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Führung & HR > Diskriminierung im Mittelstand

Ungewollt ausgegrenzt: Wie Diskriminierung am Arbeitsplatz Firmen lähmt – und was jetzt hilft

Toxische Unternehmenskultur: Warum Diskriminierung in Firmen schadet, oft unbemerkt bleibt – und wie Unternehmen das Potenzial ihrer Teams nutzen können.

Schief angesehen: Nicht immer merken Mitarbeiter, wenn ihr Verhalten andere diskriminiert. Vor allem Frauen trifft es. (Foto: Shutterstock)

Diskriminierung am Arbeitsplatz wird gerade in kleinen Firmen geduldet, obwohl Gesetze das verhindern sollen. Die Betriebe verschenken Potenzial.

Von Thorsten Giersch

Diskriminierung am Arbeitsplatz: Das unsichtbare Problem, das Unternehmen Millionen kostet

Mit dem Fehlverhalten von Mitarbeitern kennt sich vermutlich keine Organisation besser aus als die US-Armee. Nach den erschütternden Ereignissen von Menschenrechtsverletzungen im Irak, wo Soldaten Gefangene misshandelt haben, stand die Armee vor einer sehr tiefen und ethischen Krise. Umfragen haben ergeben, dass nur 13 Prozent der Soldaten bereit waren, unethisches Verhalten eines Kameraden zu melden, den sie gut kennen. Deutlich höher war die Bereitschaft, wenn man sich noch nicht über den Weg gelaufen war.

Das Beispiel zeigt, wie schwer es Menschen fällt, in ethischen Konfliktsituationen das Richtige zu tun. Was in der US-Armee gilt, ist in anderer Form auch in Unternehmen der Fall. Auch sehr viele mittelständische Betriebe wandeln zwischen Widersprüchen: Die oft moralisierende Woke-Mentalität gilt als übertrieben, aber die Alltagsdiskriminierung am Arbeitsplatz ist da. Bekannte Formen sind das Mobbing oder sexuelle Übergriffe, aber es gibt weitere. Solche toxischen Verhaltensweisen werden in Deutschland systematisch ignoriert, weshalb die Politik mit dem Hinweisgeberschutzgesetz reagiert hat. Es gilt seit Anfang 2024 und viele Betriebe sind noch nicht darauf eingestellt.

Diskriminierung ist eine ungerechtfertigte oder unfaire Behandlung von Menschen wegen bestimmter Merkmale oder Eigenschaften, etwa Hautfarbe, Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung, Religion, Behinderung, Herkunft. Und kaum jemand kennt sich hierzulande damit besser aus als Emre Çelik. Er ist einer der renommiertesten Personaler Deutschlands und arbeitet im Hauptjob in der Abteilung für Künstliche Intelligenz bei Google DeepMind. Kürzlich hat er sein Buch „Unausgesprochene Wahrheiten" veröffentlicht. Für ihn ist Antidiskriminierung vor allem auch wegen der Lebens- und Leidensgeschichte seiner Mutter wichtig. Als Alleinerziehende von zwei Kindern hatte sie laut Çelik „kein Recht auf eine erfüllende Karriere in der Fabrik", in der sie arbeitete. Das war das eine. Aber irgendwann sei sie kontinuierlicher Ausgrenzung, Mobbing, Vergeltung und Diskriminierung ausgesetzt gewesen.

Die Zahlen variieren je nach Erhebungszeitraum und -schwerpunkt, dazu kommt eine enorm hohe Dunkelziffer. Aber der Trend ist eindeutig: sie steigen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) hat in ihrem aktuellen Bericht festgestellt, dass zwischen 2021 und 2023 mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung gemeldet wurden – deutlich mehr als in den Vorjahren. Die häufigsten Formen waren Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft und Behinderung gefolgt von Alter, Religion und sexueller Orientierung. Aus Sicht der ADS ist der Schutz vor Diskriminierung in Deutschland noch immer unzureichend. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das das Diskriminierungsverbot regelt, sei veraltet und müsse dringend reformiert werden. Die ADS fordert unter anderem bessere Verfolgung von Diskriminierungsfällen, stärkere Sanktionen gegen Diskriminierende und eine Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema Diskriminierung.

„Fast jeder fünfte mit einer Migrationsbiografie berichtet von einer diskriminierenden Erfahrung am Arbeitsplatz. Und beinahe jede vierte Frau erlebt dort sexuelle Belästigung", sagt Çelik. Aus den USA hat er die Rolle des Employee Relations Investigations Partner (etwa Partner für Mitarbeiterzusammenarbeit) übernommen und sie auch hier etabliert. „Viele Unternehmen in Deutschland leiden an einem sogenannten Broken Culture Syndrom", sagt Çelik, die dramatische Diskrepanz zwischen der Unternehmenskultur, die die Führungskräfte wahrnehmen, und der Erfahrung der Mitarbeitenden. Wenn eine Führungskraft meint, die Kultur in der Abteilung oder im gesamten Unternehmen sei zweckorientiert, divers, vielfältig, sicher, innovativ, können die Mitarbeitenden das ganz anders empfinden.

Unbewusste Vorurteile

Wichtig sei, dass sich viele gar nicht bewusst toxisch verhielten, sagt Çelik. „Menschen spüren oft nicht, wenn sie andere diskriminieren." Da sind einmal unbewusste Vorurteile, Stereotypen, die tief verankert sind und die Menschen durch Film, Fernsehen, Lehrkräfte, Eltern, Mitschüler oder Freunde bekommen haben. „Was hier hilft, ist Selbstreflexion. Aber nicht jeder hinterfragt regelmäßig sein eigenes Verhalten und die Auswirkungen auf andere", sagt Çelik. „Es gibt Studien, die zeigen, dass in bestimmten männerdominierten mittelständischen Unternehmen sexuelle Belästigung auch als Instrument genutzt wird, um Macht zu erhalten."

Auch fehlt manchen das Verständnis für die Systeme, in denen gearbeitet wird. Herrscht ein Patriarchat? Geht man in der Belegschaft kritisch damit um? Oder sind Dinge einfach so, wie sie sind? „In manchen Umgebungen ist kriminelles Verhalten so normal, dass es gar nicht mehr als solches erkannt wird", sagt Çelik. Ein typisches Beispiel: Vier Männer und eine Frau sitzen im Meetingraum. Wie oft wird sie unterbrochen? Oder wie oft wiederholt ein Mann schlicht, was die Frau sagt? Weitere Klassiker: Dem älteren Mitarbeiter wird der Umgang mit neuen Technologien nicht zugetraut und dem Jungen mangelt es per se an Erfahrung, um sich zu einer Sache qualifiziert äußern zu können. „Das sind Diskriminierungsformen, die normalisiert sind und die nicht angegangen werden in Unternehmen", sagt Çelik.

Verschenktes Potenzial

Bisweilen diskriminieren Führungskräfte auch aus gutem Willen, wenn Menschen am Rande zum Beispiel eine schlechte Performance im Job abliefern, sie aber keine Rückmeldung bekommen, weil der Vorgesetzte Angst hat, die Person zu diskriminieren. Studien haben diese Protective Hesitation (schützendes Zögern) nachgewiesen. Frauen, queere und schwarze Menschen bekommen schlechteres Feedback und damit schlechtere Entwicklungsmöglichkeiten. Die Problemlage ist eben sehr nuanciert und kann in beide Richtungen gehen. So werde sehr viel Potenzial verschenkt, sagt Çelik. Wer daran etwas ändern will, stößt oft auf Widerstand – wenn es überhaupt eine Rückmeldung gibt. Menschen neigen dazu, sich selbst als gute Person zu sehen und wehren sich bei dem Gedanken, diskriminierend zu handeln.

In großen Konzernen ist der Kampf gegen ­Diskriminierung in der Regel klar geregelt. Im Mittelstand sieht das noch anders aus. Seit Anfang 2024 fordert das Hinweisgeberschutzgesetz für Betriebe ab 50 Beschäftigten unter anderem, dass sich Beschäftigte bei einer unabhängigen Ombudsstelle beschweren können, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Ein Briefkasten neben dem Chefbüro reicht da nicht. Auch sind Vergeltungsrichtlinien im Unternehmen Pflicht. Viele Betriebe dürften feststellen, dass sie bei weitem nicht fit genug für das Hinweisgeberschutzgesetz sind.

Wenn Personalverantwortliche Verständnis aufbringen sollen, brauchen sie entsprechende Schulungen und einen Instrumentenkasten. Für Çelik ist es auch wichtige Aufgabe jeder Führungskraft, eine entsprechende Kultur zu schaffen und zu managen. „Man kann eben nicht sagen: Das macht jetzt die Personalabteilung", meint Çelik. Die Mikrokulturen, die zwischen Teams entstehen, kann nur eine Führungskraft verstehen und verändern. „Da sind wir beim essenziellen Punkt: soziale Normen hinterfragen." Wenn Frauen zum Beispiel in Besprechungen kontinuierlich nichts sagen, sei dies eine etablierte soziale Norm, die aber unausgesprochen ist. Führungskräfte brauchen Schulung, wann sie selbst eingreifen und wann sie Fälle zur Personalabteilung delegieren sollten. Und dann sollten auch die Mitarbeitenden trainiert werden, um zu zeigen, was es bedeutet, antidiskriminierend oder antitoxisch zu handeln.

Doch was tun, wenn Reden nicht hilft? Einiges ist im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz festgehalten, aber spannend wird es bei all den Mikro­aggressionen, dem Graubereich. Die Rechtsprechung ist, vereinfacht gesagt, auf die großen Fälle ausgelegt, nicht auf die alltägliche Toxizität. Wann genau ist die Grenze zwischen Meinung und Diskriminierung überschritten? Wann kann man von Mobbing sprechen – ein häufig unterschätztes Phänomen? Zunächst gibt es die – formell ausgedrückt – Sachverhaltsklärung im Untersuchungsgespräch. Die nächsten Stufen reichen von der Ermahnung zur Abmahnung oder, je nach Schwere der Tat, auch zur Kündigung. „Wenn die Mitarbeitenden nicht sehen, dass man handelt, um die Kultur zu schützen, dann sorgt das für noch mehr Probleme", erklärt Çelik.

Neben ihm gehört auch Cawa Younosi zu den renommiertesten Personalvordenkern Deutschlands. Und auch er hat Ende 2024 ein Buch zum Thema veröffentlicht: „Die große Potenzialverschwendung", ein Ratgeber, wie Betriebe jeder Größe ihren Fachkräftemangel beheben können, indem sie allen jungen Leuten eine Chance geben. Younosi floh mit 13 aus Afghanistan nach Deutschland, schaffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit das Abitur und reüssierte bei der Deutschen Telekom und SAP, wo er bis 2023 Global Head Of ­People Experience war. Heute ist Younosi Geschäftsführer der Charta der Vielfalt.

Für ihn ist klar: „Die Potenziale von Menschen mit Migrationshintergrund bleiben oft ungenutzt, weil sie nicht die gleichen Chancen erhalten." Dabei stellen sie fast ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland. Was hilft, sind Vorbilder und Strukturen: Bei SAP hat Younosi sehr gute Erfahrungen gemacht mit Mentorenprogrammen zusammen mit Schulen. Auch Mitarbeiternetzwerke innerhalb von Unternehmen helfen – egal ob sie mit großem oder kleinem Budget ausgestattet werden. Das stärke Identifikation und Loyalität zum Arbeitgeber und wirke sich positiv auf die Talentgewinnung aus, sagt Younosi.

Auslandserfahrung hilft

Allerdings stoßen Menschen mit Migrationshintergrund schon bei der Bewerbung auf Hindernisse. Das muss gar nicht Absicht der Unternehmen sein. In der Forschung ist belegt, was die Sichtweise des Menschen verzerrt, sodass jede und jeder tendenziell solche Menschen bevorzugt, die ihnen ähnlich sind. Unconscious-Bias-Übungen helfen hier enorm und führen dazu, dass auch Führungspositionen divers besetzt werden, was einer der größten Hebel in Unternehmen ist. Dazu kommt, Auslandserfahrung zu würdigen. Sie kann vor allem international tätige Betriebe voranbringen.

Seit Jahren intensiv besprochen, verbessert, aber noch längst nicht gelöst ist die Diskriminierung der Hälfte der Beschäftigten, die Kinder bekommen können. Frauen sind in Führungspositionen immer noch deutlich unterrepräsentiert, obwohl sie mehr als 50 Prozent der Studienplätze einnehmen, die in der Regel auf solche Stellen vorbereiten. Teilzeitführungspositionen haben sich bewährt, sind aber noch lange nicht etabliert. „Warum auch immer: Es gibt hartnäckige Vorurteile, dass Frauen die Führungsaufgabe nicht packen", sagt Younosi. Auch Teilzeitlösungen steigern die Zufriedenheit – und bei SAP habe ein Prozent mehr Zufriedenheit zu einem Gewinnsprung von jeweils 50 Millionen Euro geführt, erinnert sich der Personalexperte. Ebenfalls sind Maßnahmen gegen Altersdiskriminierung an sich bekannt, aber oft nur unzureichend umgesetzt.

Neue Technologie wie künstliche Intelligenz ist in diesem Zusammenhang nicht über jeden Zweifel erhaben. Schließlich haben Menschen mit all ihren Verzerrungen sie programmiert. Korrekt angewendet gilt KI aber als Teil der Lösung. Nicht nur bei Beschwerdestellen, sondern auch in der Prävention kann KI zum Beispiel Brennpunkte für toxisches Verhalten sehr gut vorhersagen. Bei Schulung und Sensibilisierung zeigen personalisierte Systeme gute Ergebnisse.

US-Soldaten wurden nach den Vorkommnissen im Irak übrigens einem speziellen Training unterzogen, das toxischen Verhalten nachhaltig verringert. Über neun Monate hinweg werden die Soldaten nun im kontinuierlichen Dialog mit den Kommandanten in Kombination mit Filmausschnitten geschult. Externe Berater waren bewusst nicht dabei, damit ein intimer und offener Diskurs über soziale Normen stattfinden konnte. Die Bereitschaft, Fehlverhalten von Kameraden zu melden, stieg auf 58 Prozent, und 97 Prozent der Teilnehmenden gaben an, bessere Erfahrungen gemacht zu haben.

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