Beitrag teilen

Link in die Zwischenablage kopieren

Link kopieren
Suchfunktion schließen
Personal > Stille Reserve aktivieren

So baut man sich Fachkräfte auf, denen niemand etwas zugetraut hätte

Jeder sechste junge Erwachsene ist ohne ­Berufsabschluss. SOS-Kinderdorf zeigt, wie sie für den Arbeitsmarkt fit werden.

Aufgebrüht: Zur Ausbildung im Service gehört bei SOS-Kinderdorf, richtig guten Kaffee zu machen.© SOS Kinderdorf Berlin

Amir * ist Perser, kam 2016 aus Afghanistan nach Deutschland und ergriff die Chance, die viele in seiner schwierigen Situation nicht haben. Über das SOS-Kinderdorf in Berlin begann er über Monate hinweg eine berufsvorbereitende Maßnahme. Die Gastronomie hatte es ihm angetan und auch seine Begleiter merkten schnell, dass es für ihn das Richtige ist. 2019 begann er eine Berufsvorbereitung, darauf folgte eine zweijährige Ausbildung zur Fachkraft Gastgewerbe (Schwerpunkt Küche). Es lief so gut, dass er eine Ausbildung zum Koch oben draufsetzte. Inzwischen steht Amir kurz vor der Abschlussprüfung mit besten Chancen, danach einen Arbeitsplatz zu bekommen. Mit seiner monatlichen Ausbildungsvergütung unterstützt er seine Familie, die in den Iran geflüchtet ist und für die er auch Verantwortung übernimmt.

Amirs Geschichte ist eines der positiven Beispiele, wie die Förderkette zwischen der Berufsvorbereitung und einer Ausbildung den betroffenen Menschen und dem Standort Deutschland hilft. Auch das Projekt „Everest“, das das SOS-Kinderdorf Berlin 2015 startete, zielt genau auf diese Förderkette ab. Der Berliner Senat und mehrere Partner unterstützen „Everest“. Es ist Teil der Lösung für den großen Fachkräftebedarf und die vielen Tausend jungen, unbegleiteten Geflüchteten.

Das SOS-Kinderdorf in Berlin bietet seit fast 30 Jahren Projekte rund um die Ausbildung und berufliche Qualifizierung für benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene an. „Es gibt einen großen Unterstützungsbedarf und viele junge Menschen, die eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt aus vielerlei Gründen nicht schaffen“, sagt Nicole Bethke, Einrichtungsleiterin im SOS-Kinderdorf Berlin. Etwa, weil sie beim Lernen beeinträchtigt sind, weil Schulabschlüsse schlecht sind oder gar fehlen, Sprachschwierigkeiten oder soziale und familiäre Hemmnisse bestehen.

Das Spektrum ist vielfältig und entsprechend breit müssen auch die Lösungen sein. Das Ziel ist immer dasselbe: dass die jungen Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können, das ganz ohne Sozialleistungen auskommt. Umgekehrt löst es auch eins der wesentlichen Probleme der Unternehmen: den Personalmangel. Der Standort in Berlin ist nur ein Beispiel von vielen. Der SOS-Kinderdorf-Verein hat deutschlandweit 14 Einrichtungen, die Angebote zur beruflichen Qualifizierung und Ausbildung oder Berufsberatung anbieten, fünf davon sind große Berufsausbildungszentren.

Die Einrichtung in Berlin bildet selbst aus. So gibt es derzeit 40 Azubis im Garten- und Landschaftsbau, im Büromanagement, in der Gastronomie und der Hauswirtschaft, bald auch als Rettungssanitäter. Die jungen Menschen schafften es auf dem ersten Arbeitsmarkt ohne Hilfe nicht allein, sagt Bethke, sondern würden „einen kleinen Anschub benötigen, um dort durchstarten zu können“. Entscheidend sei der Punkt, dass die Ausbildung sehr praxisnah erfolge.

Das SOS-Kinderdorf arbeitet mit einem breit aufgestellten Team zusammen, das aus Ausbilderinnen und Ausbildern, Sozialpädagoginnen, Lehrkräften und bei Bedarf eben auch aus Psychologen besteht. Es geht stets um echte Kundenaufträge und echte Baustellen. Auch in der Gastronomie und im Bürobereich seien die jungen Menschen im laufenden Geschäft integriert, sagt Bethke. „Es wird nicht für den Papierkorb gearbeitet und genau das zeigt den Jugendlichen, dass sie wirksam sind und dass sie Selbstvertrauen durch ihre Arbeit gewinnen.“

Nicht alleine lassen

Eine Berufsberatung gehört dazu, viele wissen in dem Alter schließlich noch nicht, was sie werden wollen. Es gibt ein Jugendberatungshaus, wo bei den Bewerbungsunterlagen geholfen wird. Angeboten werden auch Projekte in der beruflichen Orientierung und Vorbereitung. Bei der aktivierenden beruflichen Orientierung, entwickeln die Jugendlichen Tagesstrukturen, lernen, was Verlässlichkeit und Pünktlichkeit bedeutet und testen praxisnah Arbeitsbereiche. Seit zehn Jahren ist zum Beispiel die Berliner Stadtreinigung Partner. Über diesen Weg konnten dort 137 junge Menschen einen Arbeitsvertrag erhalten. 71 Prozent sind immer noch unbefristet in den jeweiligen Unternehmen tätig.

Das funktioniert, weil Azubis nicht allein gelassen werden. Das SOS-Kinderdorf bereitet sie individuell auf Bewerbungsgespräche vor und erklärt ihnen, wie die Unterlagen zu schreiben sind. Der Übergang von der Ausbildung des SOS-Kinderdorfs in den freien Arbeitsmarkt geht nicht von selbst. Als Vorstufe zur Ausbildung und währenddessen seien Praktika in der freien Wirtschaft für die jungen Menschen essenziell. „Wir müssen ja sehen, wie sich die jungen Menschen außerhalb unseres geschützten Rahmens verhalten“, sagt Bethke. Idealerweise lernen sich Unternehmen und Praktikant gut kennen und merken, dass es miteinander passt.

Menschen, die diesen Prozess unter anderem unterstützen, werden Jobcoaches genannt. Sie begleiten die Azubis, sprechen aber auch intensiv mit den Unternehmen. „Das ist was Besonderes, weil wir feststellten, dass viele Betriebe gar nicht so genau wissen, mit welchen Jugendlichen sie es manchmal zu tun haben, die sich bei ihnen bewerben“, sagt Bethke. Ein Teil der Arbeit dieser Coaches sind sogenannte Job Talks, bei denen jungen Menschen Unternehmen besuchen, dort einen Vormittag verbringen, Hausführungen machen, in Gespräche gehen, Fragen stellen, sich für Praktika bewerben können und einfach so einen Einblick in Unternehmen bekommen, der sonst nicht möglich wäre. Idealerweise werden dabei Vorurteile abgebaut. „Wir hatten zum Beispiel eine Talkrunde in einer psychiatrischen Klinik. Da haben die Azubis einen anderen Eindruck bekommen als den, den sie sich vorher im Kopf gebildet hatten“, erklärt Bethke. Wenn die Einrichtungsleiterin loslegt, erzählt sie von Dutzenden Beispielen, wo die Menschen heute immer noch arbeiten.

Die Jobcoaches sind breit vernetzt. Denn die Vielfalt an Betriebsformen und -größen ist entscheidend, um die unterschiedlichen jungen Leute zu vermitteln. Entsprechend ist wichtig, dass genug Betriebe mitmachen. „Das Unternehmensnetzwerk spielt bei uns immer schon eine große Rolle in der Qualifizierung und Ausbildung“, sagt Bethke. „Denn ohne Praktika können die jungen Menschen keine beruflichen Erfahrungen auf dem ersten Arbeitsmarkt sammeln.“ Ganz risikolos ist es für die Unternehmen nicht, junge Menschen aus schwierigen Verhältnissen bei sich integrieren zu wollen. Aber Bethke zufolge wird dieser Mut belohnt. „Ja, am Anfang muss ein Betrieb mehr Zeit investieren. Aber er hat danach langfristig wirklich loyale Mitarbeitende, die gerne bleiben und dort gerne arbeiten.“

 

*Name von der Redaktion geändert

Ähnliche Artikel