Generationenwechsel im Chefsessel: Wenn Tradition auf Innovation trifft
Wie neue Führungskräfte den Spagat zwischen Erneuerung und Bewährtem meistern und warum Kommunikation dabei der Schlüssel zum Erfolg ist.
In den kommenden Jahren steht die deutsche Wirtschaft vor einer Herausforderung epischen Ausmaßes: Knapp 40.000 Unternehmen suchen jährlich einen Nachfolger, und diese Zahl wird weiter steigen. Der Generationenwechsel in den Chefetagen bringt nicht nur frischen Wind, sondern auch neue Anforderungen an Führungskräfte mit sich. Doch was macht den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern aus, wenn Tradition auf Innovation trifft?
Von Midia Nuri
Es ist keine Frage des Alters. Einer der beiden Renner von Dovo Stahlwaren, das Jens Grudno im Oktober 2020 aus der Insolvenz heraus kaufte, war älter als das Unternehmen selbst.
Die Rasiermessermarke „Bismarck" etwa wurde 1898 eingeführt, Dovo, 1906 in Solingen gegründet, hatte sie 1957 gekauft. Und einige der zehn Mitarbeiter, die Grudno übernahm, waren länger im Unternehmen, als der damals 34-Jährige alt war. Dann war da die Kultur im Unternehmen. „Ich kannte vorher keine Hierarchien oder wenn, dann nur sehr flache", berichtet der geschäftsführende Gesellschafter. „Ich habe mich gefühlt wie ein Jugendlicher, der in ein neues Land kommt und die Sprache nicht kennt", sagt Grudno.
Neue Führung, neue Herausforderungen
Ein typischer Fall. So wie dem neuen Eigner von Dovo geht es vielen jungen Unternehmern oder Führungskräften, die in altehrwürdigen Unternehmen anfangen. Unterschiedliche Vorstellungen und Traditionen, unterschiedliche Herangehensweisen, unterschiedliche Blicke auf die Zukunft. Bei Dovo ist es gut gelaufen. Das Unternehmen beschäftigt heute 17 Mitarbeiter, nach Grudnos Angaben ist es der größte Rasiermesserhersteller weltweit in verkauften Stückzahlen. Doch es lief nicht alles rund.
Der neue Unternehmenschef wollte den Mitarbeitern des Solinger Traditions-Klingenherstellers nach der für sie zuvor unerwartet hereingebrochenen Insolvenz vor allem Vertrauen vermitteln, auch Transparenz. „Ich wollte mit ihnen über alles regelmäßig sprechen und wir haben dafür anfangs drei Meetings abgehalten, montags, mittwochs und freitags", erinnert sich Grudno. Später zwei Meetings wöchentlich. „Mir war wichtig, dass die Leute wissen, was mich beschäftigt, auch welche Probleme anstehen, finanzielle Fragen und auch, dass sie jederzeit selbst mit Problemen oder Ideen kommen können."
Vom Unternehmen war und ist Grudno begeistert. „Das ist ganz tolle Handwerkskunst, und es wurde extrem viel Wissen aufgebaut", erklärte er damals der Berliner Zeitung. „Was dort hergestellt wird, ist extrem schön und qualitativ." Doch es gab kein Marketing, keine aktuelle Webseite, keinen Social-Media-Auftritt und somit einiges zu tun, um die von ihm übernommene Dovo zu pushen. Frische Ideen holte Grudno mit einem Designwettbewerb zusammen mit dem Deutschen Klingen-Museum ins Haus. Auf der Internetseite sind die Produkte längst wirkungsvoll in Szene gesetzt. Videos zeigen online, wie Nutzer ihre Klingen pflegen und schärfen und was sie über die Kunst des Rasierens wissen müssen.
Lernen aus Fehlern: Der Weg zum Erfolg
Aber Grudnos Ansatz hatte auch Tücken. „Wir haben nicht nur das Marketing auf- und das Sortiment umgebaut, sondern auch gleich ein neues ERP-System aufgesetzt", sagt Grudno. „Das hat sehr viele Ressourcen gebunden. Hätte man nicht sofort machen müssen." Schließlich konnte Dovo Rechnungen schreiben und alles Nötige fürs Geschäft erledigen. Stattdessen wäre es anfangs wichtiger gewesen, erst einmal Vertrauen aufzubauen und das Geschäft besser verstehen zu wollen, sagt Grudno rückblickend. „Heute würde ich mehr und länger zuhören und wäre sicherlich weniger aktionistisch."
Ein immer typischer werdender Fall und auch sicher nicht untypische Erkenntnisse einer neu angetretenen Führungskraft im Rückblick. Die Anforderungen an den Führungsnachwuchs sind hoch – unabhängig davon, ob jemand von außen oder innen die Nachfolge an der Unternehmensspitze antritt. Doch über Erfolg und Misserfolg entscheiden von jeher nicht in erster Linie fachliche Fähigkeiten. Und die menschlichen Anforderungen sind besonders gewachsen.
Die Nachfolge-Herausforderung in Zahlen
Aktuell suchen in Deutschland knapp 40.000 Unternehmen jährlich einen Nachfolger oder eine Nachfolgelösung. Mehr als eine Viertelmillion Unternehmen steht in den nächsten fünf Jahren vor der Frage, wie es weitergeht. Die ausscheidenden Babyboomer lassen die Zahl kontinuierlich steigen. Sie hat sich gegenüber dem Zeitraum 2018 bis 2022 um mehr als 20 Prozent erhöht. Knapp jeder dritte Unternehmer in Deutschland ist der staatlichen Förderbank KfW zufolge 60 Jahre oder älter. Rund die Hälfte der Unternehmen bleibt dabei bislang in der Familie. Die andere Hälfte wird an Manager oder Mitarbeiter verkauft, Tendenz steigend. Und eine noch viel größere Zahl an Bereichsleiter- oder Mitgeschäftsführerstellen ist neu zu besetzen.
In zahlreichen Unternehmen legen Inhaberfamilien fest, welche Anforderungen externe wie auch potenziell familieninterne Nachfolger erfüllen müssen, um die Geschäftsführung antreten zu dürfen. Da geht es um den Erwerb fachlicher Kompetenzen in mehrjährigen Ausbildungsgängen inklusive Ausbildung von Management-Fähigkeiten und definierten Praxiserfahrungen. Über die persönliche Eignung der Kandidaten fordern manche Unternehmerfamilien Gutachten an oder zusätzliche, von verschiedenen Familienstämmen benannte und besetzte Organe reden bei der Vergabe des Amtes mit.
Kommunikation als Schlüssel zum Erfolg
„Damit der Übergang für die neue Führungskraft gelingt, sind das Fachliche und natürlich auch Entscheidungsfähigkeit wichtig", sagt Jutta Boenig, Karriereberaterin und Führungscoach in Überlingen am Bodensee. Mindestens ebenso wichtig sind ihrer Erfahrung nach das aufmerksame Zuhören, Anerkennung und Wertschätzung. Aber-Sätze wie „Ja, das ist schon ganz gut, aber wir müssen da und da dran drehen" kämen ganz schlecht an, warnt sie.
Sich im neuen Unternehmen zu orientieren, ist zunächst einmal das Wichtigste. „Viele glauben, sie sind engagiert worden, um Dinge neu zu gestalten", sagt die Beraterin. „Das ist natürlich auch richtig, aber die neuen Chefs dürfen nicht das System aus den Augen verlieren, in das sie hineinkommen." Die Art, in der der Betrieb auch menschlich funktioniere, müssten Nachfolger oder neue Geschäftsführer sowie Bereichsleiter verstehen, ist sie überzeugt. Auch sollten sie sich immer fragen: „Wie ist der Führungswechsel zustande gekommen? Was wird von dem oder der Neuen erwartet? Auch: Gibt es jemanden, der oder die sich selbst Hoffnungen auf den Posten gemacht hat? Vielleicht sogar eine Gruppe von Mitarbeitern, die sich schon entsprechend aufgestellt hat", sagt Boenig. Wer neu in ein Unternehmen komme, sollte für solche Fragen nicht blind sein. Externe müssen also verstehen lernen, wie der Laden tickt.
Kämen Nachfolger oder neue Führungskräfte in eine von Interessenskonflikten geprägte Situation, sollten sie sich nicht entmutigen lassen, sagt die Beraterin, sondern zuhören und ihr Ding machen. „Freundlichkeit, Beharrlichkeit und auch Anerkennung sind dann besonders wichtig." Und wenn es lang gediente Mitarbeiter und womöglich auch Kandidaten mit enttäuschter Ambition gibt? „Ruhig auch mit dem ein oder anderen mal einen Kaffee trinken gehen", rät Boenig, „aber nicht sofort, besser erst nach zwei oder drei Monaten." Mindestens drei Monate sollte jeder neue Chef oder Bereichsleiter, Mitgeschäftsführer oder geschäftsführende Gesellschafter besonders bewusst auf seine Kommunikation achten.
Das neue Gesicht der Führung
Die starke Betonung der kommunikativen Führungsanforderungen bestätigt eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. „Zu dieser starken Betonung des Beziehungsaspekts passt auch die ablesbare Veränderung des Rollenbilds von Führung, die für die post-pandemische Zeit erwartet wird", erklärt Josephine Hofmann, Leiterin des Teams Zusammenarbeit und Führung und Mitautorin der Studie über Anforderungen an Führungskräfte im „New Normal". Mit 69,8 Prozent und stark an Bedeutung zunehmend nannten die Befragten die Rolle der Führungskraft als Veränderungsbegleiter. Ebenfalls an Bedeutung gewinnt die Führungskraft als Entwicklungsbegleiter mit 53,3 Prozent.
Dahinter stehe die Erwartung, dass die Zukunft vor allem von schnellen Veränderungen, den damit verbundenen Unsicherheiten und der erforderlichen raschen Anpassungsfähigkeit hieran geprägt sein wird, stellt Hofmann fest. „Kommunikation und Vertrauen sind die wichtigsten Kompetenzen zukünftiger Führung." Auf der Liste der wichtigen Führungsanforderungen steht die Fachkenntnis erst auf dem zwölften Rang.
Im Kontakt und im Gespräch mit den Beschäftigten im neuen Unternehmen zu bleiben, ist also für den neuen Chef besonders wichtig. Warum, das zeigt eine Studie der Employee-Experience-Plattform Culture Amp, die Daten von 1,7 Millionen Beschäftigten weltweit von April 2022 bis April 2024 untersucht hat. Sie ergab, dass Engagement und Vertrauen von Mitarbeitern in die Führungskräfte sinken, wenn eine neue Führungskraft im Topmanagement ihre Arbeit aufnimmt. Vor allem bei jenen Beschäftigten, die am weitesten von der neuen Führungskraft entfernt sind. Und besonders wenn sie von außerhalb des Unternehmens kommt. Um den Effekt abzumildern, empfehlen die Autoren, dass sich Führungskräfte an die gesamte Belegschaft wenden und nicht nur die direkt unterstellten Mitarbeitenden im Blick haben. „Alle sollten sich in der Aufbauphase verbunden und informiert fühlen", raten sie. Stabilität und Kontinuität seien ebenso von Vorteil, wie proaktive Unterstützung. „Sicherheit ist für die Belegschaft das Allerwichtigste", bestätigt Boenig.
Vertrauen aufbauen: Ein Prozess mit Hindernissen
„Mit manchen Mitarbeitern bin ich sehr schnell in einen vertrauensvollen Kontakt gekommen", berichtet Dovo-Geschäftsführer Grudno. „Manche waren aber auch sehr reserviert, da hat es zwei bis drei Jahre gedauert, bis ein Vertrauensverhältnis da war." Trotz der wöchentlichen zwei bis drei Treffen mit dem ganzen Team. Anfangs führte Grudno zusätzlich alle zwei Monate mit jedem seiner zehn Mitarbeiter ein zeitunbegrenztes Gespräch.
„Es ist schade, dass wir das nicht noch länger gemacht haben", sagt er. „Es hat sehr viel gebracht." Auch das nennt er eine wichtige Lernerfahrung. „Bei einem nächsten Mal würde ich erst einmal nur ändern, was nicht läuft", sagt Grudno „und was so lala läuft, würde ich vielleicht länger so lassen – und dafür die Kommunikation noch mehr priorisieren."
Enger Austausch: Schlüssel zum Verständnis
Gerade für fachfremde Geschäftsführer ist der enge Austausch besonders wichtig, weiß er. „Und eine Herausforderung in einem so traditionellen Betrieb wie unserem, in dem die Leute in der Produktion beispielsweise nicht gewohnt waren, dass ihnen etwas erklärt wird oder sie selbst etwas erklären müssen", sagt Grudno. „Aber ich muss nachfragen, warum eine Paste besonders ist und auch das ein oder andere zur Stahlhärte erklärt bekommen, um zu verstehen, was auf keinen Fall wegfallen oder ersetzt werden darf. Als Geschäftsführer muss ich Prozesse sehr tief verstehen lernen, um sinnvoll optimieren zu können."
Für diesen Lernprozess ist er auf die Kommunikation mit seinen Mitarbeitern angewiesen. Für die wiederum ist herausfordernd, dass ihr Geschäftsführer einen Teil der Woche von zu Hause aus arbeitet, das weiß Grudno. Wenn er da ist, sei die Hemmschwelle niedriger. Zu vermitteln, dass sie ihn auch im Homeoffice jederzeit anrufen können, daran arbeitet er immer noch.
Besonderheiten in Familienunternehmen
Diese grundlegenden Anforderungen und Tipps für einen erfolgreichen Einstieg gelten laut Boenig für familieninterne wie auch familienexterne Nachfolger gleichermaßen. „Wenn es um eine Führungsposition in einem Familienunternehmen geht, steigt natürlich die Komplexität", sagt sie. Und dann gibt es ihrer Erfahrung nach noch ein paar zusätzliche Fallen, die Sohn oder Tochter als Nachfolger umgehen müssen. Auch sie sollten zunächst auf eine sorgfältige Übergabe Wert legen, Vertrauen aufbauen und viel zuhören, auch wenn sie das Unternehmen vielleicht schon von klein auf kennen.
„Zusätzlich sollten Angehörige der nächsten Generation auf jeden Fall der Versuchung widerstehen, in die Rechtfertigungsschleife zu gehen", sagt Boenig. Dafür, was sie anders machen oder wie sie sich entwickelt haben. Wichtig sei gerade für familieninterne Nachfolger auch, dass sie versuchten, einer auch gut gemeinten Beeinflussung durch ihren Vater oder auch ihre Mutter als Vorgänger zu entgehen.
Die richtige Wahl treffen: Mehr als nur ein Job
Bei aller Begeisterung über die sich bietende Chance sollten sich alle angehenden Nachfolger vor einer Zusage für die Position auch fragen, ob die Stelle, das Unternehmen und auch die Region wirklich zu ihnen und ihrem Leben passen.
„Erstmal die Familienkonferenz einberufen oder ausführlich mit der Partnerin oder dem Partner sprechen", rät Boenig. Die Provinz, in der ja der überwiegende Teil der Mittelständler sitzt, solle keiner unterschätzen, warnt sie. Jede Region sei unterschiedlich und könne zum einen passen und zum anderen nicht. „Erst Regionalfernsehen anschauen, in die Geschäfte gehen, sich ein bisschen vor Ort bewegen." Und vorher und nachher überlegen, ob man sich das vorstellen kann. „Wer von außen kommt, kennt niemanden, sollte sich aber bewusst machen: alle kennen sich", sagt Boenig.