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Politik > Terrible Ten

EU-Kommission entrümpelt: Neue Binnenmarktstrategie zielt auf Bürokratie-Brecher

Die EU macht Ernst: Mit den „Terrible Ten“ im Visier will Brüssel den Binnenmarkt entstauben – und Schluss machen mit lähmender Bürokratie.

"Wir sind in einer tiefen strukturellen Schwächephase. Und wir überwinden sie nur, wenn wir strukturelle Reformen angehen, um wieder Wachstum zu ermöglichen. Der Binnenmarkt ist hierfür der wichtigste Hebel" erklärt Bundesministerin für Wirtschaft und Energie Katharina Reiche (CDU), im Rahmen eines Treffens der EU-Minister zu Binnenmarkt und zur Industrie. (picture alliance)

Die Europäische Kommission hat eine neue Binnenmarktstrategie vorgelegt, die gezielt die zehn größten Hindernisse für Unternehmen im europäischen Wirtschaftsraum beseitigen soll. Die als "Terrible Ten" bezeichneten Barrieren behindern nach Einschätzung der Kommission den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der EU am stärksten und erschweren es Unternehmen, die Vorteile des gemeinsamen Marktes vollständig zu nutzen.

Potenzial des Binnenmarkts bleibt ungenutzt

Der europäische Binnenmarkt umfasst:

  • 26 Millionen Unternehmen und 
  • 450 Millionen Verbraucher. 

Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 18 Billionen Euro repräsentiert der europäische Binnenmarkt 18 Prozent des globalen Welthandels und sichert rund 56 Millionen Arbeitsplätze in Europa. Trotz dieser beeindruckenden Zahlen bleibt sein volles Potenzial noch immer ungenutzt.

Helena Melnikov, Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), verweist auf den Bericht von Mario Draghi, demzufolge die bürokratischen Hürden im EU-Binnenmarkt einem Zoll von etwa 44 Prozent im Waren- und sogar 110 Prozent im Dienstleistungshandel gleichkommen. "Wenn wir es mit Europa ernst meinen, dann brauchen wir unbedingt einen starken und einheitlichen EU-Binnenmarkt, und zwar jetzt", betont Melnikov.

Bei einer Vollendung des Binnenmarktes könnten sich die bereits erzielten wirtschaftlichen Gewinne nach Einschätzung der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. sogar verdoppeln.

Die "Terrible Ten" im Detail

Die Kommission hat folgende zehn Haupthindernisse identifiziert:

  • Komplizierte Unternehmensgründung und -führung
  • Komplexe EU-Vorschriften
  • Mangelnde Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten
  • Begrenzte Anerkennung von Berufsqualifikationen
  • Fehlende gemeinsame Normen
  • Fragmentierte Vorschriften für Verpackungen
  • Mangelnde Produktkonformität
  • Restriktive und divergierende nationale Vorschriften für Dienstleistungen
  • Aufwändige Vorschriften für die Entsendung von Arbeitnehmern in risikoarmen Sektoren
  • Ungerechtfertigte territoriale Lieferbeschränkungen, die zu hohen Preisen für die Verbraucher führen

Diese Hindernisse wurden auf Grundlage umfassender Konsultationen mit Interessenvertretern ermittelt. Besonders die Regelungen zur Arbeitnehmerentsendung stehen im Fokus der Kritik aus der Wirtschaft.

Entbürokratisierung der Arbeitnehmerentsendung

Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander lobt explizit, dass die Arbeitnehmerentsendung innerhalb der EU in die Top-10-Liste aufgenommen wurde: "Insbesondere beim für die Unternehmen der Metall- und Elektro-Industrie sehr bürokratischen Entsenden von Beschäftigten ins EU-Ausland besteht jetzt die Chance, zu vernünftigen und angemessenen Regeln zu kommen und für Erleichterungen für die Unternehmen zu sorgen."

Zander verweist auf die eDeclaration-Verordnung, über die die für Wettbewerbsfähigkeit zuständigen Minister abstimmen werden. Diese Verordnung soll Vereinfachungen für die arbeitsrechtlichen Entsendemeldungen im Zielland bringen. Zudem erwartet er vom für 2026 angekündigten "Fair Labour Mobility Package" eine umfassende Vereinfachung der gesamten Entsendegesetzgebung.

Strategie der Kommission: Vereinfachen, vereinheitlichen, stärken

Der für Wohlstand und Industriestrategie zuständige Exekutiv-Vizepräsident Stéphane Séjourné fasst den Ansatz der Kommission zusammen: "Die heutige Strategie vereinfacht, vereinheitlicht und stärkt den Binnenmarkt, indem sie Unternehmen das Leben erleichtert und die wichtigsten Hindernisse beseitigt, die noch immer den Handel innerhalb der EU behindern."

Die Strategie fordert die Mitgliedstaaten auf, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass der EU-Markt zur besten Wahl für Unternehmen, Arbeitnehmer und Verbraucher wird. Séjourné betont: "Es ist an der Zeit, dass europäische Unternehmen sich 'europäisieren', bevor sie sich 'internationalisieren'."

Chancen und Risiken

Die neue Binnenmarktstrategie bietet sowohl Chancen als auch Risiken für Unternehmen und die europäische Wirtschaft insgesamt.

Chancen:

  • Vereinfachte Unternehmensführung durch Abbau bürokratischer Hürden bei Gründung und operativer Tätigkeit. Unternehmen können Ressourcen von Verwaltungsaufgaben auf Kernkompetenzen verlagern.
  • Erleichterte Arbeitnehmermobilität durch vereinfachte Entsendevorschriften und bessere Anerkennung von Berufsqualifikationen. Dies ermöglicht flexibleren Personaleinsatz über Grenzen hinweg.
  • Harmonisierte Normen und Produktvorschriften reduzieren Kosten für parallele Produktversionen und vereinfachen den Marktzugang in verschiedenen EU-Ländern.

Risiken:

  • Umsetzungslücken auf nationaler Ebene könnten den Erfolg der Strategie gefährden. Die mangelnde Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten wurde als eines der Haupthindernisse identifiziert.
  • Zeitlicher Verzug bei der Implementierung könnte dazu führen, dass Unternehmen weiterhin mit den bestehenden Hürden kämpfen müssen, während globale Wettbewerber Marktanteile gewinnen.
  • Uneinheitliche Anwendung neuer Regelungen könnte zu neuen Fragmentierungen führen und die Rechtssicherheit für grenzüberschreitend tätige Unternehmen beeinträchtigen.

Die Geschichte des EU-Binnenmarkts

Der europäische Binnenmarkt hat seine Wurzeln in den frühen Tagen der europäischen Integration. Bereits mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch die Römischen Verträge im Jahr 1957 wurde das Ziel eines gemeinsamen Marktes formuliert. Die tatsächliche Umsetzung erfolgte jedoch erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, die den 1. Januar 1993 als Stichtag für die Vollendung des Binnenmarkts festlegte.

In den mehr als 30 Jahren seit seiner offiziellen Einführung hat der Binnenmarkt erhebliche wirtschaftliche Vorteile gebracht – etwa durch den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Dennoch blieb er ein unvollendetes Projekt. 

Die Geschichte des Binnenmarkts ist geprägt von Phasen der Vertiefung und der Stagnation. Ähnlich wie bei früheren Integrationsschritten – etwa der Zollunion in den 1960er Jahren – wurde auch beim Binnenmarkt die anfängliche Dynamik oft durch nationale Interessen und politische Beharrungskräfte gebremst.

Historisch betrachtet folgt die Binnenmarktstrategie einem wiederkehrenden Muster: Auf wirtschaftliche oder geopolitische Krisen reagierte die EU mit neuen Integrationsimpulsen. So führte die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre zum Werner-Plan für eine Wirtschafts- und Währungsunion, die Rezession der frühen 1980er Jahre zur Binnenmarktinitiative, und die Finanzkrise von 2008 zu verstärkten Bemühungen um eine Bankenunion. Auch aktuelle Herausforderungen wie die Digitalisierung, der Klimawandel oder geopolitische Spannungen treiben die Weiterentwicklung des Binnenmarkts voran.

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