Nach dem Bruch mit Uncle Sam: Wohin steuert der deutsche Export?
Weil sich die USA vor der Welt hinter Zöllen einmauern, brauchen deutsche Firmen neue Absatzmärkte. Die liegen in Südamerika, Asien und vor allem Afrika.

Von Andreas Kempf
Was in diesen Tagen geschieht, mag manchen an den privaten Zwist in der Verwandtschaft oder gar an einen Scheidungskrieg erinnern. Die über viele Jahre gewohnte Vertrautheit ist über Nacht weg. Was aus den USA herübertönt, sorgt seit Wochen für Kopfschütteln und Entsetzen. Die langjährigen Partner haben sich hinter einer protektionistischen Mauer verschanzt. Für die Wirtschaft kommt der neue Kurs der Regierung in Washington einem Paradigmenwechsel gleich. Selbst wenn die Mauer nicht so hoch wird oder viele Türen bekommt, ist der Glaube an den sicheren und verlässlichen Markt schwer erschüttert. „Es wird nie mehr so wie zuvor“, glaubt Kanadas Außenministerin Mélanie Joly. Ihr Land ist der größte Handelspartner der USA. Aber auch in Deutschland fragen sich in diesen Tagen viele Unternehmer und Beschäftigte: Was nun?
Für Deutschland ist der abtrünnige Partner besonders schwer zu ersetzen. Der Wert der Exporte in die USA betrug 2024 rund 161,4 Milliarden Euro, ein Plus von 2,2 Prozent. Eine gewaltige Summe, die etwa einem Drittel des Bundeshaushalts entspricht. Gleichzeitig sind die Einfuhren aus den USA um 3,4 Prozent auf 91,4 Milliarden Euro gefallen, weil Deutschland in der Rezession verharrt. So erreichte der Exportüberschuss mit der weltgrößten Volkswirtschaft rund 70 Milliarden Euro: eine Rekordmarke. Im Jahr davor waren es 63 Milliarden – ebenfalls Rekord. Doch damit ist jetzt Schluss: Für dieses Jahr gehen erste Schätzungen davon aus, dass der Handel mit den USA um 15 Prozent einbrechen wird. „70 Prozent der Unternehmen erwarten negative Auswirkungen der US-Handelspolitik auf ihre Geschäfte“, sagt DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln könnte der kumulierte wirtschaftliche Schaden über die vierjährige Amtszeit Trumps rund 200 Milliarden Euro erreichen. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt läge dadurch 2028 um etwa anderthalb Prozent niedriger als ohne Zölle.
750 Milliarden Verlust
Die gesamte EU dürfte durch die amerikanische Handelspolitik laut IW etwa 750 Milliarden Euro verlieren. Die Vereinigten Staaten waren bisher der wichtigste Handelspartner. In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Handelsvolumen auf 865 Milliarden Euro verdoppelt. Somit hat die EU-Wirtschaft jeden fünften Euro mit den USA umgesetzt. Mit deutlichem Abstand folgen Großbritannien (13,2 Prozent), China (8,3 Prozent) und die Schweiz (7,5 Prozent). Bei den Importen liegt hingegen China mit 21,3 Prozent vor den Einfuhren aus den USA (13,7 Prozent), Großbritannien (6,8 Prozent) und der Schweiz (5,6 Prozent). „Sowohl bei den Ein- als auch bei den Ausfuhren machten 2024 die fünf am meisten gehandelten Warenkategorien fast die Hälfte des gesamten Handels mit den USA aus“, schrieb die europäische Statistikbehörde Eurostat. Ein Abschied von „Uncle Sam“ wiegt daher so schwer wie eine Enterbung durch die reiche Tante in Amerika.
Deals? Eher nicht
Diese Entfremdung wird wohl länger anhalten, meinen Experten wie beispielsweise Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). „Ob Herr Trump wirklich auf einen Deal – beispielsweise mit der EU – eingeht, ist leider eher nicht zu erwarten. Er glaubt an eine ausgeglichene Handelsbilanz. Das ist eine Nullsummenwelt, die es so aber nicht gibt.“ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte Trump bereits angeboten, Zölle für Industriewaren auf beiden Seiten zu streichen, was der US-Präsident ablehnte. Leider sei auch nicht zu erkennen, dass im Weißen Haus jemand in der Lage ist, Trump von seinem Kurs abzubringen, sagt Kraemer. Und deshalb suchen die Länder, die der US-Präsident mit Zöllen überzieht, nun neue Allianzen. Im Bereich der Verteidigung sei das bereits der Fall, stellt Kraemer fest. IW-Chef Michael Hüther sieht beispielsweise innerhalb Europas auch Bedarf, eine digitale Sicherheitsstruktur mit eigenen Clouddiensten aufzubauen.
„Die Anfragen haben zugenommen“, bestätigt Marc Bauer von der IHK in Stuttgart. Beim stellvertretenden Leiter der Abteilung Außenwirtschaft erkundigen sich die Unternehmen nach Zugangsmöglichkeiten und Zollbedingungen für andere Länder, seit die USA kein verlässlicher Markt mehr sind. „Das Exportgeschäft wird vermutlich kleinteiliger, weil der Zugang zu den großen Märkten China und USA schwieriger geworden ist“, stellt Bauer fest. Das dürfte in vielen Unternehmen den Bedarf nach Außenhandelsspezialisten im Vertrieb erhöhen. Der IHK-Experte rät den Mittelständlern, prinzipiell zu überlegen, welche Märkte für das eigene Produkt infrage kommen und dann deren Potenziale zu prüfen. Einen guten Überblick liefert auch die Außenhandelsagentur des Bundes (gtai.de). Dort können sich Unternehmen über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden halten und sich möglicherweise neu orientieren. Zum Beispiel nach Saudi-Arabien, ein reiches Land. Allerdings schreckt viele die Zahlungsmoral dort ab. Auf den Seiten der GTAI wird erklärt, wie man die Klippe umschifft oder über Spezialisten am Ende doch zu seinem Geld kommt.
Auch die Kammern haben qualifizierte Ansprechpartner wie Marc Bauer in Stuttgart. Die sind auch mit den 140 Außenhandelskammern (AHK) vernetzt. Neben bürokratischen Regeln bekommt man hier Auskunft über kulturelle und juristische Besonderheiten oder andere Handelsregeln. Alles Dinge, die im Umgang mit den USA keine so große Rolle spielen. Bauer kennt aber auch einen Markt, der keine besonderen Hürden kennt: „Wie wäre es mit dem Binnenmarkt? Oft haben Unternehmen diese Möglichkeiten noch gar nicht ganz ausgeschöpft.“ Also: mehr EU wagen.
Bei anderen Ländern stellen Mittelständler oft fest, dass die Zollhürden zu hoch und die bürokratischen Prozeduren zu aufwendig sind. „Neue Freihandelsabkommen fördern die Unabhängigkeit von den USA. Deutschland und die EU müssen hier jetzt schnell in Verhandlungen kommen und bereits anverhandelte Abkommen abschließen“, sagt deshalb Dirk Jandura, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Die Gesprächsbereitschaft ist rund um den Erdball so groß wie schon lange nicht mehr, denn alle sind von Trumps Zöllen betroffen und nun auf der Suche nach Alternativen zu den USA. So orientiert sich die kanadische Regierung neu und hat bereits Gespräche mit Brüssel und „asiatischen Partnern“ aufgenommen. Der ehemalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hat sogar eine Art „EU-Mitgliedschaft“ für Kanada ins Gespräch gebracht. Aber auch China versuche gerade mit einer Charme-Offensive gegenüber den Europäern die Gunst der Stunde zu nutzen, stellt IW-Chef Hüther fest. „Es verschiebt sich gerade viel und das zulasten der Vereinigten Staaten.“
Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten richtet sich der Blick vor allem auf das Abkommen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur. Die Freihandelsvereinbarung mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay ist grundsätzlich unterzeichnet worden. Neben dem Beitrittskandidaten Bolivien sind zudem Chile, Peru, Kolumbien und Ecuador assoziiert. Beobachter sind Mexiko und Neuseeland. Der Sitz der Organe liegt in der Hauptstadt Uruguays, Montevideo. Verhandelt wurde insgesamt 25 Jahre. Grundsätzlich vereinbart ist exakt das Gegenteil der jüngsten US-Politik: Abbau von Zöllen und mehr Handel. Durch das Abkommen soll eine der weltweit größten Freihandelszonen mit mehr als 750 Millionen Einwohnern entstehen. Zuletzt hat die EU in die Mercosur-Staaten Waren und Dienstleistungen im Umfang von 110 Milliarden Euro verkauft.
Die vier Mercosur-Staaten erheben derzeit hohe Zölle, was den Handel erheblich einschränkt: 35 Prozent auf Autos, 14 bis 20 Prozent auf Maschinen und bis zu 18 Prozent auf Chemikalien. Die Zölle sollen für gut 90 Prozent der Waren wegfallen. „Das Abkommen könnte deutschen Unternehmen den Zugang zu einem Markt mit mehr als 260 Millionen Konsumenten erleichtern und ihnen neue Geschäftschancen eröffnen“, sagt DIHK-Außenwirtschaftschef Treier. Derzeit macht das Geschäft mit Mercosur-Staaten lediglich ein Prozent des gesamten deutschen Handels aus. Auch deshalb kann mehr Handel mit den Ländern in Südamerika die Geschäfte mit den USA Treier zufolge nicht ersetzen. Dennoch sei das Abkommen „eine wichtige Chance“.
Südamerika erschließen
Tatsächlich könnte beispielsweise die deutsche Autoindustrie einen kaum erschlossenen Markt nutzen. Wegen der hohen Zölle exportierten die heimischen Konzerne im gesamten Jahr 2023 nur 20.700 Autos nach Argentinien und Brasilien. Nach einer DIHK-Umfrage unter 2600 Unternehmen mit Aktivitäten im Ausland erwarten 31 Prozent, dass das Abkommen günstige Folgen hat. Das sei angesichts des geringen Handelsvolumens ein „bemerkenswertes Ergebnis“. Etwa 40 Prozent der Unternehmen, die positive Effekte erwarten, rechnen der DIHK zufolge mit einem erleichterten Marktzugang, 29 Prozent gehen von weniger Kosten aus, weil die Zölle wegfallen. Etwa ein Viertel plane, mehr oder überhaupt erst in die entsprechenden Länder zu liefern.
Allerdings müssen die EU-Mitgliedsländer und das Europäische Parlament noch zustimmen, bis das Mercosur-Abkommens in Kraft tritt. Das Ja aus Deutschland gilt als gesichert. Widerstand gab es bisher vor allem aus Polen, Frankreich und Italien, die Nachteile wegen der Agrarimporte aus Südamerika befürchteten. Das war allerdings vor Trumps Zoll-Offensive. Aber auch in Wien ist die neue Koalition von ÖVP und SPÖ über das Abkommen zerstritten. Bisher sollte es 2026 endgültig unterzeichnet werden und in Kraft treten. „Jetzt kommt es darauf an, dass sich die Bundesregierung auf EU-Ebene für politische Unterstützung und ein zügiges Inkrafttreten starkmacht“, fordert Treier. Der amtierende Präsident des EU-Rates, António Costa, drängt ebenfalls auf eine Ratifizierung des Abkommens.
Indonesien als Partner
Das Beispiel Mercosur macht deutlich, welche Chancen sich bieten, wenn Handelshemmnisse abgebaut sind. Das hat offenbar auch Brüssel erkannt. Seit dem Wahlsieg Donald Trumps ist die EU-Kommission intensiv rund um den Globus auf der Suche nach neuen Allianzen und versucht, alte Gespräche neu zu beleben. Im Januar gelang es bereits, ein altes Handelsabkommen mit Mexiko aufzufrischen. In Malaysia hat die Kommission wieder Gespräche über ein Freihandelsabkommen aufgenommen. Auch das Nachbarland Indonesien mit 290 Millionen Einwohnern gilt als hochinteressanter Partner. Brüssel verstärkt nun auch die Gespräche mit den Philippinen und Thailand. Am Marktzugang für Rind- und Schaffleisch ist bisher ein Abkommen mit Australien gescheitert. Angesichts der drängenden Probleme dürfte die Steak-Frage aber jetzt schnell gegessen sein.
Ende Februar war das gesamte EU-Spitzengremium in Indien. Das riesige Land mit fast 1,5 Milliarden Menschen dürfte seinerseits jetzt mehr Interesse an einer Zusammenarbeit zeigen, nachdem Trump auch Neu-Delhi mit horrenden Zöllen bedroht. Die EU und Indien wollen bis Ende des Jahres zu einem Handelsabkommen finden. Schon heute sind viele Unternehmen auf dem Subkontinent aktiv. Aber gemessen an der Größe des Marktes hält sich das Handelsvolumen mit 124 Milliarden Euro in Grenzen. Die bürokratischen Hemmnisse sind zu hoch. „Indien ist derzeit noch schwierig“, bestätigt IHK-Experte Bauer. Dabei ist die größte Demokratie der Welt gut erschlossen, viele junge Leute sind gut ausgebildet und Englisch ist eine offizielle Landessprache. Das erleichtert Marktzugang und Kooperationen.
Als große Unbekannte, der enormes Potenzial zugesprochen wird, gilt Afrika. „In einem Vierteljahrhundert dürfte jeder vierte Mensch Afrikanerin oder Afrikaner sein. Der Bedarf reicht von Lebensmitteln und Infrastruktur zu Energie- und Medizintechnik, über Konsumgüter bis hin zur Digitalisierung“, berichtet die deutsche Außenhandelsagentur GTAI. Schon heute leben in den 54 Staaten 1,5 Milliarden Menschen. „Elf der 20 am schnellsten wachsenden Märkte liegen in Afrika. Das bietet deutschen Unternehmen große Chancen“, sagt Jana Unger vom Wirtschaftsnetzwerk Afrika. Auch IHK-Experte Bauer sieht in einigen afrikanischen Ländern gute Absatzmöglichkeiten. Allerdings seien die Alltagsbedingungen oft nicht einfach. Zudem werde man häufig feststellen: „Die Chinesen sind schon da.“