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Politik > Kommentar

Notstand in der Pflege: Das schlagen Deutschlands Arbeitgeber vor

| Thorsten Giersch

Arbeitgeber schlagen eine radikale Pflegereform vor – inklusive Einschnitten bei Leistungen. Eine neue Taskforce sucht nach tragfähigen Lösungen.

Die Arbeitsgruppe fuer die Pflegereform mit Vertreterinnen und Vertretern von Bund und Laendern sowie kommunalen Spitzenverbaenden auf der Bühne bei Pressekonferenz
Die Arbeitsgruppe fuer die Pflegereform mit Vertreterinnen und Vertretern von Bund und Laendern sowie kommunalen Spitzenverbaenden am Montagnachmittag (07.07.2025) in Berlin. (Foto v.l.: Bundesministerin fuer Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Karin Prien (CDU); Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU); bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU); Hamburgs Gesundheitssenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD)) Die Arbeitsgruppe soll laut Koalitionsvertrag noch in diesem Jahr Reformvorschlaege machen. Ziele der angestrebten Veraenderungen sind laut schwarz-rotem Koalitionsvertrag unter anderem "die nachhaltige Finanzierung und Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung" und eine Staerkung sowohl der ambulanten wie auch der haeuslichen Pflege. (Foto: picture alliance)

Seit dieser Woche diskutiert eine neue Taskforce über die Zukunft der Pflegeversicherung – angeheizt von neuen Daten, die Sorgen bereiten. Die Arbeitgeber machen klare Vorschläge. Eine Analyse.

 

von Thorsten Giersch

BDA plädiert für eine radika­le Reform

Es ist weniger das Skalpell als die Axt, womöglich sogar Kettensäge, die Deutschlands Arbeitgeber zum Start in diese Woche herausgeholt haben, um der Politik Gedanken rund um die Pflegeversicherung mit auf den Weg zu geben:  Die Bundes­ver­ei­ni­gung der Deutschen Arbeit­ge­ber­ver­bän­de (BDA) plädiert für eine radika­le Reform, um die Kosten in den Griff zu bekommen. 16 Milliarden Euro würden die Vorschläge des BDA einsparen laut eigener Rechnung.

Eine Maßnahme wäre, dass Bedürf­ti­ge im ersten Betreu­ungs­jahr unter Umständen noch keine größe­ren Leistungs­an­sprü­che an die Pflege­kas­sen haben sollten. Diese „Karenz­zeit“ würde je nach Pflege­grad gelten. Damit wäre rund ein Zehntel der Pflege­aus­ga­ben eingespart. Das wird vielen – potenziell – Bedürftigen nicht gefallen, genauso wenig wie der Vorschlag, den „Entlas­tungs­be­trag“ von 131 Euro im Monat zu strei­chen: Den bekommen Pflege­be­dürf­ti­ge für Diens­te wie Putzen, Kochen, Waschen oder Gartenarbeit.

Beitrags­zah­ler nicht über Gebühr belasten

Die Regel – Kostenpunkt 3,4 Milli­ar­den Euro im Jahr - lade zu Mitnah­me­ef­fek­ten ein. Zudem sind die Arbeitgeber für die Einführung eines „Nachhal­tig­keits­fak­tors“, wie man ihn etwa aus der Renten­ver­si­che­rung kennt. Der soll die finan­zi­el­len Lasten gerecht zwischen den Genera­tio­nen vertei­len, indem er dafür sorgt, dass Beitrags­zah­ler nicht über Gebühr belastet werden, wenn sie immer mehr Empfänger finanzieren müssen. Zudem soll der Bundes­haus­halt Renten­bei­trä­ge für pflegen­de Angehö­ri­ge übernehmen, was die Pflegekasse um vier Milli­ar­den Euro pro Jahr entlasten könne.

Anlass des Vorstoßes der Arbeitgeber war der „Zukunftspakt Pflege“, den die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) am Montag starten ließ: Teilnehmende von Bund, Ländern und Kommunen arbeiten seit dieser Woche also ein einer Pflegereform, die diesen Namen auch verdient hat.

Es sollen Grundlagen einer Reform erarbeitet werden, "die die nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung sichert sowie die ambulante und häusliche Pflege stärkt und eine einfache und bürokratiearme Inanspruchnahme von Leistungen gewährleistet“.

Eigenanteil von fast 3000 Euro pro Monat

Die Truppe hat sicherlich auf dem Schirm, dass die Menschen in Deutschland immer älter werden und dass dies die Bezahlbarkeit des Systems in Zukunft massiv belastet. Wie dringend der Handlungsbedarf ist, zeigen auch aktuelle Daten der Krankenkasse DAK Gesundheit: Demnach wird das Defizit in der Pflegeversicherung in diesem Jahr auf 1,65 Milliarden Euro steigen.

2026 könnten die Ausgaben um 3,5 Milliarden Euro über den Einnahmen liegen. Dass die Beitragssätze zur Pflegeversicherung seit ihrer Einführung 1995 stetig steigen, hilft kaum. Der Steuerzahler pumpt über die Querverschiebung ohnehin viel Geld ins marode System. Und die Pflegebedürftigen schultern jetzt schon einen Eigenanteil von fast 3000 Euro pro Monat.

Mit Umver­tei­lungs­phan­ta­si­en ist das System nicht zu retten

Politisch wird die Diskussion vor allem um zwei Fragen gehen: Soll das Teilkasko-Prinzip erhalten bleiben, oder soll die Kasse alle Leistungen übernehmen? Die Meinung der Arbeitgeber ähnelt der der CDU: „Mit Umver­tei­lungs­phan­ta­si­en ist das System nicht zu retten.“ Und zweitens, ob es eine Art der „Bürgerversicherung“ braucht: In der SPD gibt es Anhänger der Idee. Linkspartei, Grüne, Sozialverbände und Gewerkschaften wollen ohnehin, dass auch Beamte, Selbstständige und Privatversicherte in die Pflegeversicherung einzahlen. Nicht nur die Union ist dagegen.

Auch Krankenversicherungen, die Ärzteschaft und Arbeitgeberverbände schütteln den Kopf und bringen gute Argumente vor: Innovationen und strukturelle Veränderungen gedeihen mit dem Prinzip Gießkanne wohl nicht. Sie halten stattdessen eine Konsolidierung des bestehenden Systems für zweckmäßig und sehen Potenzial dafür in einer Veränderung der Leistungsanrechte, neuen Anreizen zur Eigenvorsorge, einer weniger bürokratischen Verwaltung und einer gesonderten Finanzierung versicherungsfremder Leistungen. Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) plädiert für einen „Paradigmenwechsel“ und mehr Eigenverantwortung. Heißt konkret: Wer selbst vorsorgt, soll dies von der Steuer absetzen können. Zugegeben sind PKV-Vertreter da nicht ganz objektiv, aber unfair klingt die Idee nicht.

Es wird seinen Preis haben

Bei all dem darf man die enormen Sprünge nicht vergessen, die in der Medizin heute schon – dank künstlicher Intelligenz – und in Bälde auch durch Quantencomputer passieren dürften. Zig neue Behandlungen ermöglichen längeres Leben und vor allem, länger gesünder zu leben. Doch es wird seinen Preis haben. Für alle dürften neue Alzheimer-Methoden mit Nano-Roboter nicht zum Kassentarif zu haben sein.

Zur Diskussion über Finanzen gehört auch immer die über Gerechtigkeit. Ein Umlagesystem, das allen Menschen eine gewisse Sicherheit gibt – auch wenn sie übrigens ungesund leben oder das System durch Verletzungen bei Risikosportarten belasten – ist sakrosankt. Aber einige Leistungen, die die neue Gesundheitswelt alternden Menschen theoretisch ermöglicht, kann nicht von der Allgemeinheit bezahlt werden. Auch dieser unbequemen Wahrheit müssen sich alle stellen.

Ob Länder und Kommunen ihren Beitrag zum Sparen leisten wollen, darf man bezweifeln. Nina Warken und ihre Arbeitsgruppe werden Lobbyisten und vielen Älteren vor den Kopf stoßen müssen, wenn das System nicht kollabieren soll. Das schulden sie auch den Jüngeren.

Infokasten: Pflegeversicherung am Scheideweg – Fakten, Vorschläge, Kontroversen

Worum geht es? 

Deutschland diskutiert über die Zukunft der Pflegeversicherung. Eine neue Taskforce unter Leitung der Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) will Reformen entwickeln, um die Finanzierung nachhaltig zu sichern. Arbeitgeberverbände legen mit teils drastischen Vorschlägen vor – zur Entlastung der Pflegekassen, aber auch mit gesellschaftspolitischer Sprengkraft.

 

Pflege in Zahlen:

  • Eigenanteil Pflegebedürftiger: Ø 2.879 €/Monat
  • Defizit 2025: 1,65 Mrd. €
  • Prognose 2026: +3,5 Mrd. € Ausgabenüberschuss
  • Beitragssatzentwicklung: Seit 1995 stetig steigend
  • Entlastungsbetrag heute: 131 €/Monat – für haushaltsnahe Leistungen

Vorschläge der Arbeitgeber (BDA)

  • Karenzzeit einführen: Im ersten Jahr keine vollen Leistungen je nach Pflegegrad
  • Streichung Entlastungsbetrag: Einsparungspotenzial: 3,4 Mrd. € jährlich
  • Nachhaltigkeitsfaktor: Beitragssatz dynamisch an Demografie anpassen
  • Staat übernimmt Rentenbeiträge für pflegende Angehörige: Entlastung: 4 Mrd. €
  • Förderung privater Vorsorge: Steuerliche Absetzbarkeit für Eigenvorsorge

Die großen Streitfragen

  • Teilkasko vs. Vollversicherung

    Arbeitgeber und Union sagen: Umverteilungsideen reichen nicht.

    SPD, Grüne, Linke: Pflege ist solidarische Aufgabe aller – inkl. Beamter & Selbstständiger.

  • Bürgerversicherung?

    Pro: Mehr Beitragszahler, mehr Gerechtigkeit

    Contra: Eingriff in bestehende Versicherungsfreiheit

Medizinische Innovation – soziale Herausforderung

  • KI und Quantenmedizin werden Pflege und Prävention revolutionieren

  • Aber: Neue Therapien werden teuer – nicht alles kann solidarisch finanziert werden

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