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Politik > Deutsche Führung unter Druck

Ein Vakuum mit dem Umriss Deutschlands mitten in Europa

Scholz und Macron scheitern in Brüssel, da die „Ampel“-Koalition in Berlin uneins ist. Das politische Chaos in Berlin hinterlässt Spuren in der EU, die Deutschlands Führung vermisst.

Olaf Scholz auf dem EU-Gipfel 2024, Fahnen im Hintergrund
Ein ernüchterter Bundeskanzler Olaf Scholz nach gescheiterten EU-Gesprächen: Deutschlands Einfluss in Brüssel schwindet. Schwächen Koalitionsprobleme Deutschlands den EU-Einfluss? (Foto: picture alliance / Hans Lucas | Melissa Rosca)

© 2024 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.

Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

Olaf Scholz und Emmanuel Macron traten vor einem Monat zu einem EU-Gipfel mit einem Plan an. Die deutschen und französischen Staats- und Regierungschefs waren sich einig, dass die "strategische Agenda", die die Prioritäten der EU für die nächsten fünf Jahre festlegen sollte, unzureichend war. Die Passagen zu Klima und Migration waren schwach, und was ist mit der Verteidigung? Aber ihre umfangreichen Neufassungen, die kurz vor dem Treffen erstellt wurden, lösten bei den anderen Staats- und Regierungschefs, darunter Giorgia Meloni aus Italien, eine Revolte aus. Es wurden Stimmen laut, Finger wurden erhoben, und die beiden zogen sich gedemütigt zurück. Sie hatten den elementarsten Test des Europäischen Rates nicht bestanden: Vermeide es, deine Kollegen zu überraschen.

Die Geschichte wäre nur ein Datenpunkt in der langen Geschichte der EU, wenn sie nicht einen beunruhigenden Trend aufzeigen würde. Denn auch wenn Macron kein Koalitionspartner ist, soll Deutschland, die größte Volkswirtschaft und das bevölkerungsreichste Mitglied der EU anders sein. Doch wo das Land einst den Ansatz des Clubs in allen Bereichen von der Steuerpolitik bis zum Brexit prägte, bleibt es unter Herrn Scholz weit unter seinem Gewicht - und irritiert seine Partner.

Interviews mit Diplomaten und Beamten offenbaren zwei Dimensionen der deutschen Dysfunktion in Brüssel. Die erste ist der desolate Zustand der Drei-Parteien-"Ampel"-Koalition, bestehend aus den Sozialdemokraten von Herrn Scholz, den Grünen und den wirtschaftsfreundlichen Freien Demokraten (FDP).

 

Frühere deutsche Koalitionen waren kaum ein Vorbild an Harmonie und die so genannte "deutsche Stimme" - wenn die Unfähigkeit, eine gemeinsame Linie zu finden, Deutschland dazu zwingt, sich bei EU-Abstimmungen zu enthalten - ist in Brüssel wohlbekannt. Aber altgediente Eurokraten sagen, dass Scholz besonders schlecht darin ist, seinen zänkischen Ministern seinen Willen aufzuzwingen, und dass politische Veränderungen viel zu spät kommen. Der größte Übeltäter ist die FDP, die heikle Verhandlungen unter anderem über die Abschaffung des Verbrennungsmotors gestört hat. Doch "unsere Probleme liegen nicht an einer Partei, sondern an der mangelnden Führung durch die Kanzlerin", sagt Anton Hofreiter, Abgeordneter der Grünen und Vorsitzender des EU-Ausschusses im Bundestag. "Kein Wunder, dass eine solche Regierung Probleme in Europa hat."

Merkel hätte das nicht getan

Die Dysfunktion schadet der deutschen Glaubwürdigkeit, beklagte der EU-Botschafter des Landes in einem durchgesickerten Brief an seine politischen Vorgesetzten in Berlin im vergangenen Jahr. Seitdem hat sich die Lage nur verschlechtert. Diplomaten aus befreundeten Ländern sagen, sie hätten begonnen, eher um Deutschland herum als mit ihm zu arbeiten. Schlimmer noch, sagen Insider, dass das Chaos in Berlin die internen Abläufe in Brüssel behindert, da die Beamten nur schwer vorhersagen können, welchen Weg die Regierung Scholz als nächstes einschlagen wird. "Wenn man mit verschiedenen Ministerien in Deutschland spricht, ist es, als würde man mit verschiedenen Ländern sprechen", sagt ein Beamter, der sich mit der Ukraine befasst. Dann gibt es noch ein zweites Problem: das Verhalten des Kanzlers im Europäischen Rat. Die EU-Gipfel sind oft gereizte, unberechenbare Angelegenheiten, bei denen die Persönlichkeiten der Regierungschefs entscheidend sein können. Ein Beamter, der beide Kanzler genau beobachtet hat, sagt, dass Angela Merkel, die Vorgängerin von Herrn Scholz, "die EU buchstäblich zusammenhielt", indem sie Sondierungen durchführte und Kompromisse ausarbeitete, während Herr Scholz lediglich seinen Standpunkt darlegte und keinen Raum für Diskussionen bot. Diese Einschätzung wird weithin geteilt. "Die verhandeln wie kleinliche Buchhalter", erinnert sich ein Brüsseler Beamter an einen Haushaltsstreit. "Merkel hätte das nicht getan."

 

 

Was spricht für die Verteidigung?

Erstens ist Herr Scholz, der 2021 sein Amt antritt, ein relativer Neuling; Frau Merkel hat Jahre gebraucht, um in der EU Fuß zu fassen. Zweitens haben sich die Bedingungen geändert: In der Schuldenkrise der 2010er-Jahre fiel es dem boomenden Deutschland leichter, schwächeren Ländern seinen Willen aufzuzwingen; heute flirtet es mit einer Rezession und hat mit anderen Problemen zu kämpfen. Und drittens hat Scholz eine diskreditierte Energie- und Sicherheitspolitik geerbt (wenn auch zum Teil von seiner eigenen Partei geprägt), die Deutschland nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine "moralisch bankrott" gemacht hat, wie ein Diplomat es ausdrückt. Tatsächlich hat Deutschland in Bezug auf die Ukraine eine gute Bilanz vorzuweisen.

Es schickt mehr Waffen als jeder andere europäische Verbündete, hat seine eigenen Streitkräfte gestärkt und sich vom russischen Gas entwöhnt. Personen, die Herrn Scholz nahe stehen, weisen Behauptungen, ihr Chef sei in Europa ineffektiv, energisch zurück und verweisen auf seine Unterstützung für den ukrainischen EU-Beitrittsantrag - einschließlich des in Brüssel einmaligen Kunstgriffs, den ungarischen Widerstand zu überwinden, indem er dafür sorgte, dass Viktor Orban den Raum während der entscheidenden Abstimmung verließ - und auf seine Vorreiterrolle bei einem ehrgeizigen europäischen Luftverteidigungsprojekt. Sie verweisen auch auf den deutschen Widerstand gegen die ihrer Meinung nach schwachsinnigen Regulierungsvorschläge aus Brüssel.

Die Diplomatie wirkt oft wie ein Flickenteppich.

Ein polnischer Diplomat zeigte sich "zutiefst enttäuscht von Deutschland", nachdem sich Herr Scholz auf dem jüngsten Gipfel geweigert hatte, neue Pläne zur Verstärkung der Ostflanke der EU auch nur zu erwägen, was er auf heikle Haushaltsgespräche im eigenen Land zurückführte. Im Jahr 2022 verärgerte Deutschland andere Regierungen, indem es ein 200 Milliarden Euro (218 Milliarden Dollar) schweres Energiesubventionspaket ankündigte, ohne sie vorher zu informieren. "Die koordinierende Rolle, die Deutschland früher hatte, ist nicht mehr gegeben, weil alle überrascht wurden", sagt Nils Redeker vom Think-Tank Jacques Delors Centre in Berlin. Das macht es für Herrn Scholz schwieriger, sich in Fragen wie der Chinapolitik oder Freihandelsabkommen durchzusetzen, wo er oft gegen den europäischen Strom schwimmt. Natürlich haben viele Länder ungünstige Koalitionen oder eigenwillige nationale Prioritäten.

Und Deutschlands gesetzliche Schranken für die Aufnahme großer Summen und sein strenges Verfassungsgericht sind strukturelle Hindernisse für EU-Bestrebungen, die von anderen vorangetrieben werden, wie etwa ein größerer Haushalt oder mehr gemeinsame Schulden. "Die Menschen haben viel höhere Standards für Deutschland als für andere Länder", sagt Mark Leonard, Direktor des Thinktanks European Council on Foreign Relations. Der Unterschied besteht darin, dass Deutschland, wie Herr Scholz bei seinem Amtsantritt einräumte, eine "besondere Verantwortung" für den Erfolg Europas trägt. So klafft oft eine Lücke zwischen dem Stolz der Deutschen auf ihre Errungenschaften und der Enttäuschung Außenstehender über unerfüllte Erwartungen.

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Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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