Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Personal >

Löhne: Ein großer Schluck aus der Pulle, der nicht satt macht

Weil es an Fachkräften mangelt und die Auftragsbücher voll sind, steigen Löhne und Gehälter stärker als in den vergangenen Jahren. Die ersten Forderungen der Gewerkschaften liegen auf dem Tisch. Doch den Menschen bringt das nichts. Inflation und Energiekosten fressen die Lohnerhöhungen auf. Unterm Strich bleibt weniger übrig.

Was verdient der Nachbar? Viele Deutsche wüssten das gerne, die wenigsten kennen die Zahl. Nach wie vor ist das Gehalt ein Tabu. Und deswegen ist es auch allenfalls ein Tuschelthema: Viele Beschäftigte blicken inzwischen auf zwei flaue Jahre zurück – geprägt von der Corona-Pandemie, die massenhafte Kurzarbeit bedeutete. Eine echte Gehaltserhöhung sahen in der Krise nur wenige. Das belegen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Demnach lag der Nominallohnindex in Deutschland im 3. Quartal vergangenen Jahres 3,9 Prozent über dem Wert des Vorjahresquartals. Der Index bildet die Entwicklung der Bruttomonatsverdienste einschließlich Sonderzahlungen ab. Weil die Verbraucherpreise im selben Zeitraum ebenfalls um 3,9 Prozent stiegen, ist der Zuwachs der Löhne komplett durch die Inflation aufgezehrt worden. „Es gab keine Reallohnsteigerung gegenüber dem Vorjahr“, erklärt Susanna Geisler, Statistikerin des Bundesamtes.


Eigentlich sollte sich das in den nächsten Monaten ändern. In Deutschland sind beispielsweise die Auftragsbücher im Maschinenbau so voll wie schon lange nicht mehr. Europa stand vor dem Aufschwung, der auch die Löhne nah oben gezogen hätte. Doch dann kam der Krieg in der Ukraine. Bricht jetzt erneut Zurückhaltung aus? Danach sieht es nicht aus. Bei den geradegestarteten Verhandlungen in der Chemiebranche fordert die Gewerkschaft eine „Investitionsoffensive“ der Arbeitgeber, die sich auch auf die Löhne auswirken soll. Steigen müssen sie, so lautet die Forderung, mehr als die Inflation. Und die liegt derzeit bei 4,9 Prozent.


Damit tritt ein, was Ökonomen befürchten: Die Gewerkschaften entfachen mit hohen Forderungen die Inflation weiter an. Ihr Argument: „Das ist eine Preis-Lohn-Spirale und nicht umgekehrt“, sagt Roman Zitzelsberger. Der Stuttgarter IG-Metall-Chef will im kommenden Herbst in seiner Branche die Tarifverhandlungen anführen. Er meint: Die Löhne treiben nicht die Preise, sondern die Preise die Löhne. Das Ergebnis ist allerdings das gleiche. Die Inflation steigt.


Allerdings gibt sich Zitzelsberger gemäßigt. Zwar sieht er ein höheres Entgelt als das zentrale Thema, doch er dämpft allzu forsche Erwartungen. „Aktuell gibt es viele Faktoren, die die Wirtschaft einbremsen können. Daher ist es ratsam, auf Sicht zu fahren“, sagt Zitzelsberger. Tarifverträge seien auch nicht dazu gedacht, Fehlentwicklungen bei den Preisen auszugleichen. Zitzelsberger sieht hier die Politik in der Pflicht und mahnt angesichts explodierender Energiekosten entschlossenes Handeln an: „Mit ein paar Gutscheinen ist es hier nicht getan.“


Die Personalkosten werden aber auch unabhängig vom Ausgang der Tarifverhandlungen deutlich anziehen. Treiber ist der Kampf um die besten Köpfe. In der aufstrebenden Region Ulm mit einer Arbeitslosenquote unter drei Prozent nennen die Mitglieder der dortigen IHK den Personalmangel aktuell in einem Atemzug mit den gravierenden Lieferengpässen. Dem Münchener Ifo-Institut zufolge fehlten noch nie so vielen Firmen Fachkräfte wie derzeit. Nach einer aktuellen Befragung geben gut 80 Prozent der Personalleiter an, dass sie 2022 auf der Suche nach Fachkräften sind. Ein nahezu genauso großer Teil rechnet damit, dass die Löhne um durchschnittlich 4,7 Prozent zulegen. 21 Prozent erwarten gleichbleibende Löhne, sinkende Löhne werden nur vereinzelt prognostiziert. „Im Dienstleistungsbereich wird der Lohnanstieg mit durchschnittlich 5,8 Prozent voraussichtlich am höchsten ausfallen“, heißt es im Bericht des Instituts. Dagegen erwarten Industrie- und Handelsbetriebe Lohnsteigerungen um durchschnittlich vier Prozent.


Auch Korbinian Nagel vom Jobvermittler Stepstone führt den Faktor Arbeitsmarkt ins Feld. „Unternehmen konkurrieren um immer weniger Bewerber, was sich in den Gehaltsniveaus niederschlägt.“ Schon heute entscheide das richtige Gehalt und der transparente Umgang damit darüber, ob sich Jobsuchende für einen Arbeitgeber entschieden. „Der Faktor Gehalt wird in Zukunft noch stärker zum strategischen Hebel im Kampf um die besten Mitarbeiterinnen“, meint Nagel.


Die geplante Erhöhung des Mindestlohnes dürfte die Gehälter zusätzlich treiben. Zum 1. Oktober soll der Mindestlohn auf zwölf Euro steigen – 23,7 Prozent mehr als derzeit. Damit will die Ampel-Koalition ein zentrales Wahlkampfversprechen einlösen. Während die Bevölkerung zustimmt, lehnen zahlreiche Wirtschaftsverbände das Plus lautstark ab. Ein höherer Mindestlohn sorgt gerade in der Gastronomie oder im Einzelhandel für bessere Bezahlung, aber auch bei Dienstleistern generell. Experten erwarten, dass nicht nur jene profitieren, dessen Stundenlohn bisher unter zwölf Euro liegt, sondern auch Beschäftigte oberhalb des neuen Mindestlohns. Andernfalls liefen Arbeitgeber Gefahr, diese Kräfte zu verlieren.
Für Stefan Kooth, Leiter des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Kieler Institut für Weltwirtschaft, ist die Europäische Zentralbank (EZB) der Preistreiber. Die Notenbanken könnten sich nicht mit dem Verweis auf Dekarbonisierung und demografischen Wandel herausreden und deshalb die Preise laufen lassen. Seiner Ansicht nach muss die EZB endlich den „Fuß vom Gas nehmen“, und meint damit die Politik des billigen Geldes. „Sonst droht die Wirtschaft noch zu überhitzen.“ Dies kündigte sich auch an – bis der Ukraine-Krieg kam. Seither übertrifft bei der EZB die Sorge vor einem wirtschaftlichen Einbruch ihre Entschlossenheit zu Zinsschritten.


Das IW rechnet für 2022 mit einer Teuerungsrate von vier Prozent. „Die gestiegenen Erzeugerpreise sind am Markt noch nicht angekommen“, warnt Kooth. Dazu kommen die galoppierenden Energiepreise. Am Ende könne man die vier Prozent sogar noch übertreffen. Damit ist klar: Es gibt einen großen Schluck aus der Pulle, doch angesichts der Inflation wird er niemanden satt machen.

Ähnliche Artikel