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Politik > Deutschland: kranker Mann Europas?

Angelas langer Schatten: Wie Merkels Erbe Deutschland zum kranken Mann Europas machte

16 Jahre Merkel: Deutschland in Abhängigkeit und Reformstau. Wankt Europas Machtzentrum unter ihrem gefährlichen Erbe?

Merkel und Trump bei einer Pressekonferenz
"So gut wie jede große Entscheidung, die Frau Merkel getroffen hat, scheint dazu geführt zu haben, dass Deutschland - und oft die gesamte Europäische Union - am Ende schlechter dasteht", schreibt der Economist im Oktober 2024. (Foto: shutterstock)

Zwei Frauen haben in den letzten Generationen die Politik ihrer jeweiligen nordeuropäischen Länder durchweg dominiert. Abgesehen von ihrem Geschlecht werden Angela Merkel und Margaret Thatcher oft in einen Topf geworfen als Mitte-Rechts-Politikerinnen mit einem Händchen fürs politische Überleben. Sie haben sehr unterschiedlich regiert - die eine drohend mit der Handtasche, die andere geduldig mit den Koalitionspartnern -, aber so lange, dass sich selbst Teenager nicht an jemand anderen an der Spitze erinnern konnten, als sie abtraten.

Aber ihre Hinterlassenschaften unterscheiden sich noch in anderen Formen. Obwohl Thatcher 1990 von ihrer eigenen Partei aus dem Amt gedrängt wurde, als ihre Umfragewerte sanken, steht sie seither bei Umfragen über Großbritanniens beste Regierungschefs der Nachkriegszeit an der Spitze; Sir Keir Starmer, der derzeitige Premierminister, sah sich letzten Monat mit Kritik konfrontiert, weil er das Porträt seiner Vorgängerin in einen anderen Teil der Downing Street versetzt hatte.

Frau Merkel entschied sich, nach vier Amtszeiten in den Ruhestand zu gehen, obwohl sie immer noch so beliebt ist, dass sowohl der Kandidat ihrer Partei als auch der Oppositionskandidat (der jetzt im Amt ist) versuchten, ihre legitime Erbschaft zu proklamieren. Doch jeder Monat, der vergeht, erinnert daran, wie ihre Herrschaft Deutschland in den Abgrund gestürzt hat.

Das Vermächtnis der deutschen Iron Lady wird am 26. November in den Mittelpunkt rücken, wenn sie ihre 736 Seiten langen Memoiren veröffentlicht. Was einst eine Ehrenrunde war (zusammen mit einigen obligatorischen Sticheleien gegen frühere politische Gegner), wird nun einen eher defensiven Ton annehmen müssen.

So gut wie jede große Entscheidung, die Frau Merkel getroffen hat, scheint dazu geführt zu haben, dass Deutschland - und oft die gesamte Europäische Union - am Ende schlechter dasteht. Geopolitisch hinterließ sie dem Land die berühmt-berüchtigte Dreiergruppe gefährlicher Abhängigkeiten:

  • ohne Amerika nicht verteidigungsfähig
  • ohne Exporte nach China nicht wachstumsfähig
  • auf russisches Gas angewiesen, um die Industrie am Laufen zu halten.

Das wirtschaftliche Zeugnis ist eher noch vernichtender: 16 Jahre Durchwursteln ohne Reformen haben Deutschland wieder einmal zum wirtschaftlich kranken Mann Europas gemacht.

Was ist schief gelaufen?

"Wladimir Putin" ist eine plakative Antwort. Die Entscheidung des russischen Präsidenten, im Jahr 2022 eine groß angelegte Invasion in der Ukraine zu starten, zeigte, dass Deutschlands mangelnde Vorbereitung nicht nur ein theoretischer Fallstrick war. Frau Merkel hatte Herrn Putin groß gezogen, indem sie regelmäßig mit ihm sprach (die Tatsache, dass sie die Sprache des jeweils anderen sprachen, war hilfreich). Sie wird in ihren Memoiren zweifellos wiederholen, dass sie ihm nie wirklich vertraut hat, und dann die Welt daran erinnern, wie sie die Bewegung zur Verhängung von Sanktionen gegen Russland nach dessen Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2014 angeführt hat.
 
Selbst der schläfrigste Kritiker wird sich jedoch fragen, warum die deutschen Verteidigungsausgaben während ihrer gesamten Amtszeit bei mickrigen 1,3 % des BIP blieben. Schlimmer noch, warum hat sie zugelassen, dass russisches Gas einen immer größeren Anteil am deutschen Verbrauch ausmacht - und sogar den Bau einer neuen Pipeline aus Russland nach 2014 genehmigt?

Abgesehen davon, dass dies nicht gut für den Planeten ist, hat Frau Merkels ungestümer Beschluss, die verbleibenden deutschen Kernkraftwerke nach der Kernschmelze in Fukushima 2011 abzuschalten, das Land noch mehr von Russland abhängig gemacht.

Aber warum sollte man das deutsche Verhalten in Frage stellen, wenn das Land wie eine gut geölte Maschine zu laufen scheint? China saugte seine Exporte auf und freute sich, dass die Menschenrechte kaum in Frage gestellt wurden, während Deutschland sich keine Gedanken darüber machte, sich von einem weiteres autokratischen Regime abhängig zu machen.

Merkeln: Die hohe Kunst des Krisen-Schlummerns

Ein großer Teil des Buches wird sich zweifellos mit ihrer Teilnahme an den EU-Gipfeln befassen, die sie de facto anführte. Nach unseren Berechnungen nahm sie an über 100 davon teil und verbrachte dabei so viele Stunden in fensterlosen Brüsseler Sitzungssälen, wie der Durchschnittsdeutsche in einem ganzen Jahr arbeitet.

Und wofür? Hier kam das grausame, aber verdiente neue Verb „merkeln“ (große Entscheidungen so lange wie möglich aufschieben) erst richtig zur Geltung. Was auch immer an unmittelbarer Krise bewältigt wurde, wurde größtenteils vernünftig gehandhabt, wenn auch nicht immer aus der Sicht Griechenlands, aber oft erst, nachdem es durch monatelange Untätigkeit noch schlimmer geworden war. Doch die Konzentration auf das Löschen von Bränden bedeutete, dass sich niemand ausreichend auf die Zukunft konzentrierte. Ja, die EU wurde in einem Stück erhalten (ohne Großbritannien). Aber in welcher Form?
 
Drei große Fallstricke sind offensichtlich geworden:

1. Die EU ist durch den demokratischen Rückschritt einiger ihrer Mitglieder, vor allem Ungarns, noch brüchiger geworden. Frau Merkel trägt hier eine große Schuld, da sie den aufstrebenden Autokraten Viktor Orban aus Bequemlichkeit (Ungarn ist in die deutschen industriellen Lieferketten eingebunden) vor Kritik geschützt hat.

2. Der zweite Grund ist die Tatsache, dass Europa wirtschaftlich auf der Stelle tritt. In einem kürzlich erschienenen Bericht kritisierte Mario Draghi, ehemaliger italienischer Ministerpräsident, die europäische Wirtschaftspolitik und wies darauf hin, wie weit der Kontinent hinter Amerika zurückgefallen sei.

3. Und schließlich war ihre Freundlichkeit gegenüber Migranten, mit der sie 2015 mehr als eine Million Syrer und andere Menschen nach Deutschland einlud, zwar lobenswert, hat aber zu einer politischen Gegenreaktion geführt, die den Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland und anderswo gefördert hat.

Keine Dame für Reformen

Es ist eine Ironie des Schicksals. Deutschland hat die Südeuropäer zur Sparsamkeit genötigt, aber jetzt sieht sein eigenes Jeden-Pfennig-zweimal-umdrehen fehlgeleitet aus. Eine Verfassungsänderung zur Begrenzung der Haushaltsdefizite, die noch aus der Zeit von Frau Merkel im Jahr 2009 stammt, hat zu chronisch unzureichenden Investitionen in öffentliche Dienstleistungen geführt. Ausgaben, die zu 0 % Zinsen hätten getätigt werden können, hätten Deutschland fit für das 21. Jahrhundert machen können. Stattdessen brechen Brücken buchstäblich zusammen und das Bahnsystem ist kaputt, weil es in der Vergangenheit vernachlässigt wurde.
 
Diejenigen, die sich fragen, wie Europa in die gegenwärtige Misere geraten ist, werden zu Recht auf die Amtszeit von Frau Merkel schauen. Aber die Deutschen könnten die Veröffentlichung ihrer Memoiren nutzen, um sich selbst zu hinterfragen. Sie sind diejenigen, die immer wieder dafür gestimmt haben, Reformen, wie sie Anfang der 2000er Jahre von Frau Merkels Vorgänger Gerhard Schröder durchgeführt wurden, zu verschieben (obwohl, je weniger über sein Vermächtnis nach seinem Ausscheiden aus dem Amt als gut bezahlter Freund von Herrn Putin gesagt wird, desto besser). Frau Merkel hat Deutschland wie in einer Scheinwelt geführt und es in einen langen geopolitischen und wirtschaftlichen Dornröschenschlaf versetzt, aus dem es erst wieder erwachen muss.

© 2024 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.

Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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