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Personal > Deutschland braucht Einwanderer

Zuwanderung: Jedes Jahr muss eine Großstadt hinzukommen

In vielen Betrieben ginge ohne Migranten nichts mehr. Dennoch wird der Mangel an Fachkräften immer größer. Insgesamt braucht Deutschland pro Jahr so viele Menschen, dass sie eine neue Großstadt bevölkern könnten: fast eine halbe Million Zuwanderer. Ansonsten wird fehlendes Personal zur Wachstumsbremse. Doch die Politik zögert noch, statt beherzt gegenzusteuern.

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Ein Lösungsweg: Einwanderer für die offenen Arbeitsplätze

Geschlossen wegen Corona? Nein, wegen Personalmangels – Gastronomen und Hoteliers können davon ein Lied singen. Die meisten können mit einem entsprechenden Hygienekonzept Gäste bewirten, doch es fehlt ihnen am Personal.


Die Pandemie hat nämlich auch den Beschäftigten in der Branche schwer zugesetzt. Schon im ersten Lockdown 2020 verloren 325.000 Minijobber ihre Arbeit. Viele hauptberuflichen Servicekräfte, Zimmerpersonal, und Leute in den Küchen konnten vom Kurzarbeitergeld nicht leben. Die Folge: Jeder sechste Beschäftigte im Gastgewerbe hat nach einer Erhebung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in der Pandemie die Branche gewechselt. Viele Bars und Restaurants können jetzt mangels Personal nur am Abend oder nur an bestimmten Tagen öffnen. Der Hotel- und Gaststättenverband geht davon aus, dass 80 Prozent der Betriebe unter Personalmangel leiden.


Schwierig ist auch die Situation in der Logistik. Den deutschen Spediteuren fehlen nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) mehr als 12.000 Brummifahrer. Immer mehr Lieferungen fallen aus oder kommen verspätet, weil niemand da ist, der sich hinter das Steuer setzen will. Längst wäre der Stillstand komplett, es wäre viele Küchen kalt, Gebäudereiniger fehlten und Lieferdienste stoppten – würden nicht Abertausende von Migranten dazu betragen, dass es weiter geht. Im Pandemiejahr 2020 hatte nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung jede dritte Fachkraft in der Gastronomie einen ausländischen Pass. Ähnlich sieht es auch im Fassadenbau aus. Und in der Logistik würde jeder vierte Brummi und Bus stehen bleiben, gäbe es die zugewanderten Mitbürger nicht. Im Gesundheitswesen hat jeder zwölfte keinen deutschen Pass. Insgesamt sind nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit mehr als 4,7 Millionen Migranten sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Vor zehn Jahren waren es nicht halb so viele. Heute hat mehr als jeder zweite Zuwanderer eine Fachausbildung.


Politisch hielt sich bisher die Aufnahmebereitschaft bisher in Grenzen. Doch der Druck steigt, was auch mit der Demographie zu tun hat: In Deutschland wird es bis 2035 wesentlich mehr Menschen im Rentenalter geben. Die Zahl der Personen im Alter ab 67 Jahren wird zwischen 2020 und 2035 um 22 Prozent von 16 Millionen auf dann 20 Millionen steigen, rechnet das Statistische Bundesamt vor. Die zunehmende Alterung hat ökonomische Folgen. Dem Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) zufolge dürfte 2023 der Zenit bei der Beschäftigung mit knapp 46 Millionen Erwerbstätigen überschritten werden. Danach scheiden mehr Personen aus dem Erwerbsleben aus als neu hinzukommen. Ab 2026 verliert Deutschland laut IfW jährlich etwa 130.000 Personen im erwerbsfähigen Alter. Schon heute trägt jeder Erwerbstätige 1,5 Rentner. Bis 2050 wären es sogar drei. Betriebe und Rentner sind also auf Zuwanderer angewiesen, die hierzulande anpacken.
Doch bislang klemmt es im System. Schon heute schaffen es immer weniger Betriebe alle Stellen zu besetzen. Im Maschinen- und Anlagenbau möchten rund 82 Prozent der Unternehmen in den nächsten sechs Monaten die Stammbelegschaft im Unternehmen vergrößern – und suchen dafür händeringend qualifiziertes Personal. Gut 60 Prozent wollen mehr Stellen für Fachkräfte (Beschäftigte mit abgeschlossener Ausbildung) anbieten. Bei den Experten (Akademiker) planen dies knapp 40 Prozent der Firmen. Die Mehrheit der Befragten sieht aktuell jedoch bei allen Beschäftigtengruppen Engpässe, mit Ausnahme der Hilfskräfte. „Der Personalengpass darf sich nicht zur Fortschrittsbremse entwickeln“, fordert Hartmut Rauen, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Verbands der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA).


Der Chef der Bundesagentur für Arbeit Detlef Scheele, hält 400.000 Menschen, die pro Jahr einwandern und eine Arbeit aufnehmen, für eine notwendige Größenordnung. „Ich halte die Zahl für realistisch“, sekundierte kürzlich auch FDP-Fraktionschef Christian Dürr. „In allen Branchen in Deutschland ohne Ausnahme werden derzeit Arbeitskräfte gesucht. Unser Wohlstand hängt davon ab, ob wir das schaffen.“ Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist von diesem massiven Zustrom in der Größenordnung einer Großstadt allerdings keine Rede. Dort lässt man lediglich durchblicken, dass künftig die Zuwanderung erleichtert werden soll. Wie das konkret geplant ist, bleibt weiter offen. Das Arbeitsministerium verweist auf das Innenministerium und dieses schweigt auf eine entsprechende Anfrage.


Im Koalitionsvertrag wird auch in Aussicht gestellt, dass Geflüchteten der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert wird. Den rechtlichen „Spurwechsel“ vom Asylsuchenden zur begehrten Fachkraft fordert die Wirtschaft schon lange. Das würde vielen Unternehmen die Beschäftigung dieser Menschen erleichtern und für Rechtssicherheit sorgen. Immer wieder passiert es, dass perfekt integrierte Mitarbeiter über Nacht abgeschoben werden. Ändert sich das, hätten die Geflüchteten gleichzeitig einen sicheren Start in Deutschland. Allerdings ist auch hier über die Absichtserklärung aus dem Koalitionsvertrag hinaus noch nichts weiter geschehen. Baden-Württemberg, wo der Fachkräftemangel besonders spürbar ist, prescht inzwischen mit einer 21 Millionen Euro teuren Anwerbekampagne vor. „The Länd“ macht seit November mit flotten Sprüchen auf quietschgelbem Grund im In- und Ausland auf sich aufmerksam und hofft so Experten anzulocken.


Immerhin: Laut einer Studie der SPD nahen Friedrich-Ebert-Stiftung steigt der Anteil der Migranten in Ausbildungsberufen deutlich. Sie zieht es vor allem in Berufe im Handwerk, Einzelhandel und Gesundheitswesen. „Migranten, Migrantinnen und Geflüchtete leisten bereits heute einen entscheidenden Beitrag zur Fachkräftesicherung“, schreiben die Autoren der Untersuchung. Waren 2013 noch 19,2 Prozent der Migranten und 14,9 Prozent der Geflüchteten in einem Engpassberuf, so ist es nun bei beiden Gruppen fast jeder zweite. Und das sei gut so, denn: „Teams mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen können kreative Prozesse und Innovationen im Unternehmen fördern oder neue Kundengruppen erschließen“, heißt es in der Studie

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