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Personal > Bachelor Abschluss

Überakademisiert und rausgeprüft

Eigentlich sollte der Bachelor-Abschluss das Studium beschleunigen. Aber die Absolventen gelten oft als akademische Dünnbrettbohrer, Studienabbrecher als überfordert. Doch Unternehmen unterschätzen ihr Potenzial.

Student mit Laptop in der Bibliothek
Student mit Laptop in der Bibliothek: Unternehmen unterschätzen ihr PotenzialBild: Shutterstock

Noch gleitet die Hand der Physiotherapeutin feinfühlig über die Lendenwirbelsäule ihrer Patientin. Dann wird es etwas schmerzhaft – wegen einer Frage zur Arbeitssituation. „Jetzt sollen wir auch noch mit Kollegen arbeiten, die ihre Ausbildung vor allem online als Fernstudium zum Bachelor of Science an privaten Fachhochschulen gemacht haben“, schimpft die Mittvierzigerin und dehnt das Hüftgelenk bis zur Schmerzgrenze. „Wer braucht die? Therapeuten sollen so viel Praxis wie möglich am Menschen haben, nicht am Computer.“

In der Neusser Physiopraxis zeigt sich eines der drei wesentlichen Probleme im deutschen Bildungssystems: der Bachelor als Abschluss, mit viel Hoffnung für die Arbeitswelt gestartet, läuft nicht, wie erhofft. Die Qualität der Absolventen elektrisiert die Unternehmen wenig, die klassische Ausbildung leidet. Die anderen beiden Probleme: Gut die Hälfte eines Jahrgangs macht Abitur, drängt an die Hochschulen, ohne sich für eine Ausbildung zu interessieren; dort fehlt der Nachwuchs. Und: Die Zahl der Studienabbrecher ist hoch.
In der Pflege gibt es den Bachelor zum Beispiel nicht nur für Physiotherapie, sondern auch für Ergotherapie, frühkindliche Erziehung und Hebammenkunde. Wer sich vor zehn Jahren noch zur Industriekauffrau ausbilden ließ, studiert heute gerne an einer Fachhochschule Wirtschaft. Statt Industriemechaniker-Ausbildung wählen die Schüler den Maschinenbau-Bachelor.

Die meisten Bachelor-Studiengänge dauern wie eine Lehre drei Jahre. Danach kann das Masterstudium folgen, muss aber nicht. Denn der Bachelor gilt schon als Berufsabschluss. 392 deutsche Fachhochschulen und Universitäten bieten derzeit insgesamt 20.359 Studienoptionen an – fast doppelt so viele wie 2007. 92 Prozent davon enden mit einem Bachelor- oder Masterabschluss.

Voraussetzung für einen Bachelorstudiengang ist das Abitur. Vor 20 Jahren zog es rund 30 Prozent eines Jahrgangs an eine Alma Mater, inzwischen sind es mehr als die Hälfte. Im Wintersemester 2021/22 suchten rund 2,9 Millionen Studentinnen und Studenten an einer deutschen Hochschule wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Staatliche Universitäten und Fachhochschulen sowie zahlreiche private Einrichtungen buhlen mit verschiedenen, teils exklusiven Fachkombinationen um Studenten.

Die grundsätzliche Idee hinter dem Bachelor: Die Absolventen haben mit Anfang 20 einen Abschluss, sind noch jung und biegsam für alle Unternehmenskulturen. Sie sollen im akademischen Denken geschult sein, aber auch nicht aus dem Elfenbeinturm kommen. Im Kopf voller Grundlagenwissen, aber ohne sich in Details zu verlieren. Schnell fit für den Arbeitsmarkt, auf dem sie die Lücken stopfen sollen, die der Facharbeitermangel verursacht.

Doch selbst viele kleine und mittelständische Unternehmen – die Hauptzielgruppe der Bachelors – klagen: Das funktioniert so nicht. Die Studierenden lernten in den Hochschulen nicht anwendungsorientiert, heißt es. Hinzu kommt: Für viele Berufe beispielsweise rund um Betriebswirtschaft gilt der Bachelor-Abschluss nicht als ausreichend für erfolgreiche Unternehmen. Es muss schon der Masterabschluss ein – wie früher Vordiplom und Diplom.

Zudem sind viele Studenten überfordert. Etwa, weil die Durchfallquoten in Prüfungen hoch sind. Das ist zum einen der Anspruch der Hochschulen, dem viele nicht gewachsen sind. Zum anderen haben viele Universitäten den Zugang nicht per Numerus Clausus beschränkt. Jede und jeder bekommt eine Chance, allerdings wird über die Prüfungen gesiebt.

Die Politik will mehr Akademiker; die Wirtschaft fordert reibungslos einsetzbare Absolventen mit Praxisbezug. Viele hoffnungsvolle Erstsemester geben deshalb demoralisiert auf. 2020/21 brachen allein in den MINT-Fächern 43 Prozent das Studium ab. Schuld daran seien vor allem ihre geringen mathematischen Kenntnisse, hat das Leibniz-Instituts für Bildungsforschung ermittelt, zurückzuführen auf eine unzureichende schulische Vorbildung. Über alle Fächer exmatrikuliert sich ein gutes Viertel aller Bachelor-Aspiranten.

Doch es gibt Hoffnung: Fast die Hälfte der Abbrecher wechselt erfolgreich auf einen anderen Karrierepfad. Sie entscheiden sich für die klassische oder duale Berufsausbildung und absolvieren sie überdurchschnittlich oft mit großem Erfolg. Um die Abbrecher zu ködern, haben die Industrie- und Handelskammern im Rahmen der DIHK-Initiative ,Mit Praxis zum Erfolg‘ Angebote entwickelt, oft mit Arbeitsämtern und Hochschulen gemeinsam.

„Unsere Intention ist es, Studienzweiflern oder Quereinsteigern eine vernetzte Beratung zu bieten“, berichtet Julia Flasdick, Leiterin des Referats Hochschulpolitik, Forschungs- und Strukturfragen der DIHK in Berlin. Denn diese verfügen über Fach- und Methodenkompetenzen, Selbstorganisation und hohe Auffassungsgabe, oft auch Leitungsqualität und brechen die Ausbildung seltener ab. Man könnte auch sagen: Die Initiative bietet ihnen eine solide Zukunft, ihren wahren Qualitäten entsprechend.

Das richtige Händchen für die Arbeit statt theoretischer Kenntnisse wäre wohl auch im Sinne der Physiotherapeutin in der Neusser Praxis. Die Patientin mit dem Problem am Iliosakralgelenk wird es auf jeden Fall danken.

AH

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