seiten einverstanden sind. Ein Informationsschreiben kann der Arbeitgeber einseitig ändern, wenn sich die Arbeitsbedingungen ändern. Deshalb bleiben viele Großunternehmen, die schon ein bisschen weiter sind, bei den Verträgen und machen ergänzend ein Nachweisschreiben entsprechend mit diesen wesentlichen Arbeitsbedingungen.

Weil es pragmatischer ist? Bei jeder Tätigkeitsänderung den Vertrag anzufassen, wäre ja ein enormer Aufwand.

Absolut. Nehmen wir das Beispiel Arbeitsort: Es gibt Mitarbeiter, die regelmäßig an verschiedenen Orten eingesetzt werden und das auch im Arbeitsvertrag so vereinbart ist. Wenn jetzt ein fester Arbeitsort im Vertrag vereinbart würde, legt sich der Arbeitgeber auf einen Ort fest. Wird der aktuelle Arbeitsort nur im Nachweisdokument genannt, bleibt der Arbeitgeber flexibel.

Was zählt zu den wesentlichen Änderungen?

Die Nachweispflichten sind jetzt detaillierter. Das betrifft z.B. Angaben zu Pausen und zu Schichtarbeit oder zum Anspruch auf Fortbildungen. Viele Pflichten sind aber gleich geblieben. Der Druck kommt jetzt durch die drohenden Bußgelder. Und der Aufwand für die Nachweise ist hoch, weil der Gesetzgeber weiterhin an der Schriftform, also einer handschriftlichen Unterschrift auf Papier, festgehalten hat. Doku-Sign zum Beispiel funktioniert leider nicht.

Oder Nehmen wir die Überstunden. Es muss nun festgehalten werden, was genau besprochen ist. Da werden die meisten einen Satz reinschreiben wie: Ihre Verpflichtung besteht aus betrieblichen Bedürfnissen. Das hilft keinem, weil es unkonkret ist.

Haben Sie ein weiteres Beispiel?

Ein vom Nachweisgesetz unabhängiger Punkt aus dem aktuelles Gesetzespaket ist die Probezeit. Wie lang die ist, steht ja jetzt schon im Arbeitsvertrag. Neu ist, dass jetzt die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein muss. Wer also zum Beispiel eine auf neun Monate befristete Schwangerschaftsvertretung macht, für den oder die ist eine sechsmonatige Probezeit nicht verhältnismäßig. Das ist naturgemäß oft schwammig. Grundsätzlich sollte eine Personalabteilung nun aber aufpassen, dass die Probezeiten bei kurzen befristeten Verträgen nicht zu lang sind. Als Richtschnur sollte gelten: Wie lange braucht eine Führungskraft, um zu merken, ob jemand die Tätigkeit kann oder nicht. Das hat natürlich mit deren Komplexität zu tun.

Welche Neuerungen gibt es bei Kündigungen?

Der Arbeitnehmer soll belehrt werden, was er im Fall einer Kündigung zu tun hat. Das geht es vor allem um die dreiwöchige Klagefrist. Ob die Information darüber in einem Stück Papier am Anfang des Arbeitsverhältnisses viel bringt, wage ich zu bezweifeln. In den Arbeitsvertrag gehört so ein Hinweis jedenfalls meistens nicht. Das sind gesetzliche Vorgaben, die seit langem für alle gleich bestehen und der Hinweis gehört aus meiner Sicht ins Nachweisschreiben.

Ein anderes großes Thema ist die Gehalt-Transparenz, oder?

Wenn man ehrlich ist, gab es die Pflicht zur Transparenz über die Zusammensetzung des Arbeitsentgelts auch bislang schon. Neu sind vor allem die Angaben zur Überstundenvergütung und zur Art der Auszahlung von Entgelt. Das Problem ist das nun eingeführte Bußgeld und dass in der Praxis jetzt auffällt, was für ein riesiger Aufwand vollständige Entgeltnachweise sind. Der Arbeitgeber muss nämlich schriftlich nachweisen, welche Gehaltsbestandteile es gibt und wo deren Rechtsgrundlage ist – in einem Tarifvertrag zum Beispiel. Besonders schwierig ist das, wenn sich viele Entgeltbestandteile aus Tarifverträgen und verschiedenen Betriebsvereinbarungen ergeben. Schichtzuschläge, Wochenendzuschläge und so weiter. Auf all das muss man nun genau hinweisen. Das setzt voraus, dass sich die Unternehmen alle Betriebsvereinbarungen heraussuchen und schauen, welche für wen gilt. Das ist sehr aufwändig.

Und noch komplexer wird es, wenn wir die finanzäquivalenten Gehaltsbestandteile dazu nehmen: Weiterbildung, Firmenwagen, betriebliche Altersvorsorge und so weiter.

Ganz genau. Das muss alles schriftlich in den Arbeitsvertrag oder in das Nachweisdokument. Ein schönes Beispiel, dass es nicht der Realität entspricht, wenn das Bundesarbeitsministerium behauptet, dass der Aufwand für die Unternehmen gering ist. Das Nachweisgesetz ist ein bürokratisches Monstrum, anders kann man es nicht nennen.

Haben das andere EU-Länder besser umgesetzt?

Der deutsche Gesetzgeber hat gesagt, dass Änderungen schriftlich mitgeteilt werden müssen – und geht damit einen Sonderweg. Das sorgt bei digitalisierten internationalen Konzernen nur noch für Kopfschütteln über Deutschland. Digitales wie Emails sind in praktisch jedem Land gangbar, nur bei uns nicht. Das ist in meinen Augen ein Akt der Digitalisierungsfeindlichkeit des Bundesarbeitsministeriums. Und eine unendliche Praxisferne. 

Und ein Misstrauensbeweis gegen die Arbeitgeber, oder?

Ich finde gegenüber beiden Seiten, also auch gegenüber dem Arbeitnehmer. Denn der deutsche Gesetzgeber sagt ja quasi: Ein Dokument, das per Email kommt, nimmt er oder sie nicht richtig wahr oder versteht es nicht. Wohingegen die papierne Post viel besser gelesen wird. Ich halte das für realitätsfern. Wenn ein Arbeitgeber zum Beispiel im digitalen Townhall-Meeting informiert und dann die Unterlagen direkt abrufbar macht oder per Email versendet, dann kommt das in den Köpfen der Mitarbeitenden viel besser an, als wenn Tage später ein Brief ins Haus flattert. Einige besonders wichtige Schreiben gehören auf Papier, zum Beispiel ein Aufhebungsvertrag oder eine Kündigung. Aber wenn die EU hier sagt, digital reicht für den Nachweis, dann hätte Deutschland das auch mal so machen können.

Wie relevant ist das Nachweisgesetz für Mittelständler/Unternehmen im Alltag?

Was völlig unterschätzt wurde ist, wie kleinteilig die Nachweise sein müssen. Auch weil auf unterschiedliche Arbeitsbedingungen für unterschiedlichen Mitarbeitergruppen Bezug genommen werden muss. Für wen gilt in Unternehmen welche Regelung? Das ist gerade in einem Mix aus tarifgebundenen und nicht gebundenen sehr schwierig. Das ist in den fünf Wochen zwischen Beschluss des Gesetzes und Inkrafttreten für kaum ein Unternehmen zu händeln.

Können die Behörden das wirklich nachprüfen oder werden sie nicht eher dann aktiv, wenn ein ehemaliger Mitarbeiter „petzt“?

Allen ist bekannt, dass die Unternehmen nur sehr wenig Vorbereitungszeit hatten – eben vom 23. Juni bis zum 1. August. Ab heute kann die jeweils zuständige Behörde kontrollieren, das aber wahrscheinlich kaum passieren. Aus meiner Sicht  geht es in den kommenden Monaten darum, ein gewisses Bemühen zu zeigen. Wenn es zum Beispiel zu einer Beschwerde durch einen ehemaligen Mitarbeiter kommt, sollte das Unternehmen sagen können: Wir haben uns gekümmert.

Apropos ehemaligen Mitarbeitende: Es soll ja vorkommen, dass man sich Kündigungen vor Gericht trifft oder vorher eine Abfindung verhandelt wird. Hier könnte das Nachweisgesetz für gute Anwälte des geschassten Arbeitgebers nützlich sein, oder?

In der Tat.

Was droht bei Missachtung?

Im worst case läuft ein Unternehmen Gefahr, bis zu 2000 Euro pro betroffenen Angestellten zahlen zu müssen. Das kann sich auch für größere Mittelständler schnell summieren. Unsere Erfahrung ist aber, dass damit von den Behörden und Gerichten verhältnismäßig umgegangen wird.

Welche Rolle spielt der Betriebsrat?

Er kann das begleiten. Auch um klarzumachen, was hinter dem Gesetz genau steckt. Da sind ja auch missverständliche Punkte in der Öffentlichkeit unterwegs. Die Arbeitsbedingungen ändern sich durch das Gesetz nicht. Sie werden nur transparent. Wobei sie dadurch indirekt natürlich auch besser werden könnten.

Ist es für Angestellte immer von Vorteil, wenn alles rund um ihren Job festgehalten?

Oft, aber nicht immer. Nehmen wir zum Beispiel eine neue Vereinbarung zum Arbeitsort oder zur Arbeitszeit. Viele handeln das mit ihrer Führungskraft auf dem kurzen Dienstweg aus. Wer darauf beharrt, dass dich das schriftliche im Nachweisdokument oder Arbeitsvertrag wiederfindet, tut sich eventuell keinen Gefallen. Denn viele Führungskräfte geben dem Wunsch zwar statt, können das nicht schriftlich machen, weil sie im Unternehmen schlafende Hunde wecken.

Welche Rolle spielt, dass wir jetzt einen Arbeitnehmermarkt haben – Stichwort Arbeiterlosigkeit?

Eine große. Die derzeit oft genannte Zeitenwende gibt es auch auf dem Arbeitsmarkt und den Personalabteilungen der Unternehmen bis hin zu konkreten Auswirkungen auf das gelebte Arbeitsrecht. Es werden auf allen Ebenen Mitarbeiter gesucht. Es gibt keine flächendeckende strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer mehr. Umso wichtiger wäre es gewesen, das Gesetz nicht so zu gestalten, dass es enorme Kapazitäten in den Personalabteilungen bindet. Wir hätten die viel mehr gebraucht, um Arbeitsmethoden und Weiterbildung zu modernisieren. Anstatt für ein Gesetz, das wenig bringt.

Herr Dr. Sittard, vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Ulrich Sittard  Rechtsanwalt | Partner ((Presse Christian Seidenabel))
Freshfields Bruckhaus Deringer, Rechtsanwälte Steuerberater PartG mbB
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