Was die deutsche Wirtschaft von Frankreichs Linksruck hält
Deutsche Politik wird in Paris aufmerksam verfolgt. Ebenso die französische Politik in Berlin.

Doch aus dem Untertürkheimer E-Campus soll noch mehr hervorgehen. Mercedes entwickelt hier alle Bestandteile rund um den E-Antriebsstrang. Gemeint sind Batterie, Leistungselektronik, Software, E-Achsen und der Elektromotor selbst. „Wir steigen hier wesentlich tiefer ein als beim Verbrennungsmotor“ betont Schäfer. Die Stuttgarter wollen so in allen Bereichen die Kosten für ein E-Fahrzeug beeinflussen und möglichst drücken. „Die sind heute noch wesentlich höher als beim Verbrenner“, erklärt Schäfer. Das bedeutet konkret: Mercedes fertigt künftig wesentliche Teile des künftigen Autos wieder selbst, statt sie wie bisher von Zulieferern zu beziehen. „Das verändert die Lieferbeziehung“, räumt Schäfer ein. So sei nun mal der Wettbewerb.
Die Zulieferer dürften den Kurswechsel von Mercedes als eine Kampfansage verstehen. Große Unternehmen wie Bosch, Mahle oder ZF haben in den vergangenen Jahren hohe Beträge in die Fertigung von Produkten für die Elektromobilität investiert. So hat Mahle seine E-Motoren auch an Mercedes geliefert. Das ist nun vorbei. Im neuen CLA kommt ein Antrieb aus dem eigenen Haus zum Einsatz. Michael Häberle, Stellvertretender Vorsitzender des Gesamtbetriebsrates, sieht in der Strategie des Konzerns eine Absicherung der eigenen Arbeitsplätze. Der Vertretung der Belegschaft quält schon lange die Erkenntnis, dass für die Produktion von „Stromer mit Stern deutlich weniger Menschen benötigt werden. „Antriebe müssen aus Untertürkheim kommen“, betont er deshalb. Und wenn eines Tages Mercedes fliegen sollen, kommen die Düsen von hier.“ Es sei nicht einfach, den technologischen Wandel den Kollegen zu vermitteln. Drum brauche es Zuversicht und den Willen etwas Neues wagen zu wollen.
Diesen Mut wünscht auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Die Autoindustrie des Landes sei immer der entscheidende Schrittmacher gewesen. Mit dem E-Campus werde der Weg für neuen Innovationen bereitet, damit der erreichte Wohlstand auch erhalten werden kann. Die Forschungseinrichtung hat sich bis nach Berlin herumgesprochen. So verfolgt auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Eröffnung vor Ort. Es sei wichtig am eingeschlagenen Kurs hin zur Elektromobilität festzuhalten. „Eine Achterbahnfahrt der Politik führt am Ende nur an den Ausgangspunkt zurück. Deshalb habe die Bundesregierung im neuen Haushaltsentwurf auch eine neue Förderung von E-Dienstwagen bis zum Preis von 95.000 Euro geplant. Die soll bis 2028 gelten. Er hoffe, dass dies für einen neuen Impuls sorgen werde.
Konzernchef Källenius hält ebenfalls am eingeschlagenen Kurs fest. Allerdings hat er den Verbrenner längst nicht mehr auf die Resterampe gestellt wie noch vor einem Jahr. „Wir entwickeln beides bis in die 30er Jahre weiter“, lautet die neue Losung aus der Stuttgarter Konzernzentrale. Doch als eine Abkehr der bisherigen Pläne will Källenius das nicht verstanden wissen. Mercedes sehe in der Elektromobilität den Antrieb der Zukunft. Dem E-Campus, der in Sichtweite von Källenius‘ Vorstandsbüro nun den Betrieb aufnimmt, gibt der Konzernchef ein Motto vor, das er aus dem benachbarten Fußballstadion entnommen hat: „Chance nutzen und auf Sieg spielen.“
Olaf Scholz sagte am 8. Juli, er sei "erleichtert", dass die extreme Rechte die französischen Parlamentswahlen am 7. Juli nicht gewonnen hat. Was Herr Scholz nicht erwähnte, waren die Sorgen der deutschen Unternehmen darüber, was die Neue Volksfront (NFP), das Linksbündnis, das die meisten Stimmen erhielt und ein hartes linkes Element unter Führung eines ehemaligen Trotzkisten umfasst, für die Wirtschaft bereithält.
Was mit der französischen Wirtschaft geschieht, ist für die Deutschen wichtig, denn die Beziehungen zwischen der Deutschland AG und der Frankreich SA sind enger denn je. Deutschland ist Frankreichs größter Exportmarkt und sein wichtigster Handelspartner. Frankreich ist ebenfalls einer der größten Abnehmer deutscher Waren und Dienstleistungen. Die Unternehmen in beiden Ländern investieren viel über den Rhein hinweg. Airbus, ein deutsch-französischer Flugzeugbau-Goliath mit einem Wert von über 100 Mrd. Euro (108 Mrd. Dollar), gehört zu den wertvollsten Unternehmen Europas. Der deutsche Maschinenbaukonzern Siemens und der französische Konzern Alstom wurden von EU-Vertrauensleuten daran gehindert, einen Airbus für Züge zu entwickeln, planen aber dennoch, gemeinsam Lokomotiven zu bauen. Andere grenzüberschreitende Unternehmen sind auf dem Vormarsch. Siemens Energy, das aus Siemens ausgegliedert wurde und Energieanlagen herstellt, und Air Liquide, ein französischer Anbieter von Industriegasen, kooperieren bei der Herstellung großer Elektrolyseure zur Erzeugung von Wasserstoff, einem vielversprechenden sauberen Energieträger. Französische und deutsche Waffenhersteller führen Gespräche über die gemeinsame Produktion eines Kampfpanzer.
Und dann sind da noch die persönlichen Verbindungen. Zahlreiche Deutsche sitzen in den Vorständen französischer Unternehmen. Annette Messemer, eine deutsche Bankerin, ist Direktorin in vier großen französischen Unternehmen: Vinci (Baugewerbe), Imerys (Industriematerialien), Savencia (Molkerei) und Société Générale (Bank). Ein Deutscher, Thomas Buberl, leitet axa, einen der größten europäischen Versicherer. Ein anderer, Peter Herweck, leitet Schneider Electric, ein weiteres großes Maschinenbauunternehmen. Obwohl bisher noch kein Franzose zum Vorstandsvorsitzenden eines deutschen Blue-Chip-Unternehmens ernannt wurde, wurden in einer Studie des Beratungsunternehmens EY aus dem Jahr 2022 zehn Franzosen in den Vorständen großer börsennotierter deutscher Unternehmen identifiziert (sie lagen gleichauf mit den Briten und nur hinter den Amerikanern).
Laut Marie-Avril Roux Steinkühler, einer französischen Juristin, die seit Jahrzehnten in Berlin lebt und arbeitet, ist diese Nähe das Ergebnis lebendiger Netzwerke, die französische und deutsche Unternehmen miteinander verbinden. Das etablierteste Wirtschaftsnetzwerk ist die 1955 gegründete Deutsch-Französische Handelskammer. Das Deutsch-Französische Jugendwerk, das im Rahmen des 1963 von Frankreich und Deutschland unterzeichneten Elysée-Vertrags eingerichtet wurde, hat im Laufe von sechs Jahrzehnten mehr als 9 Millionen Jugendlichen die Teilnahme an 382.000 Austauschprogrammen ermöglicht. La French Tech, eine modernere Netzwerkplattform zur Förderung französischer Technologieunternehmen, verfügt über aktive Zentren in Berlin, München und Düsseldorf.
Die Bindungen zwischen der deutschen und der französischen Wirtschaft werden wahrscheinlich noch enger werden. Ja, die Verkehrssprache wird zunehmend Englisch sein: Die begabtesten französischen Schüler wählen nicht mehr Deutsch als erste Fremdsprache, und die deutschen Schüler sind weniger frankophil. Und einige kulturelle Unterschiede werden für immer ungelöst bleiben. Die Franzosen werden die Vorliebe der Deutschen für Ehrentitel wie „Herr Doktor“ wohl kaum verstehen. Die Deutschen, die an herzliche Arbeitsbeziehungen gewöhnt sind, werden immer Schwierigkeiten haben, die Vorliebe der französischen Arbeitnehmer für militante Proteste zu verstehen.
Zumindest die deutschen Führungskräfte werden vielleicht noch viel lernen können. Wenn die NFP von einer eher zentristischen Koalitionsregierung abgelöst wird, werden die Gewerkschaften ihren Unmut kundtun. Er wird in Berlin fast ebenso stark zu spüren sein wie in Paris.
© 2024 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.
Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com
© 2024 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.
Aus The Economist, übersetzt von Markt und Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com