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Was ist Mittelstand?

Familienunternehmen genießen weltweit ein hohes Ansehen. Doch stimmt das Image überhaupt? Wir trennen Klischee von Wahrheit. Von Thorsten Giersch

Was ist Mittelstand
Als die Manager noch Hut trugen: ein Blick in die Fertigung bei Knorr-Bremse um 1905. Das Unternehmen ist inzwischen ein Milliardenkonzern. Bildquelle: Knorr-Bremse

Ob Adesso ein Mittelständler ist? Dirk Pothen hat die Frage eine Sekunde lang überrascht. Dabei erinnert das wuselige Treiben all der Mitt- bis Enddreißiger hier in der Zentrale von Adesso in Dortmund eher an den Google-Campus im Silicon Valley als an eine typisch mittelständische Produktionsstätte. „Natürlich fühlen wir uns dem Mittelstand zugehörig“, antwortet der Vorstand, der unter anderem für Personal zuständig ist. Adesso wurde kürzlich zu „Deutschlands Bestem Arbeitgeber“ gekürt. Der IT-Dienstleister beschäftigt inzwischen 9000 Leute in ganz Europa, wächst um 20 bis 30 Prozent pro Jahr. „Man kriegt gute Leute leichter, wenn man zum Mittelstand gehört“, sagt Pothen. Der Mythos Mittelstand, er funktioniert.

Wer dem Mythos auf die Spur kommen will, kommt an Wirtschaftsgeschichte nicht vorbei: Die Gründung mancher Mittelständler geht auf die Zeit vor der Industrialisierung zurück – als es noch keine Fabrikhallen gab, keine Fließbandproduktion, vom Shareholder-Value ganz zu schweigen. Auf eine Zeit also, die so weit zurückliegt, dass sie verklärt wird: Mitarbeiter waren noch Menschen und nicht kostenrelevante Produktionsfaktoren. Schon allein wegen dieser Legende bringen Millionen in aller Welt den Mittelstand bis heute mit einer besonderen Mentalität in Verbindung. Egal, ob man im In- oder Ausland fragt: Er wird als eine besondere Gruppe von Unternehmen charakterisiert. Die Betriebe heben sich – zumindest ist ihr Image so – durch wertebasierte Verhaltensweisen ab.

Ob das immer noch so ist oder schon immer ein Klischee war, haben Wissenschaftler jetzt untersucht. Und ihre Antwort ist vielschichtig, schließlich ist der Mittelstand sehr heterogen, die Vielfalt der unternehmerischen Entscheidungen enorm. Das Institut für Mittelstandsforschung (IfM) hat in einer Studie ermittelt, inwiefern sich die unternehmerischen Ziele mittelständischer Unternehmen von denen anderer unterscheiden.

Eine der Fragen lautete, was den Familienunternehmen wichtig ist. Kundenzufriedenheit steht da an erster Stelle, die „kurzfristige Gewinnmaximierung“ ganz hinten. Das sieht bei börsennotierten Unternehmen zwar ähnlich aus, das Ergebnis fällt aber bei Weitem nicht so klar aus. Die Ziele mittelständischer Unternehmen unterscheiden sich tatsächlich: Sie messen der eigenen Unabhängigkeit, der Arbeitnehmerzufriedenheit, dem Erhalt und der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie ökologischen Zielen eine höhere Bedeutung zu als nicht mittelständische Unternehmen.

Das besondere Selbstverständnis

Nun sind Ziele das eine, Taten das andere: Handeln Mittelständler auch wertebewusster? Es kommt der IfM-Studie zufolge darauf an, ob der Betrieb nur formell ein Familienunternehmen ist oder ob er sich dem Mittelstand auch wirklich zugehörig fühlt. Die nicht finanziellen Ziele sind solchen Betrieben dann wichtiger. Der Mythos Mittelstand definiert sich also bei Weitem nicht nur über die Eigentümerstruktur, sondern durch dieses besondere Selbstverständnis: Man ist durch „mittelständisches Unternehmertum“ geprägt.

Im Vergleich zu börsennotierten Unternehmen haben Mittelständler häufig eine deutlich stärkere emotionale und persönliche Beziehung zu ihrem Unternehmen, den Beschäftigten und Produkten – eben, weil die Eigentümer sich in der Produktionshalle sehen lassen und Neuentwicklungen selbst mitgestalten. Aber es gibt auch Schattenseiten: etwa immer mal wieder Interessen-, Abstimmungs- und Zielkonflikte zwischen den Gesellschaftern. Was bei börsennotierten Unternehmen klar geregelt ist, erfordert bei Familienunternehmen ein gutes Miteinander – zum Beispiel wenn es um Entscheidungsbefugnisse geht, die strategische Ausrichtung des Unternehmens oder um die Gewinnverwendung.

Die bei Konzernen regelmäßig auftretende Uneinigkeit zwischen Eigentümern und Managern sind für mittelständische Unternehmen nicht relevant. Dafür besteht eine große Konfliktquelle an der Schnittstelle von Familien- und Unternehmenssphäre. Es kann zu Interessenskonflikten kommen zwischen den einzelnen familiären Anteilseigenern, die im Extremfall bis zur Zerschlagung oder Insolvenz des Unternehmens führen.

Patriarch gegen Management

Ein typischer Streitpunkt zwischen Management und den Besitzern sind Zukunftsinvestitionen: Der Patriarch will keine Riesensummen für die Transformation ausgeben und sein Vermögen nicht so antasten, wie es das Management gerne hätte. Die Sicherung des persönlichen Einkommens und des persönlichen Vermögens steht bei Familienunternehmen hoch im Kurs und muss nicht immer den Ideen der leitenden Beschäftigten entsprechen.

Ein weiterer Schmerzpunkt ist die niedrige Quote von Frauen in Führungspositionen von Familienunternehmen. Insgesamt sind es nicht einmal 20 Prozent, bei den 500 größten Familienunternehmen sinkt der Wert auf sogar rund neun Prozent. Gerade im produzierenden Gewerbe setzen Männer immer noch am liebsten auf Männer. Auch im Hinblick auf andere Kategorien von Diversität haben börsennotierte Unternehmen vielen Mittelständlern einiges voraus, was sich im härter werdenden Kampf um Personal immer mehr bemerkbar macht.

Wo es bei Konzernen im Deutschen Aktienindex (Dax) inzwischen Quoten, Regeln, Ombudsstellen und Strukturen gibt, kommt es im Mittelstand eben auf die Chefinnen und Chefs an und wie diese ticken. Dabei ist der Fachkräftemangel der IfM-Umfrage zufolge die größte Herausforderung für die mittelständischen Unternehmen: Danach folgen Nachhaltigkeit, Energie und Digitalisierung.

Eine weitere Antwort auf die Frage, wer der Mittelstand ist, lautet: die meisten. Zu ihm gehören rund 3,2 der 3,6 Millionen im Unternehmensregister geführten Unternehmen in Deutschland, und dort arbeiten mehr als die Hälfte aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Ein geringer Prozentsatz hat mehr als eine Million Euro Umsatz, rund 250 Firmen mehr als eine Milliarde Euro. Gut die Hälfte der Mittelständler agiert im Bereich „Dienstleistungen“, der Rest verteilt sich in etwa gleich auf die drei Blöcke „Sonstiges“, „Handel“ und das „produzierende Gewerbe“. Aber der Umsatz ist ja nicht alles: Gemessen an der Zahl der Mitarbeiter ist die Industrie der klar führende Bereich mit rund zehn Millionen Beschäftigten. In dieser Hinsicht ist der Mittelstand dann also doch eher der Schraubenhersteller aus Künzelsau als der IT-Dienstleister aus Dortmund. Aber solange die Mentalität stimmt, sind alle herzlich willkommen, dabei zu sein.

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