Bedrohung durch Russland: Wie sich Unternehmen auf den Kriegsfall vorbereiten sollten
Der Ausbau der Verteidigungsindustrie und der Bundeswehr führt zu einem Wettbewerb um Arbeitskräfte und verändert die Wirtschaftslandschaft.

von Andreas Kempf
Der Krieg in der Ukraine zieht Kreise in Deutschland. Die Rüstungsindustrie baut aus. Und im Ernstfall könnten anderen Unternehmen Mitarbeiter fehlen.
„Wir erleben eine Zeitenwende", hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor drei Jahren nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine festgestellt. Seine Folgerung: „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor." Tatsächlich ändert sich auch in Deutschland viel mehr, als dies gemeinhin wahrgenommen wird. Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur durch die abendlichen Nachrichten und die vielen Flüchtlinge bei uns präsent. Der Konflikt hat unsere Wirtschaft verändert und wird es in den nächsten Jahren noch mehr tun. Das trifft in vielerlei Hinsicht alle Unternehmen: vom Anbieter für die Rüstung über die allgemeine Suche nach Fachkräften bis zur Einbindung im Krisenfall.
„Das Verteidigungsministerium ist gedanklich auf Krieg eingestellt." So beschreibt ein Mittelständler den Wandel. Er rüstet Militär und Rettungskräfte mit verschiedenen Gerätschaften aus und tritt in Berlin seit Jahren als Ansprechpartner für ähnliche Betriebe auf. Die neue Ausrichtung basiert auf den Erkenntnissen der Nachrichtendienste, die davon ausgehen, dass Russland derzeit derart aufrüstet, dass ein Angriff gegen die Nato zum Ende der Dekade für möglich gehalten wird. Entsprechend laufen hinter verschlossenen Türen die Vorbereitungen für einen solchen Krisenfall.
Schutzmaßnahmen, Logistik und auch, Unternehmen einzubeziehen, ist im „Operationsplan Deutschland" zusammengefasst. Was alles in dem mehr als 1000-Seiten dicken Papier steht, wird geheim gehalten. Die Vorbereitungen gehen weit über die Aktivitäten der Soldaten hinaus. Den knapp 82.000 zivilen Beschäftigten der Bundeswehr wird seit August 2024 nahegelegt, eine „Kaltstartakte" für den Krisenfall auszufüllen – eine Zusammenstellung aller Nachlassverfügungen (Kinderbetreuung, Haustiere, Eigentum, Finanzen) über Patientenverfügung und Hausangelegenheiten bis zum Testament. Im Krisenfall sei keine Zeit mehr, die Unterlagen zusammenzusuchen und wichtige Dinge zu regeln. Alle Beschäftigten der Bundeswehr müssten dann „kaltstartfähig" sein, heißt es in der 17-seitigen Unterlage.
In der Öffentlichkeit kommen von diesen einschneidenden Veränderungen meist nur Nachrichtenschnipsel an. Dazu zählt die Forderung von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), Deutschland müsse bis 2027 „kriegstüchtig" werden. Erst vor wenigen Wochen hat die Bundeswehr bestätigt, dass eine vierte Heimatschutzdivision eingerichtet wird. Das sind immerhin 20.000 Frauen und Männer, die vor allem die Infrastruktur wie Versorgungsnetze, Bahnanlagen, Verkehrswege und mehr schützen sollen. In einem ersten Schritt sollen 6000 Personen mobilisiert werden. Vor Kurzem hat das Kabinett die Voraussetzungen geschaffen, damit die Bundeswehr Drohnen abschießen kann, die immer häufiger auch Werksanlagen auskundschaften. Schon länger ist bekannt, dass die Streitkräfte von 180.000 auf 210.000 Frauen und Männer aufgestockt werden sollen. Das war vor der Ankündigung, eine zusätzliche Heimatschutzdivision einzurichten.

Zusammenbruch der Logistik
Die Bundeswehr geht seit Monaten über die Kammern und Verbände verstärkt auf die Wirtschaft zu und mahnt mehr Bewusstsein für eine mögliche Krisensituation an. Die Logistik könnte zusammenbrechen, denn viele Fahrer der Speditionen stammen aus Osteuropa. Die Betriebe müssten in den eigenen Reihen mehr Leute als Fahrer und Rettungskräfte bereitstellen. Zudem sollten Pläne für den Fall geschaffen werden, dass wichtige Versorgungsnetze für Energie und Wasser beschädigt würden. Spätestens hier wird deutlich: Die Schatten des Krieges haben den Alltag erreicht.

Besonders stark hat sich die Situation für die deutsche Rüstungswirtschaft verändert. Vor dem Konflikt in der Ukraine standen die Unternehmen auf der schwarzen Liste von Investoren. Einige hatten sogar Probleme, überhaupt noch einen Versicherer zu finden oder Kredite zu bekommen. Rüstung galt als nicht vereinbar mit den ESG-Nachhaltigkeitskriterien. Mitarbeiter von Rüstungsbetrieben wurden in der Gesellschaft schief angesehen. Entsprechend hatten die Unternehmen Probleme, neue Spezialisten zu finden.
Rheinmetall ist beispielhaft dafür, wie sich die Branche in Deutschland gewandelt hat. Im vergangenen November meldete der Konzern ein Umsatzplus um ein Drittel und 70 Prozent höhere Gewinne. Der Wert der Aktie, die inzwischen im Deutschen Aktienindex Dax gelistet wird, ist binnen drei Jahren von 100 auf mehr als 650 Euro gestiegen. Vorstandschef Armin Pappberger zufolge hat der Konzern einen Umsatz von zehn Milliarden Euro erreicht und will diesen bis 2027 auf 20 Milliarden Euro steigern. Das Düsseldorfer Unternehmen beschäftigt 31.000 Mitarbeiter – ein Drittel mehr als noch 2021. Ähnlich dynamisch entwickeln sich die Geschäfte beim Elektronikausrüster Hensoldt, dem Luftabwehrspezialisten MBDA oder bei Rolls-Royce Power Systems und Renk, die Motoren und Getriebe für Panzer bauen.
500 Milliarden der EU
Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das die Politik der Bundeswehr zugestanden hat, ist inzwischen weitgehend verplant und bei der Branche eingepreist. Sie wartet nun auf neue Signale aus Berlin und Brüssel. Papperger hofft auf einen europäischen Rüstungsfonds, der ein Volumen von 500 Milliarden Euro bekommen soll. „Ich befürworte einen solchen Fonds – auch, weil wir mehr Gemeinsamkeit der europäischen Staaten brauchen", sagt er. Er gehe davon aus, dass das ein weiteres erhebliches Potenzial für Rheinmetall ergebe. Mit großem Interesse verfolgt die Branche die Debatte, die der neue US-Präsident Donald Trump angestoßen hat. Er fordert von den Nato-Staaten, bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Aufrüstung zu stecken. Deutschland kommt derzeit knapp auf zwei Prozent – ein Wert, der lange nicht erreicht worden war. Der Trend bedeutet allerdings für die restliche Wirtschaft, dass Geld für Investitionen und für andere Infrastrukturmaßnahmen fehlen wird. Genaueres wird erst deutlich, wenn das Land wieder eine funktionierende Regierung hat.
„Die Unternehmen stehen in den Startlöchern, aber sie brauchen Planungssicherheit", erklärt ein Sprecher des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), in dem 220 Unternehmen vertreten sind. Man könne gerade von mittelständischen Betrieben nicht verlangen, dass sie sich auf Verdacht mit Rohstoffen eindeckten und zusätzliche Kapazitäten schafften. Ähnlich verhält es sich mit dem Ausbau der Belegschaften. Während Konzerne wie Rheinmetall genügend Aufträge haben, um auch mehr Personal zu beschäftigen, hängen die Kleineren in der Luft. Die offene Haushaltslage nach dem Zusammenbruch der Ampel-Regierung verschärfe die Lage zusätzlich, heißt es beim Verband in Berlin.
Der BDSV bestätigt allerdings, dass sich in den vergangenen Jahren die Auftragsvergabe deutlich vereinfacht hat. Offenbar ist das Militär vom Anspruch der „Goldkantenlösung" abgekommen. Die Einkäufer der Bundeswehr waren lange berüchtigt dafür, dass sie für jedes Gerät zusätzliche Merkmale eingefordert haben. Jetzt werde mehr von der Stange gekauft, bestätigt der Verband. So konnte Airbus in Donauwörth im November schon acht Monate nach der Bestellung die ersten leichten Kampfhubschrauber der Serie H145M übergeben. Diesmal konnte Airbus auf eine bereits entwickelte Variante aufbauen und diese für die Bundeswehr speziell ausrüsten.

Der BDSV schätzt, dass derzeit gut 100.000 Menschen in der Rüstungsindustrie beschäftigt sind. Hinzu kommt ein breites Umfeld von Zulieferern und Bereichen in Konzernen, die der Branche zuarbeiten. Damit wächst die Zahl der Beschäftigten auf 450.000. Zum Vergleich: In der Chemieindustrie arbeiten 400.000 Frauen und Männer. Die Tendenz ist klar steigend: Der BDSV-Sprecher hält Schätzungen für realistisch, dass derzeit weitere 30.000 Stellen zu besetzen sind.
Hinzu kommt der zusätzliche Bedarf der Bundeswehr von 20.000 Soldaten und 5000 Zivilangestellten. Wobei diese nur die jährliche Fluktuation ausgleichen. Wie viel zusätzlich nötig ist? Die Bundeswehr bleibt auf Nachfrage vage. „Unser Personalbedarf umfasst viele verschiedene militärische und zivile Fähigkeiten und Berufe in einer Bandbreite vom Gärtner über IT-Spezialisten bis hin zur Eurofighter-Pilotin. Dabei ist die personelle Situation insbesondere im Bereich Elektronik/Elektrotechnik, IT und MINT sowie in der Luft- und Seefahrt herausfordernd", sagt ein Sprecher in Köln. Offenbar hat die Bundeswehr an vielen Stellen ihre Konditionen verbessert, um die offenen Stellen auch für Seiteneinsteiger interessant zu machen. Der Sprecher beim Personalamt in Köln ist selbstbewusst: „Wir bieten zukunftsfeste Jobs, eine sinnstiftende Tätigkeit, breite Berufs- und Karrierechancen und vielfältigste Weiterbildungsmöglichkeiten und können uns so auf dem Arbeitsmarkt gut behaupten."
Durchgriff des Militärs
Was das Militär nicht erwähnt: Im Krisenfall hat der Gesetzgeber umfassende Zugriffsmöglichkeiten auf Personen in Zivilberufen ermöglicht. So können Unternehmen über Nacht hunderte Mitarbeiter verlieren, die als Reservisten registriert sind. „Was die Bundeswehr dann alles darf, haben weder Unternehmen noch viele Bürgermeister im Blick", stellt der BDSV-Sprecher fest. Der Verband der bayerischen Wirtschaft hat im Herbst eine Broschüre aufgelegt, in der die wichtigsten Bestimmungen zusammengefasst sind. Handwerkern und Selbstständigen wird empfohlen, sich eine Unabkömmlichkeitsbescheinigung bei den Kammern zu besorgen. Sonst könnte ihr Betrieb plötzlich still stehen – mit unabsehbaren Folgen.
Das Hauen und Stechen um die begehrten Fachkräfte wird also schlimmer. Damit erreicht die Entwicklung rund um die Verteidigung alle Unternehmen, die sich so noch mehr als bisher um Spezialisten bemühen müssen. Wobei gerade im Sicherheitsbereich die Rüstungsbetriebe im Nachteil sind. Sie müssen für jeden Kandidaten, der an einem sensiblen Projekt arbeiten soll, das Bundeswirtschaftsministerium einschalten. Dort erfolgt die vorgeschriebene Sicherheitsüberprüfung. „Die kann zwischen sechs Monaten und einem Jahr dauern", erklärt der BDSV. Das hänge davon ab, ob die Geheimdienste bei eventuellem Aufenthalt im Ausland auch noch gefragt werden müssen. Für die Unternehmen bedeutet das, dass sie Mitarbeiter in anderen Bereichen zwischenparken müssen, bevor sie tatsächlich an der Planstelle eingesetzt werden können. Sonst wären sie längst wieder weg.
Die Bundesagentur für Arbeit ist bei der Suche nach Personal für Bundeswehr und Rüstungsindustrie ebenfalls eingebunden. Im Schnitt hatte die Rüstungsindustrie 2024 bei der Behörde 100 offene Stellen gemeldet. Der Bedarf aus dem Umfeld ist dabei nicht eingerechnet. „Zur Bundeswehr besteht eine langjährige, für beide Seiten gewinnbringende Zusammenarbeit, im November 2024 wurde eine neue Grundsatzvereinbarung unterschrieben", sagt eine Sprecherin in Nürnberg. Dabei gehe es im Kern darum, „für den Aufwuchs der Bundeswehr zeit- und bedarfsgerecht geeignetes Personal zu finden". Immerhin sei die Bundeswehr mit fast 270.000 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber im Land.
Durch den neuen Bedarf im Verteidigungssektor ergeben sich auch neue Möglichkeiten, beispielsweise für die Beschäftigten in der Autoindustrie. Continental arbeitet in Niedersachsen mit Rheinmetall zusammen. In einem ersten Schritt sollen 100 Mitarbeiter vom Conti-Standort Gifhorn in einem neuen Munitionswerk im 55 Kilometer entfernten Unterlüß unterkommen. Rheinmetall hat 300 Millionen Euro in das Werk investiert. Weitere Beschäftigte von Conti sollen folgen. Auch mit anderen Zulieferern ist Rheinmetall bereits im Gespräch. Selbst für VW eröffnen sich neue Perspektiven. So könnten im Werk in Dresden – hier droht in diesem Jahr das Aus – alte Panzer der Serie Marder umgerüstet werden.