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Personal > Krankheit verhindern

Was der Chef tun sollte, wenn Mitarbeiter Probleme haben

Die Dauerkrise verlangt immer mehr Opfer: Die Menschen sind erschöpft. Ein Ratgeber, wie Führungskräfte sich selbst und ihre Leute schützen können.

Der Mittelstand stellt kräftig ein.

Eine starke, erfahrene Marketingfrau kann in der Teams-Konferenz mit der Bereichsleitung ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie hat einen Fehler gemacht, und der ist aufgefallen. Es ging hoch her, der schwäbische Automobilzulieferer hatte kurzfristig doch noch Budget rausgehauen, das bis zum 31. Dezember verbraucht werden musste. Mareike G. (Name geändert) sollte Inhalt und Produktion neuer Broschüren und Homepagetexte koordinieren. Ein Berg von Arbeit unter Zeitdruck. Aber die Mittvierzigerin konnte einfach nicht mehr. Ihre drei Kollegen in der Konferenz tun so, als merkten sie nichts. Denn sie leiden unter derselben Krankheit.

 

Es herrscht wieder „Jahresendfieber“ im Land. Das Geld muss raus, die Rechnungen bis Weihnachten verbucht werden. Alle Beteiligten beißen die Zähne zusammen und wurschteln sich durch. „Ich gebe es ja zu“, sagt Mareike G., „ich bin müde. Meine Konzentration und Kreativität haben unter all den betrieblichen und psychischen Corona-Umständen gelitten. Aber der Druck in meinem Unternehmen ist so hoch, dass ich kündigen werde.“ Das wiederum wissen ihre Kollegen noch nicht von der Frau, von der alle dachten, sie haue nichts um.

 

Deutschland starrt wie hypnotisiert auf die Energiepreise. Und übersieht dabei die zweite Energiekrise: Deutschland ermüdet. Getrieben von existenziellen Sorgen, unterschätzen viele Betriebe die Folgen mangelnden emotionalen, körperlichen und sozialen Wohlbefindens auf die Leistungsfähigkeit ihrer Belegschaft – vom Azubi bis zur Führungskraft. Kurt Krömers Buch „Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“ steht nicht ohne Grund seit 35 Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Der Künstler beschreibt darin seinen Weg in die Depression und aus ihr heraus. In Sätzen wie „Ich habe einfach immer gesagt, dass es mir gut geht“ findet sich halb Deutschland wieder.

 

Wie viel Druck, Sorgen und Existenzangst kann eine stabile Seele verkraften? Die Corona-Pandemie schürte die Angst um die Gesundheit, der Lockdown war eine bizarre, nie zuvor erlebte Bedrohung. Dann stellten Lieferkettenprobleme erprobte Unternehmensprozesse auf den Kopf. Als Reaktion darauf mussten die einen Unternehmen drei Schichten fahren, die anderen Kurzarbeitergeld beantragen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine weckte die Urangst vor einem Krieg, und 2023 wird selbst die Gasrechnung zur Bedrohung werden.

Längst verschwimmen bei vielen Menschen die Grenzen zwischen Erschöpfung und Depression. Für Männer und Frauen, Jüngere und Ältere, Mitarbeiter und Führungskräfte wird das Tagwerk zur Belastungsprobe. Der AOK-Fehlzeiten-Report 2022 zeigt: Die Ausfälle wegen psychischer Erkrankungen steigen von Jahr zu Jahr. Dabei schleppen sich zugleich immer mehr Menschen krank zur Arbeit. Zum Beispiel solche, die sich von einer Corona-Infektion nur mühsam erholen.

 

Wiebke Arps berät als Gesundheitsbeauftragte bei der Techniker Krankenkasse (TK) Unternehmen, die ihrer Belegschaft etwas Gutes tun wollen. Aus langjähriger Erfahrung sagt sie: „Die Hauptbelastung der Menschen ist eindeutig ihre Arbeit. Der Stress aus dem Privatleben kommt nur noch obenauf.“

 

Wohin mit dem Kummer?

 

Gerade das Alter von 12 bis 20 Jahren gilt als besonders gefährdete Phase für die Entwicklung psychischer Störungen. So fühlten sich schon Ende 2020 rund 40 Prozent der Studenten und Auszubildenden durch die Corona-Pandemie stark gestresst. Ihnen mangelte es nicht nur an sozialen Kontakten. Viele der in einer Forsa-Studie befragten 16- bis Ende 20-Jährigen fürchteten auch um ihre Fortschritte in der Ausbildung. Zwei Drittel der Azubis gaben an, immer häufiger demotiviert zu sein. Fast 40 Prozent zeigten depressive Symptome, berichteten über Schmerzen, Verspannungen und Schlafprobleme.
Wohin mit dem Kummer? Hamburger Berufsschüler finden Hilfe im Beratungszentrum Berufliche Schulen (BZBS). Dort beraten Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter telefonisch, virtuell und persönlich. „Manchmal ist es leichter, außerhalb der Schule oder des Ausbildungsbetriebs Unterstützung zu suchen und sich mit seinen Problemen mitzuteilen“, formulieren es die Organisatoren diplomatisch.
Auch „Dr. Azubi“ hat viel zu tun. Über dieses Online-Portal des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) können junge Menschen konkrete Unterstützung bekommen. Schnell und kostenlos. „Die Zahl psychisch erkrankter Auszubildender hat sich im letzten Jahr deutlich erhöht, die Anfragen häufen sich. Vor allem junge Frauen leiden“, beklagt Kristof Becker, DGB-Bundesjugendsekretär. „Noch immer sind die Ausbildungsbedingungen in weiblich dominierten Berufen schlechter. Ein Drittel der Auszubildenden dort gibt an, sich nach der Ausbildung nicht erholen zu können – in den männlich dominierten sind es nur 19 Prozent.“
Die Statistik zeigt: Je älter die Beschäftigten werden, umso stärker nehmen psychische Erkrankungen und daraus resultierende Fehlzeiten zu. Die Seele ruft Hilfe, wenn der Kopf schmerzt, der Rücken klemmt oder Magen- und Darmbeschwerden peinigen. „Das trifft sehr häufig Menschen, die zusätzlich zum Beruf auch noch Care-Arbeit in der Familie leisten“, sagt die Pflegeexpertin Katharina Volkmer, Chief Strategy Officer bei Nui Care.

 

Die Generation der 30- bis 50-Jährigen hat anstrengende Kleinkinder oder Teenager im Haus. Die 50- bis 65-Jährigen müssen sich verstärkt um ihre alternden Eltern kümmern. Wer Pech hat, den erwischt die Verantwortung für Kinderbetreuung und Altenpflege gleichzeitig. Das werden immer mehr, weil die geburtenstarken Jahrgänge ihre Kinder später als die vorherigen Generationen bekamen. Wenn dann noch Überarbeitung im Beruf und Existenznot hinzukommen, sind körperliche und psychische Überlastung die logische Folge. „Um dieser Spirale zu entkommen, müssen sich auch die Pflegenden selbst klar werden: Was kann ich leisten, was nicht und wo bekomme ich Hilfe?“ Das können Netzwerke, ein Coach oder ein Therapeut sein. Nur gegenüber dem Chef rät Volkmer erst mal zur Zurückhaltung – vor allem in einem toxischen Umfeld. „Das ist schade, denn es zeugt doch von Stärke, auch im Beruf rechtzeitig um Unterstützung bitten zu können“, findet sie. Sie pflegte selbst Angehörige.

 

„Extrem hardcore“

 

„Ich weiß es doch auch nicht!“ Ein Satz, den viele Führungskräfte inzwischen ausgestoßen haben. Die meisten im Selbstgespräch. Denn des Managers Dreiklang lautet: Optimal performen, Team motivieren und KPIs erfüllen. Schwäche zeigen, kommunizieren und Hilfe holen gelten immer noch nicht als Ausweis von Führungsstärke. Mancher bewundert im stillen Kämmerlein eher die Härte eines Elon Musk. Der teilte der entgeisterten Belegschaft des von ihm übernommenen Kurznachrichtendienstes eben erst mit: Twitter müsse „extrem hardcore“ werden, um die Herausforderungen – und die Ansprüche des reichsten Mannes der Welt – zu erfüllen. Nur Ausnahmeleistungen könne er als ausreichend bewerten. Wer möchte da noch bei Twitter arbeiten?

Nicht alle Chefs kommunizieren intern wie extern so offen ihre eigene Erschöpfung wie die Unternehmerinnen Lea-Sophie Cramer, ­Gründerin des Erotikhändlers Amorelie, oder Verena Bahlsen, die jüngst ausgestiegene Führungskraft im gleichnamigen Familienunternehmen. Ist es Zufall, dass vor allem Frauen reden? Dabei helfen gerade kommunizierende Chefs und Chefinnen ihren Mitarbeitenden, sich selbst zu öffnen. Zu reden über den steigenden Druck durch immer höher gelegte Ziele, über wertschätzende Worte, für die keine Zeit mehr ist, oder über den Verlust des Teamgeistes im Homeoffice.

 

Es braucht keine aufwendigen Mitarbeiterbefragungen oder externe Analyseworkshops, um ehrliches Teamfeedback zu bekommen. Wer Augen und Ohren hat, um zu sehen und zuzuhören, der erfährt, wo es brennt, und kann schneller reagieren. Schon vermeintliche Kleinigkeiten verbessern das Arbeitsklima. Klare Absprachen, wie schnell Mails beantwortet werden müssen, verringern Druck, individuellere Arbeitszeiten und eine bessere Verteilung der Arbeitslast auch. „Loud Leaving“, die skandinavische Kultur, bei der auch Chefs rechtzeitig Feierabend machen und für Überstunden keine Fleißsternchen vergeben, nützt mehr als der firmenfinanzierte Download einer Meditations-App à la Headspace.

 

Chefs schaden sich selbst

 

Auch Führungskräfte, die nur warme Wort finden, machen sich unglaubwürdig. „Sie schaden sich auch selbst“, ist sich Pragmatikern Arps von der Techniker Krankenkasse sicher. „Die schönsten KPIs nutzen nicht, wenn die Menschen darunter zusammenbrechen.“ Führungskräfte sollten ihre Mitarbeitenden vielmehr aktiv danach fragen, was sie belaste und welche Ursachen sich positiv verändern ließen. Das nutze allen Beteiligten nachhaltig, weil Leistungsfähigkeit, Output und Unternehmenskultur davon profitierten.
Wie werden Psychologen und Volkswirte in einer Dekade auf die von den Krisenjahren angestoßenen Veränderungen zurückblicken? Schon jetzt zeichnen sich viele Konsequenzen ab. Wird es nur der Blick auf die steigende Zahl psychisch Erkrankter sein? Auf um ihre Existenz kämpfende Unternehmen und auf die deutsche Volkswirtschaft, die mit Rezession und Inflation rang?

Vielleicht ist es aber auch ein positiverer Blick. Denn die Corona-Pandemie hat Deutschlands Unternehmen einen kommunikativen Digitalisierungsschub verpasst, den auch der uneinsichtigste Chef nicht mehr umkehren kann. Lieferketten­dramen haben neue Zulieferer ins Spiel gebracht und Sicherheit durch regionale Nähe kann vermeintlich günstigere Einkaufspreise wieder schlagen. Die Energiekrise beschleunigt den Ausbau erneuerbarer Energien mehr als jeder Parteitag der Grünen. „Und Unternehmen, die sich glaubwürdig für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden engagieren, haben seitdem viel weniger Probleme als ihre Mitbewerber, Fachkräfte anzuheuern“, ist sich Wiebke Arps sicher.

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