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Politik > Kommentar

Neue Schulden: Politiker im Rausch der großen Zahlen

Früher waren 100 Milliarden Euro mal so viel, dass man diese neuen Schulden als „Sondervermögen“ etikettieren musste. Jetzt sind 900 Milliarden im Gespräch. Wahnsinn oder sinnvoll? Ein Kommentar.

Shifting-Baselines-Syndrom: Wahrnehmungsveränderung in Rekordzeit

Von Thorsten Giersch

Das Shifting-Baselines-Syndrom beschreibt Veränderungen in der Wahrnehmung der Welt eigentlich auf Generationensicht. Doch derzeit passiert so vieles so schnell, dass es nicht mehr 30 Jahre, sondern nur noch drei Jahre dauert, bis sich unsere Maßstäbe verschieben. Fanden wir das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr 2022 noch eine irrwitzige Summe, kommt es einem derzeit eher wie Portokosten vor.

Manche heulen vor Wut, dass Deutschland nicht schon in der Ära Merkel in seine Infrastruktur investierte, als Geld praktisch nichts kostete und die Wirtschaft brummte. Aber es bringt nichts, der Blick geht nach vorn. Was jetzt nicht passieren darf ist, dass Union und SPD einen Hase-und-Igel-Schuldenwettlauf starten.

Die Verlockung des großen Wurfs

Der große Wurf wirkt verlockend: Wer mal 900 Milliarden in den Raum wirft, kann mit 500 Milliarden auch gut leben. Die Sucht nach großen Summen ist erklärbar: Je mehr Geld da ist, desto weniger muss die neue Regierung priorisieren. Weniger Ärger am Kabinettstisch, weniger schlechte Presse! Die Bürger werden in Watte gepackt, keine „Zumutungen" nötig. Wenn die großen Blöcke Infrastruktur und Verteidigung im Handstreich nicht mehr Teil der Verhandlungen um den Haushalt – wie schön wäre das Umverteilen und Regieren!

Doch es gilt zu differenzieren: Die Ausgaben für Verteidigung müssen rauf. Die Lage ist angesichts des enorm hohen Drucks seitens der USA dramatisch. Doch jetzt noch auf die schnelle ein paar hundert Milliarden für Straße, Schienen und Co? Wer soll eigentlich definieren, was genau Teil eines „Infrastruktur"- Sondervermögens sein soll? Der Ruf nach einer „sozialen Infrastruktur" wurde bereits laut. Es ist leicht, sich auszumalen, wo das endet.

Zweitens: Liegt der schleppende Ausbau der Infrastruktur hierzulande wirklich am Geld? Hauptgründe sind eher knappe Kapazitäten und elendig lange Verfahren. Und drittens: Was passiert, wenn unendlich Geld ins System gekippt wird? Die Preise schießen durch die Decke. Wer privat bauen oder sanieren will, dem mag man viel Glück wünschen.

So oder so sollte eines das Mindeste sein: Die Zinsen, die der Bund Jahrzehntelang für die Sondervermögen berappen darf, muss der Kernhaushalt bedienen. Dass „Schulden“ inzwischen „Sondervermögen“ heißen, ist ja noch witzig. Aber wie nennt man eigentlich, wenn man eine „(Schulden-) Bremse“ austricksen will? Fährt das Auto dann womöglich vor die Mauer?

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