Deutschland am Abgrund? Wie der Standort wieder wachsen kann
Die deutsche Wirtschaft schrumpfte 2024 um 0,2%. Experten sehen langfristig ein Wachstumspotenzial von nur 0,4% pro Jahr. Industrie und Energiekosten bleiben Sorgenkinder.

Die Bundestagswahl steht wirtschaftlich unter keinem guten Stern. Die neue Regierung muss Lösungen finden. Wie es dem Standort wirklich geht und was jetzt nötig ist.
von Thorsten Giersch
Deutschlands Wirtschaft schrumpft

Mal angenommen, ein Außerirdischer besucht die Erde und kennt sich gut aus: Wo würde er, sie oder es wohl landen? Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Wahl auf Deutschland fällt: Spannende Jobs mag es auch in einigen anderen Volkswirtschaften geben. Aber wenn er keinen bekommt, wäre er hierzulande vergleichsweise gut abgesichert. Die Rente ist ohnehin üppig, und wenn ET mal krank wird, soll es am guten Gesundheitssystem – etwa im Gegensatz zu den USA – nicht scheitern. Glücklicherweise muss der Extraterrestrische nicht unser Bildungssystem durchlaufen – angesichts des eigenen überlegenen Wissensstandes. Bildung wäre ein erheblicher Minuspunkt für Deutschland. Das gilt auch für Straßen und Schienen im Land der maroden Brücken und verspäteten Züge, aber wer ein Raumschiff hat, kann über Staus und ausgefallene Stellwerke locker hinwegfliegen. Ja, China wäre auch spannend. Aber wer so viele Eigenarten hat wie ET, für den sind Dauerüberwachung und Social Scoring doch nichts.
Mal angenommen also, die Wahl fällt auf Deutschland. ET würde ziemlich schnell fragen: Warum steht ihr nicht noch viel besser da? Wie konnte es so weit kommen, dass eure Wirtschaft kaum noch wächst und sich so viele Probleme angehäuft haben? Und hätte ET einen Kopf, würde er diesen schütteln wegen unserer Neigung, zurückzuschauen und Schuld zuzuweisen. Der Status quo ist nun einmal, wie er ist mit seiner langen Kette an Problemen in der deutschen Wirtschaft.
Womit wir bei der nächsten Bundesregierung wären, die Ende Februar gewählt wird. Sie muss die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt vor dem Abstieg bewahren und vor allem auf Zukunft trimmen. Friedrich Merz, Kanzlerkandidat von CDU und CSU, rief Mitte Januar immerhin einen „Wirtschaftswahlkampf" aus. Das Geschäftsmodell Deutschland sei in Gefahr.
Hat US-Unternehmer Elon Musk, reichster Mensch der Welt und seit einigen Monaten radikaler Politiker, recht, wenn er sagt, Deutschland stehe am Abgrund? Nein. Die Bundesrepublik hat schlaue Köpfe, gute Ideen, brillante Forschung, kreative Unternehmen, Weltmarktführer. Sie hat aber auch einige umfangreiche Sanierungsfälle, die angegangen werden müssen, weil zu lange zu wenig geschehen ist und sich sehr viele darauf verlassen haben, dass alles so weitergeht. Und sie muss sich darauf einstellen, dass die Industrie von morgen eine andere ist als die, die in den vergangenen Jahrzehnten gut lief.
Der Status quo
Zu Beginn des vergangenen Jahres gab es nur wenige Konjunkturforscher, die skeptisch genug waren, um Deutschlands Wirtschaft vorauszusagen, dass sie schrumpfen wird. Sie sollten Recht behalten. Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute dagegen sahen ein Wachstum von 0,5 bis 0,9 Prozent voraus. Schön wäre es gewesen. Das Statistische Bundesamt hat Mitte Januar eine erste Schätzung im Jahr 2024 vorgelegt: 0,2 Prozent im Minus.
Die meisten Ökonomen waren viel zu optimistisch, dass Verbraucher nach den höheren Tarifabschlüssen und steigenden Realeinkommen der vergangenen beiden Jahre wieder mehr konsumieren würden. Doch der Inflationsschock infolge des Ukraine-Kriegs war viel zu stark. Die Bundesbürger halten ihr Geld beieinander. Für dieses Jahr sagen die Experten, von Ausreißern abgesehen, ein Wachstum von nahe null bis 0,5 Prozent voraus. Zu einem dritten Rezessionsjahr infolge käme es demnach nicht. Auszuschließen ist das aber nicht. Schon jetzt nimmt die Zahl der Insolvenzen spürbar zu: Restrukturierungsberater erwarten in diesem Jahr zwischen 25 und 30 Prozent mehr Pleiten – ein Niveau, wie es Deutschland zuletzt in der Finanzkrise 2009 erlebt hat. Bereits 2024 erhöhte sich die Zahl der Insolvenzen um 30 Prozent.
56 Milliarden Euro gingen den Gläubigern 2024 den Fachleuten von Creditreform zufolge durch Insolvenzen verloren. Besonders heikel wird es im laufenden Jahr für viele Autozulieferer werden. Auch im Maschinenbau, im Gesundheitswesen, etwa bei Krankenhausbetreibern, Sozialstationen und Pflegediensten, sowie in der Baubranche sehen viele Unternehmen schwarz. Die Menge der offenen Stellen sank zuletzt erheblich, die Zahl der Arbeitslosen stieg. Der Druck dürfte 2025 noch deutlich höher werden. Unternehmen haben im vergangenen Jahr den größten Stellenabbau seit 2005 angekündigt.
Die USA führen

Der Ausblick
Die aktuellen Daten sind das eine. Spannend ist der langfristige Blick: Die deutsche Volkswirtschaft ist in den vergangenen fünf Jahren praktisch nicht gewachsen und die Industrie produziert real heute kaum mehr als vor 20 Jahren. Der Dienstleistungssektor und vor allem die Zunahme an Beschäftigung im öffentlichen Dienst haben Massenarbeitslosigkeit und kräftige Wohlstandsverluste verhindert. Wenn alle Deutschen Wirtschaftsprüfer, Anwälte oder Steuerberater wären –
wohl kein Land wäre reicher. Selbst die aktuelle Schwäche kann diesen Branchen nichts anhaben.
Die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sehen für den Zeitraum 2023 und 2029 ein Wachstumspotenzial von nur noch 0,4 Prozent pro Jahr. Zwischen 1996 und Ende 2024 lag der Wert bei 1,2 Prozent pro Jahr. Das wäre nur halb so schlimm, sähe es beim langfristigen Potenzial besser aus. Das schätzte der Sachverständigenrat 2023 mit beträchtlichem Aufwand bis 2070. In diesem Zeitraum soll das Wachstum 38 Prozent betragen. Zwischen 1970 und 2023 lag der Wert bei 135 Prozent.
Dazu kommt die demografische Entwicklung: Die schrumpfende Bevölkerung ist eine immense Wachstumsbremse. Bis 2035 soll sich die Zahl derjenigen, die über 65 Jahre alt sind, im Verhältnis zu den 20- bis 64-Jährigen im Vergleich zu 2000 verdoppeln. Der einzige Ausweg wäre, wenn jüngere Erwerbsfähige in großer Zahl nach Deutschland einwanderten. Doch das ist kaum in Sicht. Die Industrie verliert pro Monat rund 10.000 Arbeitsplätze. Immer mehr Betriebe verlagern ihre Produktion ins Ausland. Die Industrieproduktion ist seit 2019 um neun Prozent gesunken, aber diese Statistik ist mit Vorsicht zu genießen. Wichtiger ist die Kennziffer der Wertschöpfung in der Industrie – und der Wert stieg um 0,6 Prozent im selben Zeitraum. Die immer wieder angedrohte Deindustrialisierung ist also bei Weitem noch nicht im Gang, was aber nicht heißt, dass sie nicht kommen könnte.
Ein Grund für den Druck auf das verarbeitende Gewerbe sind die hohen Energiekosten. Hier ist besonders der Ausblick interessant und damit verbunden die Frage, wie teuer die Produktion von Strom aus erneuerbaren Energien hierzulande im Vergleich ist. 2030 dürfte eine Megawattstunde knapp 70 Euro kosten, wie das IW Köln errechnet hat. In den USA liegt der Wert bei rund 45 Euro, in Spanien bei 64 Euro. Wasserstoff herzustellen, kostet in Deutschland rund 30 Prozent mehr als zum Beispiel in den USA oder in Spanien. Dazu kommen weitere Themen: ein veraltetes Bildungssystem, die marode Infrastruktur und die hohe Sparquote der Deutschen beziehungsweise die Unlust, das Geld auszugeben.
Alles wird teurer

Was ist zu tun?
Diese Frage haben sich die drei führenden Managementberatungen – McKinsey, Boston Consulting Group (BCG) und Roland Berger – im Sommer 2024 gestellt und in historisch einmaliger Einmütigkeit ein gemeinsames Papier verfasst: Die 93 Seiten mit dem Titel „Agenda 2035" umfassen 15 Initiativen. Die Berater sehen Deutschland als „Restrukturierungsfall". Es sei ein parteiübergreifender Konsens nötig, um eine neue Wachstumsdynamik zu entfachen und „das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit Deutschlands zurückzugewinnen".
Viel Geld für die Sozialsysteme

Grundlagen schaffen
Bezahlbare Energie, eine funktionierende Infrastruktur, ein zeitgemäßes Bildungssystem, hinreichend Arbeitskräfte, finanzieller Spielraum und eine Bürokratie, die Unternehmen Raum lässt. So sollte es sein, ist es aber nicht. Wer sich die sechs Elemente des Fundaments der deutschen Wirtschaft anschaut, bekommt es deshalb mit der Angst zu tun. Und hier sind Standortrisiken wie das dysfunktionale Renten- und Pflegesystem noch gar nicht genannt. Was zu tun ist, ist weitgehend klar: Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland erleichtern, Flüchtlinge besser in den Arbeitsmarkt einbinden, Entbürokratisierung, mehr Betreuung in Kitas und Schulen, einschließlich besserer Sprachförderung sowie einer Reform der Lehrerausbildung. Zudem muss nicht nur mehr in Infrastruktur investiert werden, auch mehr Entschlossenheit ist nötig – im Zweifel auch im Konflikt mit Bürgern vor Ort.
Das kostet. Bei der Finanzierung gebe es immerhin kein Problem mit der Liquidität, schreiben die Berater. Weil die Staatsschulden lediglich 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, hat Deutschland ihrer Ansicht nach Spielraum. Dennoch fordern sie zusätzliche Maßnahmen: Lebensversicherer, Pensionsfonds und andere institutionelle Investoren sollten es leichter haben, Geld in Innovationen zu stecken, zum Beispiel als direkte Beteiligung oder Wagniskapital. Außerdem soll die kommende Regierung die dritte europäische Kapitalmarktunion vorantreiben, um hiesigen Betrieben einen leichteren Zugang zu Kapitalquellen zu ermöglichen.
Kerngeschäfte transformieren
Die Industrie ist Deutschlands Sorgenkind, aber laut Ökonomen wie Clemens Fuest, Chef des Münchener Ifo-Instituts, wäre es falsch, alle Unternehmen gleich zu betrachten. Zwei Drittel der Industrie seien in einer guten Situation, Großkonzerne wie Siemens etwa, aber auch die mehr als 1000 Hidden Champions, die Weltmarktführer in einer Nische sind. Dieses weltweite Unikum sei Basis der Exportstärke und nicht so schnell zu erledigen. Um das andere Drittel sorgt sich Fuest, um energieintensive Branchen wie Chemie, Glas und Keramik – und die Autoindustrie.
Die industrielle Basis zu sichern, geht nur durch Investitionen und Effizienzsteigerungen. Damit Maschinenbau, Chemie, Pharma, Stahl, Metall, Informationstechnologie und vor allem die Autoindustrie Wachstumsbranchen bleiben, fordern die Berater in ihrer Agenda 2035 Investition, Innovation und Effizienz. Konkret: Der Staat soll zum Beispiel ermöglichen, dass öffentliche Investitionen gehebelt werden, indem Investitionen in einer Bilanz aktiviert und erst Abschreibungen defizitwirksam werden. Beschleunigte Genehmigungsverfahren und weniger Bürokratie würden auch mehr Investitionen bringen, heißt es, weil der finanzielle Spielraum steigt. Im öffentlichen Beschaffungswesen plädieren die Berater für eine Deutschland-zuerst-Logik. Hiesige Unternehmen sollten gerade bei Ausgaben für Gesundheit, Energie und Verteidigung bevorzugt werden. Ein weiterer großer Hebel in der Agenda 2035 sind Anreize für Beschäftigte, mehr zu arbeiten und sich von künstlicher Intelligenz (KI) helfen zu lassen, um die Produktivität zu erhöhen. Die Politik kann hier Grenzsteuern auf zusätzliche Einkommen senken.
Wertschöpfungsketten absichern
Die Abhängigkeit Deutschlands von Rohstoffen wie Kobalt, Mangan, natürlichem Granit oder Seltenen Erden ist bekannt. Zu den Lieferanten gehören Russland und China, auf die nicht unbedingt Verlass ist. Das Material lässt sich in Europa den Beratungsfirmen zufolge recyceln. Ein Teil könnte auch selbst gefördert werden. Vor allem aber setzt die Agenda 2035 auf vielfältige Importpartnerschaften.
Zukunftsgeschäfte entwickeln
Die drei Beratungshäuser haben weltweit 50 Zukunftstechnologien ermittelt, von denen neun aus deutscher Sicht spannend sind. E-Autos, Gesundheitstechnologien, industrielle KI-Anwendungen, Robotik gehören dazu. Und Energiethemen wie Wärmeerzeugung aus Grünstrom inklusive Wärmepumpen, Windkraft, Netztechnik und Wasserstofftechnologie. Es geht grob gefasst um Mobilität, Digitalisierung, Klimatechnologie und Gesundheit. Letzteres schließt auch Biotech und Pharma ein, erstreckt sich von mRNA über Gentherapien bis zu Körperfunktionen überwachende Kleidung.
Vor allem bei KI sehen die Berater enorme Chancen. Weil die Unternehmen hier aber zu wenig investieren, soll die Politik gerade für kleine und mittlere Unternehmen Anreize schaffen. Außerdem gehe es darum, KI-Forscher im Land zu halten, zum Beispiel durch Steuererleichterungen für Rückkehrer oder zugewanderte Toptalente. Eine weitere Aufgabe liegt darin, Tech-Start-ups mit mehr Kapital auszustatten und zu verhindern, dass zahlreiche europäische Jungfirmen in den USA an die Börse gehen und so tendenziell abwandern. Die Vorschläge der Berater im Bereich Klimatechnik erinnert etwas an das Wahlprogramm der Grünen, einschließlich eines Verbots bis 2030 von Lkw, die mit fossilen Kraftstoffen betrieben werden. Die notwendigen Investitionen rund um die Dekarbonisierung schätzt die Agenda 2035 auf rund eine Billion Euro bis 2030. Dafür gebe es dann aber auch eine größere Unabhängigkeit von den globalen Energiemärkten – was bei der geopolitischen Lage zweifellos wünschenswert wäre.
Wenn ET auf der Erde wäre und uns einen Rat geben dürfte, würde er oder sie oder es wohl sagen: Kriegt euren Kram in den Griff und vergesst dabei nicht den Umbau zu mehr Nachhaltigkeit. Das Leben auf dem Mars ist nicht so schön wie hier bei euch in der Natur. Wer will schon den ganzen Tag lang wie bei Raumschiff Enterprise im Schlafanzug durch die Flure laufen, ohne jahrelang auch nur einen Baum zu sehen?
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