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Vergütung > Verdi und EVG

Ein Mega-Streik, um die Gewerkschaft zu retten

Deutschland steckt in unnötigen Riesenstreiks. Doch für die Gewerkschaften Verdi und EVG geht es nicht nur um höhere Löhne. Sie brauchen eine Machtdemonstration und kämpfen um die eigene Existenz. Denn ihnen laufen die Mitglieder in Scharen davon.

Streiks an Bahnhöfen: Der Schaden ist immens.
Streiks an Bahnhöfen: Der Schaden ist immens. Quelle: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

Keine Züge, keine Flüge, keine Busse - mit ihrem beispiellosen Großstreik haben die Gewerkschaften  zum Wochenauftakt versucht, Deutschland lahmzulegen. Der Vorgang verursacht tausendfachen Ärger und millionenschweren Schaden. Dabei handelt es sich offiziell nur um einen „Warnstreik“. Für Deutschland bedeutet dieser Vorgang einen Kulturbruch.

Bislang haben die Tarifpartner hierzulande weithin geordnet und mit Augenmaß um Löhne gestritten. Die dramatische Schnell-Eskalation durch Verdi überrascht die verärgerte Bevölkerung. In Politik und Wirtschaftsverbänden wird der Vorgang weithin als "völlig überzogen" bewertet. Die Kommunen werfen den beiden Gewerkschaften Verdi und der Bahngewerkschaft EVG maßlose Übertreibung vor. "Das Streikrecht wird inflationär ausgereizt", klagt die Verhandlungsführerin der Kommunen, Karin Welge. Die VKA-Präsidentin verweist darauf, dass in der dritten Runde schließlich ein Ergebnis erzielt werden solle. Die Eskalation der Gewerkschaften mache sie "sauer", sagte Welge, die zugleich Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen ist.

Welge ist SPD-Politikerin und normalerweise gewerkschaftsnah positioniert. Doch dieser spektakuläre Vorgang irritiert auch sie: „Das ist nicht der Verhandlungston, den wir pflegen.“ Ähnlich klingt der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter: „Wer so handelt, handelt unverhältnismäßig, und gefährdet die Akzeptanz für das Streikrecht.“

Da dieser Streik den tarifpolitischen Frieden in Deutschland offensichtlich verletzt, stellt sich die Frage nach dem Motiv. Bei Verdi verteidigt man die Früheskalation zum einen mit der Dringlichkeit beim überfälligen Inflationsausgleich. Zum anderen sagt Verdi-Chef Wernke: „Lieber jetzt ein starkes Signal als wochenlange Arbeitskämpfe mit entsprechenden Folgen." Verdi fordert in der laufenden Tarifrunde für die Angestellten von Bund und Kommunen 10,5 Prozent mehr Gehalt, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Die Arbeitgeber wollen keinen Mindestbetrag - und bieten bislang 5 Prozent mehr Lohn über 27 Monate. Die zweite streikende Gewerkschaft, die EVG der Eisenbahner, verlangt mit den gleichen Argumenten ein noch höheres Tarifplus.

Doch es gibt auch verdeckte, interne Motive für die große Streikshow von Verdi und EG: Die Gewerkschaften wollen offensichtlich eine Machtdemonstration, um ihre Bedeutung zu untermauern. Verdi leidet unter massiven Mitgliederschwund und Bedeutungsverlust. Hatte die Gewerkschaft im Jahr 2001 noch 2,8 Millionen Mitglieder, so sind es jetzt nur noch 1,8 Millionen. Der Exodus ist deutlich schlimmer als bei den austrittsgeplagten Kirchen in Deutschland. Im Schnitt kehren 3000 Mitglieder pro Monat Verdi den Rücken. Im vergangenen Jahr 2022 meldete sie 147.300 Abgänge, aber nur 110.400 Eintritte. „Es gibt Betriebe im Niedriglohnbereich, da haben wir innerhalb eines Jahres ein Viertel unserer Mitglieder verloren“, klagt Verdi-Chef Frank Werneke.

Verdi leidet obendrein unter internen Konflikten. Der Gewerkschaft wird von der Basis gerne vorgeworfen, zu politisch ausgerichtet und von einer Funktionärselite dominiert zu sein. Zuweilen kommt es zu Korruptionsvorgängen wie jüngst bei Verdi-NRW, wo Familienangehörige von Verdi-Funktionäre lukrative Aufträge von der Gewerkschaft bekommen haben.
 

Werneke sieht sich daher unter Druck, die Notwendigkeit einer schlagkräftigen Gewerkschaft unter Beweis zu stellen. „Dieser Streik ist eine dreiste Mitgliederwerbe-Aktion von Verdi“, kritisiert ein kommunaler Spitzenmanager aus München. Als der langjährige Verdi-Chef Frank Bsirske abtrat, gab er Werneke die Mahnung mit, er müsse "organisieren, organisieren, organisieren". Die Werbung von Mitgliedern sei die wichtigste Aufgabe für Verdi. Publikumswirksame Aktionen waren in der Pandemie aber nicht möglich. Kurzarbeit, Kontaktbeschränkungen und Homeoffice machten es den Verdi-Vertrauensleuten schwer, Beschäftigte anzusprechen. Nun ist die Pandemie vorbei, und Werneke scheint dem Rat Bsisrkes mit einem großen Paukenschlag zu folgen.

Das gleiche Bild herrscht bei der EVG: Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft entstand 2010 aus einer Fusion von Transnet und GDBA. Damals hatte sie 232.000 Mitglieder, Ende 2022 waren es noch 185.000. Dabei hatte EVG-Chef Klaus Dieter Hommel bei seinem Antritt 2020 steigende Mitgliederzahlen versprochen. Die EVG leidet unter dem Konkurrenzkampf mit der GDL, eine GDL die Hommel nur als „Organisation“, die ohnehin „zum Scheitern verurteilt“ sei.

Die Aktionen der Gewerkschaften scheinen Wirkung zu zeigen: In den Verdi-Büros häufen sich  tatsächlich die Anträge für Neumitgliedschaften. Der Tarifkonflikt mobilisiere die Belegschaften, freut sich die Verdi-Zentrale. Schlagartig habe Verdi plötzlich 70.000 neue Mitglieder verzeichnet. Das ist der stärkste Mitgliederanstieg seit unserer Gründung vor mehr als 20 Jahren", frohlockt Werneke. Dafür gönnt man sich schon mal den größten Warnstreik aller Zeiten.

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