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Politik > Wirtschaftspolitik · Sozialstaat

Sozialstaat XXL: 502 Leistungen und kein Plan –ein Albtraum aus 3.246 Paragrafen für Unternehmer

| Markt und Mittelstand / red. | Lesezeit: 4 Min.

Über 500 Sozialleistungen zählt das ifo Institut – ein System, das selbst Experten überfordert. Und das Unternehmer ratlos zurücklässt: Wer soll da noch durchblicken – oder arbeiten wollen?

Dunkler Gang mit Türen von 1 - 502
502 Leistungen, 3.246 Paragrafen: Der Sozialstaat wird zum Labyrinth – mit unklaren Kosten, Fehlanreizen und dringendem Reformbedarf. (Foto: MuM/ki)

Markt und Mittelstand

Deutschland hat ein System, das sich selbst im Weg steht. Über 500 Sozialleistungen, verteilt auf mehr als 3.000 Paragraphen, bilden ein bürokratisches Labyrinth, das selbst erfahrene Volkswirte an die Szene aus Asterix erobert Rom erinnert – den Gang durch das „Haus, das Verrückte macht“.

Die Forscher des ifo Instituts wollten ursprünglich die Wirkungen und Kosten der Sozialleistungen erfassen. Doch schon der Versuch, sie alle zu zählen, endete in einer Inventur des Unfassbaren.

Im neu erschienenen ifo Forschungsbericht 160 ist nun erstmals dokumentiert, was der deutsche Sozialstaat tatsächlich umfasst: von BAföG über Elterngeld bis zu steuerlichen Freibeträgen – alles, was einen sozialpolitischen Zweck verfolgt. Ergebnis: 502 verschiedene Leistungen auf Bundesebene, ohne die Programme der Länder und Kommunen mitzuzählen.

Der Aufwand, sie zu koordinieren, ist enorm. Jede Leistung hat eigene Regeln, Zielgruppen, Formulare, Prüfverfahren. Eine Rationalisierung oder gar Vereinfachung? Fehlanzeige. Der Nationale Normenkontrollrat spricht von einer „Komplexitätsfalle“. Die Vielzahl an Programmen mache es kaum noch möglich, Wirkungen zu messen oder Fehlanreize zu erkennen.

 

Bürgergeld und die Debatte um Arbeitsanreize: Der Sozialstaat hat seine Architektur verloren

 

Während Politiker über das Bürgergeld streiten, offenbart der ifo-Bericht das größere Problem: Der Sozialstaat hat seine Architektur verloren. Unternehmer sehen sich zunehmend mit dem Argument konfrontiert, dass viele Arbeitskräfte durch hohe Sozialleistungen keine Notwendigkeit mehr sehen, niedrig bezahlte Jobs anzunehmen. Doch niemand weiß genau, welche Leistungen tatsächlich greifen – oder sich überlagern.

Für die Wirtschaft bedeutet das: ein Arbeitsmarkt, der nicht nur an Fachkräftemangel, sondern an Fehlanreizen leidet. Wenn ein Haushalt aus Transferleistungen fast so viel erhält wie ein Einstiegslohn, dann verliert Arbeit ihren relativen Reiz. Doch ob diese Annahmen empirisch zutreffen, bleibt unklar – weil der Staat seine eigene Datengrundlage nicht kennt.

Die ifo-Forscher fordern deshalb Transparenz. Sie wollen wissen: Wer erhält welche Leistungen? Was kosten sie – und wie hoch ist der Verwaltungsaufwand? Wie viele Menschen beantragen unberechtigt, wie viele verzichten trotz Anspruch? Nur mit diesen Daten lasse sich der Sozialstaat evidenzbasiert reformieren.

Für die Wirtschaft ist der ifo-Befund ein Weckruf: Ein Sozialstaat, den nicht einmal seine Architekten verstehen, gefährdet Leistungsbereitschaft, Planbarkeit und Wettbewerbskraft zugleich. Solange Menschen mehr Zeit mit Anträgen als mit Arbeit verbringen, läuft etwas grundlegend falsch. Die Politik steht vor der Wahl – Ordnung schaffen oder weiter im Formularhaus wohnen.

Fakten: Das Inventar des Sozialstaats

  • 502 identifizierte Sozialleistungen auf Bundesebene

  • 3.246 Paragraphen in den Sozialgesetzbüchern

  • Rund 200 Leistungen im Themenfeld Gesundheit, Pflege & Teilhabe

  • Nur 1 % im Bereich Wohnen & Infrastruktur

  • Wer profitiert? (nach Zielgruppen)

    • Kinder/Jugendliche: ca. 10 % der Leistungen

    • Erwerbsfähige Erwachsene: rund 90 Programme

    • Seniorinnen und Senioren: etwa 70 Leistungen

    • Leistungen „für jedes Alter“: über die Hälfte aller Programme

  • Datenlage: Viele Leistungen ohne belastbare Angaben zu Kosten und Inanspruchnahme

Die Vielzahl an Vorschriften ließ die Aufgabe beinahe unlösbar erscheinen.

Andreas Peichl, ifo-Institut

Kurz erklärt

Das „Haus der sozialen Hilfe und Förderung“

  • Begriff des Nationalen Normenkontrollrats (NKR), eingeführt 2024.

  • Bezeichnet die Gesamtheit aller Sozialleistungen in Deutschland, gegliedert nach Lebenslagen.

  • Ziel: Transparenz, Bündelung und Effizienz im Sozialsystem.

  • Kritik: Zersplitterung, mangelnde Übersicht, hoher Verwaltungsaufwand.

Was gilt als Sozialleistung?

  • Dienstleistungen, Geld- oder Sachleistungen oder sonstige Hilfen,

  • zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit,

  • Rechtsanspruch meist auf Antrag, wenn Voraussetzungen erfüllt sind.

Bürokratische Komplexität

  • Viele Leistungen überschneiden sich oder sind kaum bekannt.

  • Mangelnde Datentransparenz: Kein Überblick über Inanspruchnahme, Kosten, Wirksamkeit.

  • Vergleichsstudien fehlen, Forschungsdatengesetz gefordert.

  • Hoher Verwaltungsaufwand, Gefahr ineffizienter Mittelverwendung.

„Passierschein A38“-Moment

  • ironisch-historischer Vergleich aus Asterix erobert Rom
  • Symbol für das Gefühl vieler Bürger beim Antrag auf Sozialleistungen

  • ifo-Forscher nutzen das Bild für die Bürokratie im deutschen Sozialstaa

Politisch-ökonomische Einordnung: Reformbedarf laut Experten

  • Normenkontrollrat empfiehlt: Bündelung der Leistungen.

  • ifo-Institut fordert: Quantifizierung und Datenbereitstellung zu Kosten, Anspruchsgruppen, Verwaltungsaufwand.

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