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Politik > Kommentar

Warum der aktuelle Streit um das „Stadtbild“ die wahre Krise verdeckt

| Thorsten Giersch | Lesezeit: 2 Min.

Die Debatte ums Stadtbild lenkt ab – die Kommunen stehen finanziell am Abgrund. Und genau das bedroht die Demokratie am stärksten.

Menschen vor dem Brandenburgr Tor - Schriftzug: Kommentar
Wenn über das „Stadtbild“ gestritten wird, während Kassen leer sind, wirkt das zynisch – Symbolpolitik ersetzt Strukturreform. (Foto: shutterstock)

Die Diskussion über das Stadtbild wird auf eine skurrile und wenig zielführende Art geführt – dabei gab es in dieser Woche Zahlen über den Zustand der Kommunen, die aufschrecken sollten. Denn nichts gefährdet die Demokratie mehr.

von Thorsten Giersch für Markt und Mittelstand

Die Finanzlage der deutschen Kommunen ist so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht. Was in den Kassen der Städte und Gemeinden passiert, ist mehr als nur ein Problem für Kämmerer – es ist ein Stresstest für die Demokratie.

Nur zehn von 396 nordrhein-westfälischen Kommunen können derzeit noch einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Bundesweit wird für 2025 ein Defizit von über 30 Milliarden Euro erwartet. Die Kölner Kämmerin Dörte Diemert spricht vom „perfekten Sturm“: explodierende Sozialausgaben, steigende Zinsen, teure Bauprojekte und die Energiewende lasten auf den Haushalten. Und das, während die Einnahmen kaum steigen.

Kommunen sind das Fundament des Staates. Hier werden Kitas gebaut, Straßen gepflegt, Parks sauber gehalten. Doch vielerorts schrumpfen Spielräume so stark, dass selbst Pflichtaufgaben kaum mehr finanzierbar sind. Wer heute durch manche Innenstädte läuft, sieht das Ergebnis: vernachlässigte Plätze, geschlossene Schwimmbäder, fehlendes Personal in Bürgerämtern. Die Folgen reichen weit über das Sichtbare hinaus.

Denn dort, wo der Staat kaum noch handlungsfähig wirkt, wo Busse ausfallen, Papierkörbe überquellen und Termine beim Amt Monate dauern, entsteht ein Gefühl des Kontrollverlusts. Diese Erfahrung trifft auf wachsende soziale Spannungen – und wird politisch ausgenutzt. Die AfD nutzt das Vakuum, das die Schwäche des Staates hinterlässt. Ihre Erzählung von „denen da oben“ und „den abgehängten Regionen“ trifft besonders dort auf Resonanz, wo Bürger den Eindruck haben, dass ihre Kommune längst abgehängt ist.

 

Populisten füllen Lücken

Der Humangeograf Daniel Mullis spricht von „rechter Raumnahme“. Extreme Gruppen besetzen Orte, die andere verlassen – reale wie digitale. Dort, wo Jugendzentren schließen oder Demokratieförderung gestrichen wird, entstehen Lücken, die Populisten füllen. Die AfD versteht es, Emotionen wie Stolz und Ohnmacht zu instrumentalisieren, und verwandelt strukturelle Vernachlässigung in politischen Protest.

Die finanzielle Not der Kommunen ist also nicht nur ein ökonomisches, sondern ein demokratisches Risiko. Wenn Städte gezwungen sind, Leistungen zu kürzen, während sie gleichzeitig für immer neue Aufgaben vom Bund verantwortlich gemacht werden, verliert das politische System Glaubwürdigkeit. Das Prinzip „Wer bestellt, bezahlt“ ist längst zur Floskel geworden. Der Bund beschließt, die Kommunen bezahlen – und geraten so in eine Abwärtsspirale aus Schulden, Frust und Vertrauensverlust.

Dass Bund und Länder in dieser Lage über das „Stadtbild“ diskutieren, wirkt fast zynisch. Mehr Sicherheit und Sauberkeit fordern alle, doch dafür braucht es Personal, Investitionen und stabile Einnahmen. Wenn Friedrich Merz von einem „sozialen und sicheren Stadtbild“ spricht, ohne über Finanzen zu reden, bleibt das Symbolpolitik. Auch die SPD-Initiative für einen „Stadtbild-Gipfel“ im Kanzleramt ändert daran wenig.

 

Schulden für den falschen Zweck

Die strukturellen Ursachen liegen tiefer. Seit Jahren überlasten Sozialgesetze der Bundesebene die Kommunen. Die Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe haben sich seit 2013 verdoppelt, neue Rechtsansprüche kommen hinzu. Gleichzeitig fehlen Investitionen: marode Schulen, bröckelnde Brücken, überforderte Verwaltungssysteme. Die Voßkuhle-Kommission hat bereits im Sommer gefordert, die Zuständigkeiten klarer zu trennen – und damit auch die Verantwortung für die Finanzierung. Passiert ist wenig.

Hinzu kommt: Der Bund selbst wirtschaftet kaum besser. Finanzminister und SPD-Chef Lars Klingbeil plant bis 2029 neue Schulden in dreistelliger Milliardenhöhe, während die strukturellen Ausgaben weiter steigen. Ökonomen warnen, dass die Regierung zu viel Geld für laufende Ausgaben statt für Investitionen verwendet. Was bei Kommunen gilt, gilt auch im Großen: Wer heute konsumtiv ausgibt, schwächt morgen seine Zukunftsfähigkeit.

 

Was also tun? Erstens: Der Bund muss Kommunen dauerhaft von Soziallasten entlasten. Zweitens: Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung gehören in eine eigene Finanzkategorie – sie dürfen nicht unter Sparzwängen leiden. Drittens: Eine echte Verwaltungsreform könnte Bürokratie abbauen und Ressourcen freisetzen. Und viertens: Demokratiearbeit muss als Teil kommunaler Daseinsvorsorge verstanden werden – nicht als freiwillige Leistung, die man in Krisenzeiten streicht.

Die Menschen fahren nicht nach Berlin, um zu schauen, ob der Staat funktioniert. Sie sehen es vor der Tür in den Kommunen. Hier gerät die Demokratie in Gefahr. Die AfD wächst nicht, weil sie Lösungen bietet, sondern weil sie die Schwächen der anderen sichtbar macht. Deshalb entscheidet sich die Zukunft der Republik nicht in Berlin, sondern in Rathäusern, Bauhöfen und Bürgerbüros. Dort, wo Vertrauen entstehen – oder verloren gehen kann.

 

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