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Politik > Kommentar

Die Angsthasen-Gesellschaft: Warum Deutschland mehr Mut braucht

Die FDP mag verzichtbar sein. Aber jemand muss Bürgern sagen, dass Freiheit ebenso wertvoll ist wie Sicherheit und dass dazu Eigenverantwortung gehört. Ein Plädoyer für mehr Mut.

In Zeiten großer Umbrüche sehnen sich viele nach Sicherheit. Doch ohne Freiheit und Eigenverantwortung droht der gesellschaftliche Stillstand. (Foto: shutterstock)

Die FDP im Allgemeinen und Christian Lindner im Besonderen ziehen seit jeher Schadenfreude an wie Honig Fliegen. Aber am Abend der Bundestagswahl traf es sie besonders heftig: Eine Schar Linker fand da keinen besseren Ort zum Feiern als das Hans-Dietrich-Genscher-Haus. Mit Ghetto-Blaster und dröhnender Musik verabschiedeten sie die Liberalen für mindestens vier Jahre aus dem Bundestag.

Natürlich hat die FDP eine Reihe von handwerklichen politischen Fehlern gemacht. Doch das war nicht der wesentliche Grund für das Desaster. Für die Partei ist die erneute außerparlamentarische Opposition gefährlicher als die Situation 2013. Damals sorgte das politische Mega-Talent Lindner für die Wende. Er ist jetzt raus, ein ähnliches Politiktalent nicht in Sicht. Vor allem ist das wesentliche Thema der Partei, die Freiheit, dauerhaft unter Druck. Sie wurde Opfer des Zeitgeistes: Immer weniger Wählerinnen und Wähler haben sich für die individuelle Freiheit und immer mehr für Sicherheit entschieden. Und die Gesellschaft akzeptiert kaum noch, dass ein Ausgleich zwischen beidem nötig ist. Das spielt Populisten stark in die Hände.

Eine Regierung für Angsthasen?

Bis Ostern soll die neue Regierung stehen. Doch alles deutet darauf hin, dass es dann einen Koalitionsvertrag für Angsthasen gibt. So oder so braucht Deutschland über den Koalitionsvertrag hinaus einen Plan und eine wirksame Kommunikationsstrategie, was Sicherheit und was Freiheit genau bedeuten in dieser neuen Welt.

Denn die verunsichert die Menschen enorm. Das Ende des Westens, wie wir ihn kennen, macht viele zurecht nervös. Die großen Verwerfungen, die künstliche Intelligenz mit sich bringen wird, noch viel mehr. Und dann soll man auch noch selbst dazu beitragen, den Klimawandel aufzuhalten, was eine Überbrückungszeit lang ziemlich teuer ist. Das alles passiert im dysfunktionalen Kommunikationsnetz der sogenannten sozialen Medien.

Kein Wunder, dass viele junge Menschen die mit den schicksten Tattoos in Tiktok-Videos wählten. Vor allem, wenn diese Leute ihnen erzählen, der Staat könne nennenswert für sinkende Mieten sorgen oder dass alle Ausländer abgeschoben werden könnten, die uns gerade nicht passen. Offenbar gibt es genug Jungwähler, die Parteien das genauso glauben, wie 2021 den Grünen, dass man Klimaneutralität zum Nulltarif bekommt.

Die zwei Seiten der Medaille: Sicherheit und Freiheit

So mancher vergisst derzeit, dass alles zwei Seiten hat: Zur Sicherheit gehört auch immer die Finanzierung. Wer den Bürgern trotz der Demografie eine stabile Rente verspricht, muss das dysfunktionale System austricksen. Wer Bürgergeld anhebt, muss das nicht nur bezahlen, sondern auch mit sinkender Motivation auf geringbezahlte Jobs rechnen.

Auch Freiheit hat eine andere Seite – und die heißt Eigenverantwortung. Auf diese haben aber immer weniger Bürgerinnen und Bürger in dieser Ära der großen Umbrüche Lust. Die Welt ist hochkomplex geworden, da ist es nur logisch, dass viele mit dem Finger auf Berlin zeigen und dort die Lösung sehen. Die Staatsgläubigkeit der Deutschen ist legendär. Es gab keinen Aufschrei, als die Beamtenapparate aufgebläht wurden. Dass die Bürokratie den Standort nahezu unmöglich machte, schien nur Unternehmer und ihre Verbände zu stören.

Die Widersprüche des Populismus

Die AfD ist in dieser Hinsicht maximal widersprüchlich: Auf der einen Seite erinnern manche Aussagen an die Libertären Elon Musks und Peter Thiels aus dem kalifornischen Silicon Valley, die den Staat auf das Allermindeste reduzieren möchten. Auf der anderen Seite träumt die AfD beim Thema Sicherheit vom allmächtigen Apparat, der alle Probleme löst. So offensichtlich entlarvend, wie das ist: Viele Menschen mögen dieses „das Beste aus beiden Welten" als Free-Lunch in Buffettform.

Der Bundestag braucht nicht zwingend eine liberale Partei. Der Weg zu Freiheit und Eigenverantwortung geht nur über Ehrlichkeit und wohl dosierten Druck. Er braucht Politikerinnen und Politiker, die unbequeme Wahrheiten aussprechen. Etwa, dass der Staat die wesentlichen Probleme nicht mehr lösen kann ohne nennenswerte Zumutungen für die Bürger. Wir brauchen Menschen im Bundestag, die 40-Jährigen erklären, dass sie niemals in den Genuss des heutigen Rentenniveaus kommen werden, wenn es keinen radikalen Umbau des Systems gibt. Aber wir bekommen eine CDU, die ihren eigenen Vorschlag, das Renteneintrittsalter heraufzusetzen, im letzten Moment noch aus dem Wahlprogramm streicht.

Der schmale Grat zwischen Freiheit und Verantwortung

Besteht Freiheit heutzutage tatsächlich nur noch darin, auf dem Cookie-Banner im Internet wählen zu dürfen zwischen „alle zulassen" oder „alle ablehnen"? Wie gefährlich die Situation ist, zeigt sich nicht nur im europäischen Ausland, wo zuhauf schon die Rechten an der Macht sind. Es zeigt sich auch in den USA, wo die Amerikaner beherzt in die Arme von Tech-Autokraten springen. Den gesunden Mittelweg hat John F. Kennedy vorgemacht. Er hat eben nicht behauptet, dass der Staat allein zum Mond fliegen kann. Er bat seine Bürger, sich zu fragen, was sie für ihr Land tun können.

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