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Politik > Produktivität in Deutschland

Die große Deutschland-Entschleunigung: Rekordkrankenstand, Teilzeit-Boom und die Vier-Tage-Wannabe-Week

Wenn die Deutschen Brieftauben wären, kämen sie selten als erste ans Ziel. Der Krankenstand erreichte jüngst Rekordhöhen. Die Bundesrepublik ist Teilzeitweltmeister. Die Diskussion über die Vier-Tage-Woche entzweit das Land.

(Foto: shutterstock)

Von Brieftauben zu KI: Der ewige Kampf um Effizienz

Um als Familienunternehmen historische Bedeutung zu erlangen, müssen viele Faktoren zusammenkommen. So war es im 19. Jahrhundert auch bei den Rothschilds. Ein ganz wesentlicher Grund waren ihre Brieftauben. Dank der Heimfindeexperten bauten die Rothschilds ein einzigartiges Kommunikationsnetz über Europa und waren dem Wettbewerb oft einen Schritt voraus. Sie waren nicht die einzigen damals, die Brieftauben hatten. Aber die rothschildschen waren die mit Abstand effektivsten. Sie bekamen besseres Futter und waren besser trainiert.

Damals wie heute haben Unternehmen und Standorte oft dieselben Voraussetzungen, also kommt es auf die handelnden Figuren an. Mal sind es Brieftauben, in der Regel aber Menschen. Zu Beginn des Zeitalters künstlicher Intelligenz (KI) sind sich die meisten Expertinnen und Experten einig. Wer seiner Belegschaft beibringt, moderne Arbeitsmethoden möglichst effektiv zu nutzen, hat einen Vorteil im Kampf um Marktanteile.

Krankenstand und Teilzeit: Statistische Effekte und reale Trends

Wenn die Deutschen Brieftauben wären, kämen sie selten als erste ans Ziel. Der Krankenstand erreichte jüngst Rekordhöhen. Die Bundesrepublik ist Teilzeitweltmeister. Die Diskussion über die Vier-Tage-Woche entzweit das Land. Typisches Beispiel: Allianz-Chef Oliver Bäte schlug Mitte Januar vor, den Karenztag wieder einzuführen. Arbeitnehmer sollten die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen, keine Lohnfortzahlung. Wie erwartet konnte sich die CDU damit anfreunden, SPD und Gewerkschaften waren empört. Bäte unterstelle, dass viele blaumachten. Der Hintergrund: 2023 zahlten die Arbeitgeber die Rekordsumme von fast 77 Milliarden Euro an erkrankte Mitarbeiter. Die Deutschen meldeten sich häufiger arbeitsunfähig als je zuvor. Rein rechnerisch wäre Deutschland 2023 mit einem Krankenstand in der – historisch betrachtet – üblichen Höhe nicht in die Rezession gerutscht.

Der Rückschluss, dass die Deutschen immer häufiger blaumachen, auch weil sie sich jetzt per Telefon beim Arzt krankschreiben lassen können, ist voreilig und unpräzise. Dass die Zahl der Krankmeldungen zunimmt, liegt zum großen Teil an einem statistischen Effekt. Grundlage sind Daten der Krankenkassen, doch die haben jahrelang nur einen Teil der Krankschreibungen bekommen. Die Arbeitnehmer mussten die Kassen per Post informieren. Das ergab eine hohe Dunkelziffer von Kranken. Erst seit Anfang 2023 melden Arztpraxen jede Krankschreibung digital an die Krankenkassen. So verschwindet die Dunkelziffer, plötzlich sind die Deutschen häufiger arbeitsunfähig.

Weniger Arbeitsstunden

Statt den Karenztag wieder einzuführen, halten Ökonomen es für besser, die Lohnfortzahlung auf 80 Prozent des Lohnes zu begrenzen. Andere Länder arbeiten mit solchen Regeln. Im internationalen Vergleich ist das deutsche Konzept recht großzügig.

Unabhängig von Krankmeldungen beklagen Arbeitgeber, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden auf ein historisch geringes Maß gesunken ist. Dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge sank die Arbeitszeit pro erwerbstätiger Person auf 345 Stunden. Grund dafür ist die hohe Teilzeitquote. Doch auch bei diesen Zahlen ist Vorsicht geboten: Jeder und jede einzelne Deutsche mag in der ersten Hälfte 2024 noch nie so wenig gearbeitet haben. Aber alle gemeinsam haben lange nicht mehr so viel erledigt. Denn die Zahl der Beschäftigten lag mit rund 46 Millionen ebenfalls auf einem Rekordniveau. Mit 2,9 bezahlten und 4,4 unbezahlten Überstunden setzte sich in mäßigem Tempo der Trend fort, der seit 2011 zu beobachten ist: ein leichter Rückgang bei der Arbeit über das vertraglich Festgelegte hinaus.

 

Wer unaufgeregt über die Arbeitsmoral der Deutschen diskutieren will, sollte diese Fakten kennen. Genau wie auch den Umstand, dass der Wunsch nach Homeoffice und besserer Vereinbarkeit von Beruf, Privatleben und Gesundheit generationenübergreifend immer größer wird. Das ist also nichts, was (nur) die junge Generation verlangt. Es gibt Gründe, warum die Diskussion über all das, was auch unter New Work zusammengefasst wird, so hitzig geführt wird. Das ist „in vielen Fällen auch berechtigt, weil dieser Begriff sehr synonym genutzt wird mit einem Wohlfühlgedanken –

als ob es gar nicht mehr um Leistung geht", sagt Carsten Meyer, Geschäftsführer der auf Arbeitswelt spezialisierten Beratung Intraprenör. Alles rund um New Work muss für ihn ein klares Geschäftskonzept haben. Attraktive Arbeitsmodelle und höhere Produktivität seien kein Widerspruch, wohlgleich ein komplexes Unterfangen, sagt Meyer. „Es ist eben kaum möglich, in einzelnen Produkten und Projekten alles abzubilden, sondern man muss sich schrittweise als Arbeitgeber weiterentwickeln." Die Zeiten von Obstkorb und kosmetischen Veränderungen im Benefitsystem seien vorbei.

 

Datengetriebene Personalführung: Chancen und Herausforderungen

Typische Mängel in mittelständischen Unternehmen beginnen für Meyer schon beim Umgang mit Daten. „Viele Betriebe behandeln Personalthemen immer noch viel zu weich und qualitativ." Größere Konzerne und digitalisierte Organisationen arbeiten mittlerweile mit People Analytics Daten aus Umfragen. Das gibt eine gewisse Vergleichbarkeit. Doch diese Transparenz ist bei kleineren Unternehmen oft nicht gewünscht, häufig bremst der Betriebsrat.

An Daten mangelte es auch beim Thema Vier-Tage-Woche, weswegen Intraprenör mit Partnern eine aufwendige Studie erstellte. 45 Unternehmen nahmen an einem sechsmonatigen Test teil, um herauszufinden, was passiert, wenn man die Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn verringert. Die Kernerkenntnis: Es funktioniert. Mehr als 70 Prozent der teilnehmenden Unternehmen verlängerten die Pilotphase oder führten die neuen Modelle fest ein. Messbar waren positive Effekte im Hinblick auf Arbeitgeberattraktivität, Personalbindung und Gesundheit der Beschäftigten. Die Produktivität ist entweder gestiegen oder gleich geblieben. Die Unternehmen fanden Wege, die verringerte Arbeitszeit auszugleichen, also mehr Leistung in weniger Zeit zu ermöglichen.

Voll auf die Marge

Auch hier hilft ein genauer Blick. Besonders größere Unternehmen beschäftigten sich schon sehr lange damit, wie sie so stark wie möglich optimieren können – gerade in der Fertigung, wo jede Minute zähle, sagt Meyer. Dort seien weitere Produktivitätssprünge sehr schwer. Entsprechend drückte die geringere Arbeitszeit bei gleichem Lohn voll auf die Marge. Bei kleineren Firmen sieht es anders aus. „Gerade in der Größenordnung zwischen 50 und 200 Beschäftigten gibt es einiges an Luft, was man feststellt, wenn sich alle Beteiligten mit der entsprechenden Motivation zusammentun", sagt Meyer. Und genau solche Betriebe haben an der Studie teilgenommen. „Aus meiner Sicht ist der größte Erfolgsfaktor bei der Idee einer Vier-Tage-Woche, dass auch die Mitarbeiter sagen, wo Performance optimiert werden kann." Die Beschäftigten hatten eine hohe eigene Motivation, Zeitfresser zu finden.

Die Unternehmen verkürzten die Arbeitszeit sehr unterschiedlich. Die Mehrheit strich einen ganzen Tag. Die Beschäftigten waren weniger krank, wenn sie freitags oder montags nicht arbeiteten. Wobei es gerade für die Gesundheit mehr bringt, die Arbeitsstunden pro Tag zu verringern. Wenn ein Handwerksbetrieb 40 Stunden auf vier Tage verteile, nur um in Stellenbörsen als Vier-Tage-Unternehmen gelistet zu werden, tue er seinen Leuten keinen Gefallen, sagt Meyer. Das habe auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit ­keinen oder eher negativen Einfluss.

KI als Produktivitätstreiber: Chancen und Herausforderungen

Kaum jemand hat das Thema New Work und Produktivität diskutiert wie Christoph Magnussen, Gründer und Chef von Blackboat, etwa im Podcast „On the way to New York" mit inzwischen mehr als 600 Gästen. „Wer mich auf die Vier-Tage-Woche anspricht, dem sage ich: Wenn du mehr Zeit haben willst, sieh zu, dass du schneller fertig wirst. Dass es geht, beobachtet man auch in Firmen mit Müttern und Vätern in Teilzeit. Die kommen schneller zum Punkt", sagt Magnussen. Es hängt also mit der Einstellung zusammen. Aber auch mit KI-Technologien, die Arbeit abnehmen können, sodass Zeit für andere Aufgaben frei wird.

Magnussen kennt die allermeisten KI-Tools und berät auch mittelständische Betriebe, wie sie sie einsetzen können. Er schwärmt über die Leistungsfähigkeit der Enterprise-Lösungen, die sich spürbar von den kostenlosen Modellen unterschieden, die man als Privatperson in der Regel nutzt. Ein Problem aber bleibt: der Umgang mit der komplexen Technik. „Die meisten Menschen können nicht mal ihr Smartphone richtig bedienen", sagt er. „Die Tools auszuprobieren, zu testen, zu experimentieren, das fällt den meisten schwer. Es ist ein sehr anstrengender Prozess, weil du ganz viele Dinge anders machen musst, als du sie früher gemacht hast."

Magnussen sieht Zeitersparnis durch KI in drei Kategorien.

Nummer 1: Vereinfachen. Die KI verringert die Masse an Inhalten. Sprachnachrichten, die der Blackboat-Chef via Whatsapp bekommt, lässt er von KI-Programmen filtern und zusammenfassen, statt sie sich minutenlang anzuhören. Auch auf Youtube hat er KI im Einsatz, die ihm Video-Inhalte aufbereitet.

Nummer 2: Automatisieren. Dieses Unterfangen ist aufwendiger als das reine Vereinfachen. Beim Automatisieren brauche ein Unternehmen Klarheit darüber, welcher Prozess sich wirklich sinnvoll automatisieren lasse, sagt Magnussen. „Drei Rechnungen automatisiert zu verschicken, macht keinen Sinn. Es gibt aber in den mittelständischen Betrieben, die wir betreuen, Bereiche, in denen sich Hunderttausende Euro einsparen lassen, weil bestimmte Dinge noch sehr händisch ablaufen." Eine eigene Software dafür habe sich bisher nicht gelohnt. Das ändere sich im KI-Zeitalter erheblich. Er selbst lässt seine E-Mails von der KI filtern und teils auch automatisch beantworten – trainiert mit seiner Sprache und seiner Art zu schreiben. Die Technologie geht auch auf den Kontext der Mail ein.

Nummer 3: Schulen. Bei den Beschäftigten muss Lust auf die neuen Tools sowie die veränderte Arbeitsweise geweckt werden. Die übliche Kritik lautet, es gebe viele Tätigkeiten, die KI nicht könne. Sie geht am Thema vorbei. Magnussen hat festgestellt, dass vielen die Fantasie fehlt, wie sie sich helfen lassen könnten. „Zu lernen, wie das funktioniert, um diesen einen Schritt weiter zu sein, um der Erste zu sein, der Brieftauben einsetzt wie damals, der lohnt sich." Dabei geht es nur bedingt um die einzelne Mitarbeiterin, den einzelnen Mitarbeiter. „Das allein zu machen, ist einfach. Das auch ins Team zu übertragen, dauert."

Effizienz durch Kommunikationsoptimierung

Ein Thema darf nicht fehlen, wenn es um Zeitersparnis geht: Konferenzen. „Wir glauben, dass ganz viele Meetings eins zu eins stattfinden müssen", sagt Magnussen. „Aber bei 40 bis 50 Prozent muss das überhaupt nicht sein. Die ließen sich über einen Post, eine Mail oder ein Dokument erledigen." Das sorge für enorme Flexibilisierung, was gerade bei einer Vier-Tage-Woche wichtig sei. „Man muss sich ja mit den Kunden synchronisieren, Erreichbarkeit sicherstellen und alternative Kanäle anbieten." Seine Kunden würden in erheblichem Umfang das WhatsApp-Angebot von Blackboat nutzen, berichtet Magnussen.

Die nächste Maßnahme sei, die Arbeit zu ­vermeiden, die darin bestehe, sich intern gegen­seitig Kommunikationsschnipsel weiterzuleiten, sagt der Berater. „Das ist ja absurd. Bevor wir bei Kunden KI einführen, räumen wir die ganz normalen Kanäle auf und helfen dabei, die transparenter zu machen." Projekte bekommen eigene Kanäle in Teams oder in Slack. Wer aus dem Urlaub zurückkommt, lässt sich den Projektstatus von der KI zusammenfassen. Technologie hat dazu geführt, dass Arbeit und Privates immer mehr verschwimmen. Man kann sie aber auch nutzen, damit es sich besser entspannen lässt.

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