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Management > Transformation bei Maschinenbauer Nagel

Neue Aufgaben für Betriebsräte

Mehr Elektromobilität, mehr Nachhaltigkeit, andere Märkte: Die Wirtschaft steckt im Wandel. Das fordert die Vertreter der Mitarbeiter in den Unternehmen besonders.

Bei Volkswagen geht wenig ohne Daniela Cavallo.
Mächtiges Lächeln: Bei Volkswagen geht wenig ohne Daniela Cavallo. Die Deutsch-Italienerin leitet den Konzernbetriebsrat.Bildquelle: Volkswagen

„Es war allen klar: so konnte es nicht weiter gehen.“ Man hört Burkhardt Schramm heute noch an, wie dramatisch die Lage beim Maschinenbauer Nagel im baden-württembergischen Nürtingen war. Er hat als Betriebsratschef miterlebt, wie einschneidend Transformation sein kann, wenn es um die Existenz des Unternehmens geht. Das Familienunternehmen ist Spezialist für Anlagen zum Honen, also der präzisen Oberflächenbehandlung von Metallen. Dieser Schritt ist beispielsweise bei der Fertigung von Kolben, Zylinder, Nockenwellen oder Kurbelgehäuse für Verbrennermotoren entscheidend. Die Zäsur kommt 2018: Plötzlich knickt die Nachfrage ein, deutlicher als je zuvor. Es sind die ersten Vorboten eines Wandels im Fahrzeugbau. So wird auch bei Nagel klar: Mit der Elektromobilität fallen die Großaufträge aus der Autoindustrie immer mehr weg. Und auf den Betriebsrat kamen völlig neue Anforderungen zu – wie in vielen anderen Unternehmen quer durch die Republik.

In der Öffentlichkeit sind oft nur Betriebsratsvorsitzende großer Konzerne bekannt. Die Mächtigste in Deutschland ist sicher Daniela Cavallo, die den Konzernbetriebsrat bei der Volkswagen AG führt, auch wenn sie anders als ihr Vorgänger Bernd Osterloh eher im Hintergrund handelt. Osterloh hatte gern auch öffentlich gegen den Konzernvorstand gearbeitet, wenn ihm etwas nicht passte. Große Machtpolitik und möglichst viel für die Beschäftigten herausholen – wer in Wolfsburg an der Spitze der Arbeitnehmervertretung steht, hat jahrelang das Geschäft gelernt und sich langsam hochgearbeitet. Gehört zu dem Job doch auch ein Sitz im Aufsichtsrat und der Wille, im Zweifel gemeinsam mit Großaktionär Niedersachsen den Vorstandsvorsitzenden im Griff zu halten.

Bisher steuerte VW mit zuletzt 685.000 Mitarbeitenden weltweit je nach Sichtweise trotz oder wegen des starken Konzernbetriebsrates gut durch zahlreiche Krisen. Denn auch wenn die Mitglieder vielleicht weit weg vom Band und damit dem aktuellen Geschehen sind, wissen sie doch, wie die Beschäftigten ticken. Und das hat Vorteile.

Maschinenbauer Nagel ist ein paar Nummern kleiner. Aber auch hier haben die Chefs und Eigentümer die Mitarbeitenden eingebunden. „Die Geschäftsleitung ist auf uns zugegangen und hat die schwierigen Perspektiven offen beschrieben“, erinnert sich Schramm. Es sei allen klar gewesen, dass sich das Unternehmen neue Märkte und Kunden suchen müsse. Allen ist auch bewusst, dass so etwas nicht über Nacht gelingen kann. Doch wie die 380 Mitarbeiter durch diese Zeit bringen? Geschäftsführung und Betriebsrat holen sich Unterstützung beim Arbeitgeberverband Südwestmetall und Gewerkschaft IG Metall. Mit diesen Experten entsteht ein Ergänzungstarifvertrag. Der sichert Beschäftigung, legt aber auch den Verzicht auf Sonderzahlungen fest. Zudem sollen bis zu 80 Stellen wegfallen. Nagel nutzt zudem ein Modell, das in der Region verschiedene Metallbetriebe vernetzt. Sie leihen sich gegenseitig Mitarbeiter aus. Das verhindert Kurzarbeit und hilft gleichzeitig, Produktionsspitzen mit Fachkräften auszugleichen.

Die Eigentümerfamilie beruft mit Claus-Ulrich Lott erstmals einen externen Manager in die Geschäftsführung. Zudem holt der schwäbische Maschinenbauer junge Ingenieure. Mitten in der Pandemie arbeiten sie an Ideen, wie Nagel sich neue Geschäftsfelder erschließen kann. Dabei gilt es auch, die klassischen Prozesse des 1941 gegründeten Maschinenbauers mit einem Schuss Start-up-Denke anzureichern. Lott erklärt das einmal so: „Transformation heißt nicht, alles neu aufzubauen. Sonst fragen sich die altgedienten Mitarbeiter, wo da ihre Perspektive ist.“

Die Entwickler bei Nagel finden viele Ansätze. Den Durchbruch bringt eine spezielle Oberflächenbehandlung von Bremsscheiben. Dadurch verringert sich deren Abrieb. Im Zuge der gerade eingeführten Euro-7-Norm hatte die EU die Vorschriften für Feinstaub deutlich verschärft. Alle Hersteller von Autos und Nutzfahrzeugen benötigen jetzt modernere Bremsen. Nagel kann die Maschinen zur Feinbearbeitung dazu liefern. „Wir konnten einen großen Bremsenhersteller mit unserer Flexibilität und hoher Qualität überzeugen“, freut sich Betriebsratschef Schramm.

„In der Praxis gibt es heute eine andere Arbeitsweise“, beschreibt Schramm die Veränderung im Alltag. Das habe manches Umdenken bei den Kollegen verlangt. So werden bei Nagel für die Bremsenhersteller eine wesentlich höhere Zahl ähnlicher Maschinen gefertigt. Die müssen allerdings schneller und kostengünstiger produziert werden als die Sonderanfertigungen für die ehemaligen Kunden. Doch das Familienunternehmen hat wieder eine Perspektive. So sind bei Nagel nicht nur deutlich weniger Stellen weggefallen als gedacht. Inzwischen sucht der Maschinenbauer sogar neues Personal. Jetzt nutzt Nagel das regionale Ausleihprogramm selbst, um an die derzeit fehlenden Fachkräfte zu kommen.

Schulungen nötig

Alessandro Lieb, erster Bevollmächtigter der IG Metall im benachbarten Esslingen am Neckar, sieht im Beispiel Nagel, wie Transformation im Idealfall ablaufen kann. Betriebsräte, die in einer ähnlichen Lage sind, sollten sich vor allem fragen, wo sie überhaupt über die Mitbestimmung Einfluss nehmen können. „Die meisten haben verstanden, dass man sich mit der Transformation auseinandersetzen muss“, ist Lieb überzeugt. Er schränkt aber ein: „Viele sind so im Tagesgeschäft eingebunden, da stößt man an Grenzen.“ Zudem sind die meisten Arbeitnehmervertreter weder Betriebswirte noch Ingenieure. Darum vermittelt die Gewerkschaft Berater beispielsweise vom IMU-Institut in Stuttgart, das unter anderem Betriebs- und Aufsichtsräte schult und in Betrieben zur Arbeit forscht. „Ohne diese Fachleute wäre es auch bei uns nicht gegangen“, gibt Schramm zu.

Lieb rät den Unternehmen zudem, die Möglichkeiten zu nutzen, die in den Tarifverträgen vorgesehen sind. „Da sind bereits viele Flexibilisierungsinstrumente vorgesehen“, sagt der Gewerkschafter, der bei vielen Strategiegesprächen mit am Tisch sitzt. Doch um das nutzen zu können, müsste vorher definiert sein, wohin ein Unternehmen sich grundsätzlich entwickeln soll. „Wenn wir fragen, was in fünf Jahren produziert wird, kommt oft keine genaue Antwort“, berichtet Lieb. Viele Unternehmer gerade im Maschinenbau hätten mit dem laufenden Geschäft zu viel zu tun, um langfristige Pläne zu entwickeln. Nach einer Erhebung der IG Metall Baden-Württemberg unter den Betriebsräten haben 39 Prozent der Unternehmen noch keinen umfassenden Plan entwickelt, wie es weitergehen soll. Diesem Eindruck widerspricht der Arbeitgeberverband Südwestmetall allerdings vehement. „Solche Zahlen können wir beim besten Willen nicht nachvollziehen“, erklärt ein Sprecher.

Die Diskrepanz in der Interpretation der Lage lässt vermuten, dass die Kommunikation zwischen Geschäftsleitungen und Betriebsrat nicht immer rund läuft. Zudem gehen die strategischen Ansätze von Management und Belegschaft oftmals auseinander. So stehen oft Kosten dem Wunsch nach Erhalt von Arbeitsplätzen entgegen. „Es ist eben schwer vermittelbar, dass in einigen Fällen nur eine Verlagerung noch Sinn macht“, heißt es dazu bei Südwestmetall. Doch solch ein Ansinnen ist für die Gewerkschaften wenig akzeptabel. „Verlagerte Arbeitsplätze kommen nicht mehr zurück“, erklärt Lieb, warum sich die IG Metall so vehement dagegen wehrt.

Eigentlich sollten Informationen in großen Unternehmen besser fließen, denn der Austausch ist über verschiedene Gremien etabliert. Doch gerade dort prallen die unterschiedlichen Interessen derzeit besonders hart aufeinander. So sind Anfang des Jahres bei den Autozulieferern ZF und Bosch tausende Beschäftigte protestierend vor die Konzernzentralen gezogen. In beiden Fällen hatten die Geschäftsführungen laut über einen signifikanten Stellenabbau nachgedacht. Betriebsräte und IG Metall sind daraufhin auf Konfrontationskurs gegangen. Wohl auch, um dem Management die Grenzen aufzuzeigen, damit von weiteren Verlagerungen abgesehen wird. Schaut man genauer hin, stellt sich heraus, dass der Abbau in vielen Fällen schon durch Fluktuation und Verrentung erreicht wird oder in der propagierten Höhe gar nicht so gemeint war. Inzwischen reden beide Seiten wieder miteinander.

Die Beispiele Bosch und ZF machen deutlich, dass fehlende Transparenz und Kommunikation keine gute Basis sind, um die Transformation umsetzen zu können. „Es ist wichtig, mit offenen Karten zu spielen“, unterstreicht Südwestmetall. Wobei der Arbeitgeberverband sogleich einschränkt: „Es muss klar bleiben, wer bei der weiteren Strategie die Entscheidungen trifft.“ „Wir wollen und können das Management auch nicht ersetzen“, versichert Gewerkschafter Lieb. Doch es lohne sich, die Belegschaft intensiv einzubinden und das dort konzentrierte Wissen auch zu nutzen. „Die Leute kennen aus der täglichen Erfahrung viele Möglichkeiten, wie man den Betrieb und die Produkte weiterentwickeln kann. Darauf sollte die Geschäftsführung auch zurückgreifen.“

Macht der Banken

So ein Austausch wird bei Winkelmann im westfälischen Ahlen derzeit als Prozess quer durch alle Bereiche eingebaut. Beim Metallverarbeiter für die Auto-, Bau- und Stahlindustrie mit 4500 Beschäftigten gehören nun intensive Mitarbeitergespräche zum Alltag. „Da ist von allen Beteiligten, Führungskräften, Mitarbeitern einschließlich der Betriebsräte, der Wille vorhanden“, erklärt Personalchefin Anke Rüther. Dafür wurden die Führungskräfte auch geschult. Am Anfang gab es sehr viele Fragen, viel Unsicherheit und großen Respekt vor den Gesprächen. Hier waren auch die Betriebsräte eine große Hilfe. „Sie sind von Anfang an mitgenommen worden, haben ihre Ideen und Vorstellungen mit eingebracht und werben inzwischen proaktiv für diesen Prozess. Das hätte ich zu Beginn der Gespräche nicht gedacht“, gibt Rüther zu.

Am Wandel in den Betrieben ist allerdings auch ein Spieler mit viel Macht beteiligt, der ganz eigene Interessen verfolgt: die Banken. Die Kreditinstitute bauen in vielen Unternehmen derzeit erheblichen Druck auf, weil sie ESG-Kriterien bei der Vergabe von Darlehen einbeziehen. ESG steht für Environmental Social Governance (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung). „Das wird von vielen Geschäftsleitungen sehr offen benannt“, bestätigt Gewerkschafter Lieb. Die Geldgeber lassen die Unternehmen durch ihre Kreditvergabe spüren, dass ihre Produkte nicht den Nachhaltigkeitsvorstellungen der Finanzmärkte entsprechen. Ganze Branchen – beispielsweise die Autoindustrie – sind auf dem Index. Wobei sich das schlagartig ändern kann: Waren die Lieferanten der Rüstungsindustrie noch vor wenigen Jahren schlecht angesehen, sind sie heute wieder Liebling der Investoren, weil die geopolitische Lage Verteidigung plötzlich wieder wichtig macht. Auch eine längere Gnadenfrist für Verbrennungsmotoren könnte so einen Effekt auslösen. Dieser Teil der Transformation findet weit hinter den Grenzen der Mitbestimmung statt.

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