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Personal > Fachkräftemangel

Kommt ein neuer Gastarbeiter-Boom?

Egal, ob bei der Rente oder auf dem Arbeitsmarkt: Ohne Zuwanderer kommen weder die Altersvorsorge-Systeme noch die Betriebe in Deutschland länger klar.

An sich ist das Problem alt und an der Lösung wird seit langem gedoktert: Den Betrieben in Deutschland fehlen Fachkräfte. Knapp 270 000 sind es derzeit, so lautet die Schätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). Vor allem Zuwanderer könnten dem Mangel abhelfen. Entsprechende Regelungen für die Einwanderung von Fachkräften hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht.

Jetzt allerdings geht die Diskussion einen Schritt weiter: Eine neue Studie des IW, die in dieser Woche erschienen ist, analysiert die Altersstruktur in den 401 Stadt- und Landkreisen Deutschlands. Ergebnis: Überall ist die Gruppe der 60- bis 64-Jährigen größer als die Gruppe der 15- bis 19-Jährigen. Man muss kein Rechengenie sein, um daraus abzuleiten: Die Älteren werden bei ihrem Renteneintritt eine Lücke am Arbeitsmarkt hinterlassen, die die Jüngeren nicht schließen können. "Ohne Zuwanderung könnte es deswegen von 2019 bis 2024 in allen Regionen mehr Renteneintritte als Arbeitsmarkteintritte geben", schreiben die IW-Forscher. Das ist auf längere Sicht fatal für das Rentensystem und unmittelbar schlecht für die Betriebe: Sie können Aufträge gar nicht erst annehmen, weil sie nicht wissen, wie sie die abarbeiten sollen. Jeder, der in den vergangenen Monaten versucht hat, einen Handwerker zu finden, weiß, dass die Theorie der Wissenschaftler in der Praxis bereits Auswirkungen zeigt. Die Forscher plädieren deswegen dafür, "dauerhaft eine hohe Zahl qualifizierter Zuwanderer zu gewinnen". Kommt also ein neuer Gastarbeiter-Boom?

Handwerker dringend gesucht

Die IW-Zuwanderungsexperten knüpfen an eine Entwicklung an, die es hierzulande schon einmal gegeben hat. Mitte der 1950er-Jahre, als ein rasantes Wirtschaftswachstum zu einem Arbeitskräftemangel führte, hatte die Bundesrepublik begonnen, gezielt Arbeitnehmer im Ausland anzuwerben. 1955 wurde der erste Anwerbevertrag mit Italien geschlossen. Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei und anderen Ländern folgten. Die meisten von ihnen sind inzwischen Mitgliedsstaaten der EU und ihre Bürger haben das Recht, in jedem EU-Land eine Arbeit aufzunehmen, ohne dass es dafür besonderer Regelungen bedarf. 1964 wurde der einmilllionste Gastarbeiter in Deutschland begrüßt und mit einem Motorrad beschenkt. 1973, als in Folge der Ölkrise ein Anwerbestopp verhängt wurde, lebten knapp vier Millionen Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland.

In den Boomjahren wurden damals Arbeitskräfte angeworben, um Stellen in der industriellen Massenfertigung, der Schwerindustrie und dem Bergbau zu decken, die es heute nicht mehr gibt. Dabei handelte es sich überwiegend um Tätigkeiten, die nur geringe Qualifikationsanforderungen stellten, heißt es in einem Bericht der Bundeszentrale für politische Bildung. Es sollte lediglich der Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskräften während der Hochkonjunkturphase überbrückt werden. Der Anwerbestopp von 1973 stellte dann die ausländischen Arbeitskräfte, die nicht aus einem Land der damaligen EWG stammten, vor die Entscheidung, entweder zurückzukehren oder sich auf einen längerfristigen Aufenthalt einzurichten und die Familie nachzuholen. Zu Beginn der 1990er-Jahre war die Zuwanderung wieder angestiegen und sogar höher als 1970, dem Jahr mit dem höchsten Zuzug an Gastarbeitern. Der Fall des Eisernen Vorhangs, Kriege im ehemaligen Jugoslawien sowie die sich zuspitzende Lage im kurdisch besiedelten Teil der Türkei verursachten diese Entwicklung, die zu ablehnenden Reaktionen in Deutschland bis hin zu pogromartigen Protesten führte. Die Diskussion flammte 2015 erneut auf, als massenhaft Migranten aus Nordafrika nach Europa und Deutschland kamen. Die AfD feierte hier ihren Aufstieg, in dem sie die Ängste der Menschen vor Einwanderern bediente.

Einwanderung schürt Ängste

Vor diesem historischen Hintergrund ist jede Debatte um mehr Einwanderer mit unterschiedlicher Qualifikation brisant, und die Parteien vermeiden mit Blick auf die Bundestagswahl möglichst eine Diskussion, die über den Zuzug hochqualifizierter Fachkräfte hinausgeht, die in den Betrieben gebraucht werden. Bislang gilt: Wer kein konkretes Arbeitsplatzangebot vorweisen kann, darf nicht kommen. Zudem muss die Bundesagentur für Arbeit zustimmen. Eine Aufenthaltserlaubnis kann außerdem aufgrund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung erteilt werden: Solche Regelungen gibt es mit Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Serbien und der Türkei. Arbeitnehmer aus diesen Staaten können im Rahmen fest vereinbarter Kontingente für eine begrenzte Zeit in Deutschland arbeiten. Es könnte allerdings angesichts der demographischen Entwicklung und der angespannten Lage etwa in der Baubranche passieren, dass diese strikte Linie aufgeweicht wird.

Anwerbung von Pflegkräften zieht wieder an

Eine Ausnahme gilt bereits für Pflegekräfte, die die immer älter werdenden Deutschen versorgen sollen, wenn sie es selbst nicht mehr können. In diesem Bereich werden ebenfalls deutlich mehr Kräfte gebraucht werden, als zur Verfügung stehen. Vor zwei Jahren hatte Bun-des¬ge¬sund¬heits¬mi¬nis¬ter Jens Spahn (CDU) Anwerbe-Initiativen im Kosovo, auf den Philippinen und in Mexiko gestartet, weil in Deutschland Fachkräfte in der Pflege fehlen. Eine neue Fachkräfteagentur (DeFa) wurde gegründet, um Pflegefachkräfte schneller nach Deutsch¬land zu holen. Die Agentur mit Sitz in Saarbrücken kümmert sich um Visaanträge, die Anerkennung von Berufserlaubnissen, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen. Coronabedingt war das letzte Jahr allerdings wenig erfolgreich, räumt Thorsten Kiefer, Geschäftsführer der DeFa ein. Im Jahr 2020 habe die Auslandsanwerbung dadurch gelitten, dass aufgrund der Kontaktbeschränkungen Sprachkurse auf online-Formate umgestellt werden mussten und Sprachprüfungen nur schwer zu organisieren waren. Inzwischen ziehe die Auslandsanwerbung "spürbar an". Allerdings regulierten Länder wie die Philippinen, sehr genau, wie viele Fachkräfte das Land jährlich als Arbeitsmigranten verlassen dürfen. Von einem Gastarbeiter-Boom wie in den sechziger und frühen siebziger Jahren ist Deutschland damit noch ein Stück entfernt.

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