Die stille Epidemie: Warum mentale Gesundheit zur Chefsache wird
| Thorsten Giersch | Lesezeit: 5 Min.
Geistige Gesundheit ist einer der Megatrends mit enormen Folgen für Arbeitgeber. Ärzte schreiben vermehrt Beschäftigte krank. Wie sich die Lage verbessern lässt.
Geistige Gesundheit ist einer der Megatrends mit enormen Folgen für Arbeitgeber. Ärzte schreiben vermehrt Beschäftigte krank. Wie sich die Lage verbessern lässt.
von Thorsten Giersch für Markt und Mittelstand
Nicht jedes Tabu muss unbedingt fallen, aber bei einigen ist es gut. Und ganz besonders gilt das, wenn Menschen zugeben dürfen, psychische Probleme zu haben. Prominente machen es vor: Kranksein muss nicht verschwiegen werden – egal ob an Körper oder Geist. Die Popsängerin Ariana Grande dankte auf großer Bühne ihrem Therapeuten. Weitere prominente Beispiele sind Justin Bieber, Selena Gomez oder Robbie Williams. In Deutschland outeten sich unter anderem Kurt Krömer, Torsten Sträter und Nora Tschirner. Auch Unternehmen haben zunehmend mit psychischen Krankheiten ihrer Mitarbeiter zu tun. Ein Report in fünf Kapiteln.
Die Zahlen
Mehr als ein Drittel der erwachsenen Deutschen leidet unter Depressionen, Angst-, Ess- und Zwangsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen, wie eine Studie des Versicherers Axa ergab. Das Robert Koch-Institut kam mit 28,2 Prozent auf einen ähnlichen Wert. Diese Umfragen basieren auf Selbsteinschätzungen der Menschen, es sind keine Befunde von Medizinern. Die Zunahme an Fällen mag also auch daran liegen, dass Menschen sensibler für psychische Erkrankungen sind, Leiden offener thematisieren und damit häufiger zum Arzt gehen. 2023 wurden hierzulande 63,3 Milliarden Euro für die Behandlung von psychischen Erkrankungen ausgegeben, Rang zwei bei den Krankheitskosten.
Für Arbeitgeber ist es egal, ob die Menschen heute häufiger psychisch krank sind oder sich nur häufiger behandeln lassen als früher. Sie fehlen in beiden Fällen im Betrieb. Und das im Durchschnitt länger als bei physischen Gebrechen. In der Axa-Umfrage gab mehr als ein Viertel der Beschäftigten an, 2024 mindestens einmal wegen mentaler Probleme krankgeschrieben gewesen zu sein, deutlich mehr als 2023. Depressive Störungen kommen bei Menschen über 50 überdurchschnittlich häufig vor, aber zu denken gibt, dass mentale Probleme vor allem junge Erwachsene betreffen. In der Axa-Umfrage gaben mehr als jeder und jede Zweite zwischen 18 und 24 Jahren an, unter einer psychischen Erkrankung zu leiden – ein Plus von fast 30 Prozent binnen eines Jahres.
Wer Psychologen fragt, erfährt, dass eine Diagnose gerade für junge Menschen oft befreiend wirkt. In einer individualistischen Leistungsgesellschaft muss jeder mithalten und mitmachen. Wer es nicht schafft, ist froh über eine Entschuldigung. Zumal die Gesellschaft der jungen Generation vorhält, faul zu sein. Fachleute haben dafür den Begriff „Brain-or-Blame-Dilemma“ erfunden: Wenn mein Gehirn schuld ist, bin ich selbst es nicht. Solche Diagnosen machen das Leben einfacher. Das gilt auch bei der Arbeit. Aber: Kollegen und Chefs trauen einem womöglich nicht mehr viel Großes zu.
Die Kultur
Die mentale Gesundheit kann Arbeitgeber nicht kaltlassen. Denn in der Mehrzahl der Fälle entstehen die Probleme nicht im Privaten, sondern im Beruf. Die IAS-Gruppe begleitet seit rund 50 Jahren Unternehmen und wollte herausfinden, wie es um die mentale Gesundheit der Beschäftigten im Mittelstand steht. Demnach kommen 56 Prozent aller Stressoren aus dem Arbeitsleben, dann mit Abstand die Sorgen im Privaten. „Alarmierend ist, dass jede zweite Führungskraft innerhalb ihres Teams Verschlechterungen der mentalen Gesundheit beobachtet hat“, sagt Nils Schilling, Geschäftsführer von IAS Mental Health.
Die Gründe sind vielfältig. Mit weitem Abstand wird eine Zunahme des Arbeitspensums genannt. Danach folgen Leistungsdruck und der bekannte Fachkräftemangel, der Teams belastet, wenn Positionen nicht nachbesetzt werden. „Nicht zu unterschätzen sind zudem die Veränderungsprozesse durch Digitalisierung“, erklärt Schilling. „KI wird neben all den Chancenpotenzialen noch mal das Gesamtsystem beschleunigen und alle Unternehmen tun gut daran, mit der Einführung sorgfältig umzugehen.“ Es gibt Mitarbeiter, die damit sehr schnell arbeiten. Aber eben auch Beschäftigte, die KI eher als Belastung empfinden, weil sie Angst haben, abgehängt zu werden. Sie müssen Zeit bekommen, die neuen Apps anzunehmen.
Das Tempo, in dem sich neue Technologie entwickelt, ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, vor allem in den großen Branchen wie Luftfahrt, Automobil, Logistik. Dazu kommt die Transformation der Wirtschaftszweige, weil sich die Geschäftsmodelle ändern. „Da sind Führungskräfte sehr gefragt, die als ganz wichtige Akteure mentale Gesundheit verkörpern und gesundes Arbeiten ermöglichen“, sagt Schilling, wohl wissend, dass Chefinnen und Chefs gewisse Dinge nicht ändern können. Es ist wie im Fußball. Wenn der Gegner mit höherem Tempo spielt, kann man schlecht sagen, man mache jetzt mal wieder langsamer.
Was hilft, sind Führungskräfte, die eine gesunde Unternehmenskultur leben, in der Pausen gestattet sind oder sich Beschäftigte auch mit sensiblen Themen äußern können. Das vermittelt psychologische Sicherheit. Es gebe Frühindikatoren, anhand derer eine Geschäftsführung erkennen könne, dass in ihrem Betrieb etwas schieflaufe, sagt Schilling. Wenn Menschen vor Überschöpfung stöhnen, folgt in der Regel eine höhere Fehlzeitenquote. Oder die Unzufriedenheit im Betrieb geht über das normale Maß hinaus. Oder es entstehen immer mehr ungelöste Teamkonflikte, Fluktuation, viele Beschäftigte kündigen innerlich.
Was hilft? „Es gibt eine Bandbreite an Möglichkeiten, die Unternehmen auch heute schon mit geringem Einsatz für spürbare Ergebnisse erzielen können“, sagt Schilling. Das reiche von digitalen Tools, die Führungskräften helfen, wie gesundes Führen möglich ist, bis hin zu intensiven Mitarbeiterhilfsprogrammen, bei denen Berater vor Ort eine Art Sprechstunde anbieten. Wichtig sei, mentaler Gesundheit das Stigma zu nehmen und das auch vorzuleben, sagt Schilling. Hilfsangebote sollten nicht im Kleingedruckten stehen, sondern aktiv beworben werden. Und ganz wichtig: Was passiert, wenn wieder gesundete Mitarbeiter zurückkommen? Auch beim betrieblichen Eingliederungsmanagement helfen professionelle Berater.
Das Reden
Silke Franzen empfiehlt ihren Klienten, mentale Gesundheit als gemeinsame Aufgabe zu verstehen. „Psychische Belastungen sind kein Privatproblem, sondern ein Thema der betrieblichen Fürsorgepflicht.“ Die promovierte Psychologin ist Expertin für mentale Gesundheit und gesunde Führung. Gerade erschien ihr Buch „Das unsichtbare Gepäck“. Erst wenn Führungskräfte Dinge offen ansprechen, sinkt Franzens Ansicht nach die Hemmschwelle der Teammitglieder, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wer über seine Grenzen reden darf, kann gegensteuern, bevor Krankheiten entstehen.
Firmen sollten Leitlinien entwickeln, die psychische Gesundheit als strategisches Ziel verankerten, sagt Franzen. Nötig seien offene Diskussionen und Widerspruch. „Mitarbeitende, die Angst haben, Fehler einzugestehen, tragen zusätzliches unsichtbares Gepäck.“ Dazu gehöre, dass Beschäftigte nicht befürchten müssten, dass ein Hinweis auf Überlastung als Schwäche gelte. Ein Freifahrtschein für niedrige Leistung ist das keineswegs. Teams, die sich sicher fühlen, leisten mehr, weil sie offener kommunizieren, schneller aus Fehlern lernen und kreativer denken. Führungskräfte dürfen dann offene Diskussionen und kritische Fragen nicht scheuen.
Die Rolle der Vorgesetzten ist für Franzen klar festgelegt. „Führungskräfte sind keine Therapeuten, aber sie können erste Ansprechpartner sein.“ Wichtig sei, zuzuhören, nicht zu interpretieren, und gemeinsam nach Lösungen im Arbeitskontext zu suchen – auch wenn Gespräche über psychische Belastungen heikel seien und aus Unsicherheit oft vermieden würden. Doch gerade frühzeitige Fürsorgegespräche können verhindern, dass aus einer Belastung eine Erkrankung wird, wie Franzen sagt. Hilfreich ist es, mit offenen Fragen zu arbeiten. „Was belastet Sie aktuell besonders?“ oder „Was würde Ihnen helfen, besser mit der Situation umzugehen?“ Niemand muss intime Details preisgeben. Psychische Gesundheit herzustellen, besteht für Franzen nicht aus Notfallmaßnahmen, sondern darin, die Arbeitsbedingungen vorsorgend zu gestalten.
„Einzelne Maßnahmen helfen wenig, wenn sie nicht in ein systematisches Gesundheitsmanagement eingebettet sind“, sagt sie. Dazu gehören Schulungen für Führungskräfte, um Belastungen zu erkennen und angemessen zu reagieren. Auch Mitarbeitende sollten wissen, welche Hilfsangebote es gibt – von Beratungsstellen über Gesundheitskurse bis hin zu anonymen Hotlines. Regelmäßige Information, sichtbare Ansprechpartner und niederschwellige Zugänge sind deshalb entscheidend.
Die Gefühle
Nun kann der Arbeitgeber allein nicht alles richten, was gesamtgesellschaftlich schiefläuft. Kaum jemand hat in den vergangenen Jahren publikumswirksamer analysiert, was mit uns nicht stimmt, als Vince Ebert. Der Diplom-Physiker begeistert im TV und auf der Bühne, hat aber vor allem mehr als eine Million Sachbücher verkauft. „Immer mehr Menschen in den Unternehmen und im normalen bürgerlichen Umfeld merken, dass etwas aus dem Lot geraten ist“, sagt er. „Dass wir seit Jahren Wirtschafts- und Energiepolitik nach Bauchgefühl betreiben.“ Gefühle seien viel wichtiger geworden als die rationalen, objektiven Wahrheiten.
„Wir mutieren von einer Wissensgesellschaft zu einer Besserwissergesellschaft“, sagt Ebert. Früher sei Deutschland das Land der Dichter, Denker und Erfinder gewesen mit hohem Drang zum Detail. „Heute haben wir diesen Pragmatismus in den kleinen Dingen komplett über den Haufen geworfen und werden international wahrgenommen als die, die die Welt belehren wollen“, sagt er. „Jede kleinste Kleinigkeit wird politisiert. Und das macht die Leute komplett irre. Wenn du genderst, bist du in der einen Ecke. Wenn du nicht genderst, bist du in der anderen Ecke. Und wenn du einen Papierstrohhalm benutzt, bist du ein guter Mensch.“
Die Eigenverantwortung
„Bei den meisten Problemen stehen wir uns selbst im Weg“, sagt Henning Beck, der zahlreiche Bestseller rund um das Gehirn veröffentlicht hat, zuletzt „Besser denken“. „Wir delegieren zum Beispiel die Verantwortung nach außen und sehen gar nicht, dass wir selbst das Problem sind.“ So regen sich viele darüber auf, dass Smartphones sie ablenken und ständig unterbrechen. Aber in neun von zehn Fällen greift der Mensch proaktiv selbst zum Gerät – ohne dass es klingelt.
„Zum ersten Mal haben wir als Menschheit das Problem, dass wir zu viele Informationen verarbeiten müssen“, erklärt Beck. Alles, was wir in den sozialen Netzwerken täten, habe keine Grenzen mehr. Ein Buch dagegen ist irgendwann zu Ende, ein Film ebenso. Dazu kommt, dass Smartphones praktisch überall dabei sind. „Natürlich verliere ich den Fokus, weil das Gerät mich quasi permanent auffordert, es zu benutzen“, meint Beck. Er rät, sich Zeiten zu schaffen, in denen das Gerät nicht benutzt wird. Studien zeigen, dass Menschen durch die entgrenzte Nutzung von modernen Medien, die schneller werden und das Erwartungen hochschrauben, ungeduldiger werden. Es fällt ihnen schwer, sich zu konzentrieren, sie verlieren die Fähigkeit zu priorisieren.
Bis in die 90er-Jahre mussten Kinder in der Schule noch Gedichte auswendig lernen, weil es wichtig war, sich möglichst viele Dinge zu merken. Das muss sich ändern. „Wir haben immer noch den Eindruck, wir müssen viel in uns hineinschaufeln, aber das ist falsch“, sagt Beck. „Die große Kunst wird sein, den unwichtigen Schrott zu vergessen.“ Nur dann habe man die Möglichkeit, sich auf das Wichtige zu konzentrieren.
„Neulich habe ich in einem Aufsatz gelesen: Warum soll ich denken, wenn ich dafür bezahlen kann? Das ist das Geschäftsmodell von ChatGPT2“, sagt Beck. Allerdings beklagte sich schon Immanuel Kant vor mehr als 250 Jahren darüber, dass Menschen ihr Gehirn nicht mehr benutzen, weil sie es an Technik auslagern. KI wird dazu führen, dass Denktechniken nicht mehr gebraucht werden, man sich aber neue Fähigkeiten aneignen muss. „Noch nie haben Menschen neue Technik eingesetzt, um weniger zu denken“, sagt Beck. Sie haben danach immer mehr gedacht als vorher.
Faktenbox: Mentale Gesundheit im Arbeitsleben – 5 Kernpunkte
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Psychische Erkrankungen auf Rekordniveau: Über 30 % der Erwachsenen in Deutschland berichten laut Studien über Depressionen, Angst- oder Stressstörungen – besonders stark betroffen: 18–24-Jährige.
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Kostenfaktor für Arbeitgeber: 2023 flossen 63,3 Mrd. Euro in die Behandlung psychischer Leiden. Beschäftigte fehlen länger als bei körperlichen Erkrankungen – Belastung für Produktivität und Teamstabilität.
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Arbeitsplatz als Stressquelle: Rund 56 % der Stressoren entstehen im Job – Auslöser: steigendes Arbeitspensum, Fachkräftemangel, Digitalisierung und KI-Druck.
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Führungskräfte als Schlüssel: Psychologische Sicherheit, frühzeitige Gespräche und klare Leitlinien zur psychischen Gesundheit wirken präventiv. Führung ersetzt Therapie nicht – aber sie öffnet Zugang zu Hilfe.
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Eigenverantwortung gefragt: Moderner Medienkonsum und ständige Reizüberflutung erschweren Fokus und Priorisierung. Neue Kompetenz: Unwichtiges vergessen, Grenzen setzen, digitale Pausen etablieren.
Der Beitrag erschien in der November-Ausgabe von Markt und Mittelstand 2025
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