Ralf Rangnick: Erfolgsrezepte eines Top-Fußballmanagers
"Gute Chefs lassen richtig gute Leute teilhaben": Der erfahrene Trainer verrät, wie er Teams zum Erfolg führt und was Unternehmen davon lernen können.

Das Gespräch führte Thorsten Giersch.
Du bist Lehrer mit Staatsexamen. Hättest du nicht dein Geschick für Transformation lieber fürs deutsche Bildungswesen nutzen können?
- Ralf Rangnick: Ich wollte schon als sehr junger Bube Lehrer werden. Mit zehn schrieb ich in einem Aufsatz für welche Fächer: Sport und Englisch. Heute finde ich das recht schräg, weil Zehnjährige ja eher Pilot werden wollen oder Astronaut oder Fußballprofi. Aber ja, ich habe tatsächlich dann nach dem Abitur Sport und Englisch für höheres Lehramt studiert.
Um dann doch Fußballtrainer zu werden.
- Ralf Rangnick: Ich habe während meiner Studienzeit schon alle wesentlichen Trainerscheine gemacht: mit neunzehn die B-Lizenz, mit einundzwanzig die A-Lizenz und dann mit 25 Jahren die Pro-Lizenz. Ich war immer der Jüngste. Als ich dann fertig war mit dem Studium und das Referendariat anstand, war ich schon so in der Profitrainer-Schiene drin und habe mich dann dafür entschieden. Ich hab's nicht bereut, muss aber zugeben, dass ich schon sehr gern zwei Jahre an der Schule unterrichtet hätte.
Talent und Mentalität: Die Schlüssel zum Erfolg
Bist du jemand, der an Talent glaubt? Oder sind es eher die zehntausend Stunden Training, die es am Ende bringen?
- Ralf Rangnick: Ich glaube, dass Talent das alles Entscheidende ist. Egal ob Fußball, Malen, Musik oder Texte schreiben: Wenn man etwas gern tut, tut man es oft. Aber es braucht eben auch Zeit für diese Hobbys. An Grundschulen muss es doch möglich sein, dass Kinder morgens von acht bis eins genug lernen und den Nachmittag zur freien Verfügung haben, um das zu machen, was sie wirklich gern tun, wofür sie talentiert sind. Darüber sprechen wir in Österreich gerade intensiv.
Also Talent ist die Basis, aber wir kennen viele Beispiele, dass das nicht reicht.
- Ralf Rangnick: Die richtige Mentalität gehört dazu. Ich habe Spieler erlebt, die hochgradig begabt waren, die aber trotzdem nicht das Maximale rausholten. Und umgekehrt gibt's natürlich auch viele Mentalitätsmonster. Joshua Kimmich ist ein Musterbeispiel dafür, der schon mit acht immer nur gewinnen wollte. Der besser werden wollte, der mit achtzehn nach Leipzig kam, die zehn Jahre Älteren zusammengefaltet hat, weil die sich nicht maximal angestrengt haben im Training. Es ist dieser Ehrgeiz, jeden Tag besser werden zu wollen und sich nicht damit abzufinden, dass man Spiele nicht gewinnt.
Kimmich spielt bei Bayern München. Du könntest wieder Trainer sein, wenn du im Mai 2024 beim FC Bayern den Vertrag unterzeichnet hättest. Warum hast du das im letzten Moment nicht gemacht?
- Ralf Rangnick: Das war die wohl schwierigste Entscheidung in meinem Berufsleben. Wenn du mit fünfundsechzig am Ende deiner Laufbahn noch solch ein Angebot bekommst, ist es schon etwas Besonderes. Besonders schwer fiel mir die Entscheidung, weil ich dort auf vier Spieler getroffen wäre, mit denen ich schon zusammengearbeitet habe, und auch vier langjährige Mitarbeiter. Aber ich wollte nicht drei Monate lang sowohl Teamchef von Österreich sein – mit der Europameisterschaft – als auch Trainer von Bayern München.
Führungsprinzipien: Von Corporate Identity bis zum Teammanagement
Du bist Österreichs Nationaltrainer geblieben, habt bei der EM begeistert. Du hast nicht viel Zeit mit den Spielern. Wie schaffst du es, so viel mehr aus ihnen herauszukitzeln als deine Vorgänger?
- Ralf Rangnick: Sehr wichtig ist im Fußball wie in der Wirtschaft: ohne Corporate Identity kein Corporate Behavior. Corporate Identity ist im Fußball die Art, wie ein Trainerteam spielen lassen will. Der Einfluss eines Trainers ist viel größer als man bisweilen denkt. Es hat viel damit zu tun sich zu kümmern, ob es Schüler sind, Fußballspieler, Mitarbeiter in einer Firma. Ich sehe mich als Serviceprovider, als Entwicklungshelfer. Mein Trainerstab und ich, wir haben die Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Mannschaft so gut wird, wie sie nur sein kann. Und in der Mannschaftssportart geht auch die Entwicklung einzelner Spieler eben nur über die Entwicklung der Mannschaft.
Heißt konkret?
- Ralf Rangnick: Wir versuchen, ihnen optimale Arbeitsbedingungen zu liefern, uns um alles zu kümmern. Wir haben viele Puzzleteile im Portfolio und die Spieler können selbst entscheiden, ob sie dieses oder jenes bevorzugt haben wollen. Hoffenheim und auch Leipzig so schnell aus einer unteren Liga in die Champions League zu bringen, gelang nur, weil wir andere Wege gegangen sind als die anderen Vereine. Ich kann mich noch erinnern in meiner ersten Amtszeit auf Schalke, wie oft es da Widerstand gegen neue Ideen gab. Es hieß: Das brauchen wir nicht, das haben wir früher auch nicht gebraucht. Oder: Wenn jemand einen Mentaltrainer braucht, schick ihn zu mir! Alles Sprüche, die ich gehört habe.
Wo hat sich der Fußball verändert – und wo nicht?
- Ralf Rangnick: Wir sind in einer Unterhaltungsbranche. Im Fußball haben wir die Pflicht, dafür zu sorgen, dass dieses Spiel nie langweilig ist. Das hat sich über Jahrzehnte nicht geändert. Was sich maximal verändert hat, ist das Anforderungsprofil an einen Trainer. Als ich Ende der 90er-Jahre in Ulm Trainer war, hatte ich einen Co-Trainer und einen Torwarttrainer. Das war's. Heute gibt es einen Mitarbeiterstab von zwanzig, fünfundzwanzig Personen, vier oder fünf Videoanalysten, zwei Athletiktrainer, Ernährungsberater – und für all diese Leute ist der Trainer der Ansprechpartner.
Das sind mehr als fünf Direct Reports.
- Ralf Rangnick: Auch die wollen wahrgenommen werden, ab und zu ein Gespräch führen. Was ich aber auch gelernt habe über die Jahre: Wenn du über dein Netzwerk richtig gute Leute kennenlernst und zu dir holst, ist das nur sinnvoll, wenn du die auch machen lässt. Wenn ich mich für den besseren Ernährungsberater halte oder den besseren Videoanalysten, geht es schief. Gute Chefs lassen richtig gute Leute teilhaben. Dann ist das für sie erfüllend.
Eine andere Parallele zwischen Wirtschaft und Fußball ist der Widerspruch zwischen kurzfristigem Erfolg und langfristiger Perspektive. Wie bekommt man den richtigen Mix hin?
- Ralf Rangnick: Ich bin der festen Überzeugung, dass Erfolg im Sport nebst Leistungsentwicklung planbar ist. Es mag Niederlagen geben, mit denen niemand rechnet. Aber wenn man die Leistung entwickelt, erhöht man auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Ergebnisse und der Erfolg einstellen. Wenn wir es schaffen, als Fußballmannschaft regelmäßig deutlich mehr Torchancen zu schaffen, als wir sie dem Gegner zulassen, dann gewinnen wir in aller Regel die Spiele.
Stimmt es, dass du in Hoffenheim SAP-Mitgründer und Fußball-Mäzen Dietmar Hopp dazu gebracht hast, einen Acker zu kaufen?
- Ralf Rangnick: Ich sehe es einfach als eine meiner Aufgaben an, dass meine Spieler und mein Trainerstab bestmögliche Arbeitsbedingungen haben. Als ich in Hoffenheim anfing, gab es zwar ein modernes Trainingszentrum mitten im Dorf, aber nur einen einzigen Trainingsplatz. Es gab eine geeignete Wiese daneben, aber die gehörte einer alten Frau, die da wohnt und seit Jahren nicht bereit war, sie zu verkaufen. Und dann bin ich mit zu der alten Dame und wir haben ihr versprochen, dass die Bälle nicht übers Fangnetz fliegen und wir nicht zu laut sind beim Training. Am Ende war sie bereit, uns die Wiese zu verkaufen – und wir bekamen weitere Trainingsplätze.
Du warst bei Traditionsklubs wie Manchester United und Schalke 04, aber auch jungen Vereinen wie Hoffenheim und RB Leipzig. Wie hast du die Unterschiede wahrgenommen?
- Ralf Rangnick: Ich war zweimal recht lange bei sogenannten Plastikklubs – sechs Jahre in Hoffenheim und gut sieben Jahre bei RB Leipzig. Es ist sicherlich kein Zufall, dass ich in diesen beiden Vereinen erstens am längsten war und dort die erfolgreichsten und nachhaltigsten Jahre hatte. Dort war ich auch mehr als nur Trainer oder Sportdirektor, sondern auch Entwickler. Dinge zu machen, die es vorher noch nie gab, ist in solchen Vereinen einfacher. Wir hatten kurze Entscheidungswege. Viele Diskussionen blieben auch unter Verschluss, weil nur wenige beteiligt waren. Auch das ein Vorteil.
Bei vielen Fans der etablierten Klubs waren die „Plastikklubs“ nicht sehr beliebt.
- Ralf Rangnick: Als die Traditionsklubs merkten, was in Hoffenheim beziehungsweise in Leipzig und Salzburg passierte, hatten sie natürlich die Sorge, dass diese Vereine ihnen einen Platz wegnehmen könnten. Und aktuell sind in der zweiten Liga Vereine, die eigentlich vom Zuschauerpotenzial in die erste Liga gehören. Aber es hat schon Gründe, warum viele dieser Klubs in der zweiten Liga spielen und es der HSV jetzt seit sieben Jahren nicht geschafft hat, aufzusteigen.
Welche großen Fehler begehen Fußballvereine?
- Ralf Rangnick: Es braucht einfach eine starke Führung. Dietrich Mateschitz …
… österreichischer Unternehmer und Gründer von Red Bull…
- Ralf Rangnick: … hat schon zu Beginn seiner erfolgreichen Zeit gesagt: Es sind nicht die Strukturen, es sind nicht die Organigramme, die am Ende den Erfolg einer Marke und eines Fußballvereins ausmachen, sondern es sind immer die handelnden Personen. Am Ende nützt das ganze Organigramm nichts, wenn du nicht das fachliche und soziale und unternehmerische Wissen hast.
Da würde ich gern ins Detail gehen.
- Ralf Rangnick: Rainer Calmund hat gerne von den drei Ks gesprochen: Kompetenz, Konzept und Kapital. Beim Konzept geht es um Fragen der Corporate Identity: Wie wollen wir sein? Wie wollen wir wahrgenommen werden? Zu Kompetenz gehört die Antwort auf: Welche Fähigkeiten haben die Menschen, die das umsetzen sollen? Und es ist nicht schädlich, ein gewisses Kapital zu haben. Aber wir haben auch jetzt schon genug Vereine gesehen im Fußball wie Hertha BSC Berlin, die dreihundert Millionen von Investor Lars Windhorst verballert haben und immer noch in der zweiten Liga spielen.
Umgekehrt gibt es viele Beispiele, wo die ersten beiden Ks deutlich stärker sind als das Kapital.
- Ralf Rangnick: Heidenheim und Freiburg bestechen durch Kompetenz und Konzept und durch ein Umfeld, dass die Akteure auch in Ruhe arbeiten lässt. Dann verbessert sich die wirtschaftliche Situation von allein. Für mich sind immer die handelnden Personen entscheidend. Wenn die zusammenfinden und – auch wichtig – sich verstehen, sich gegenseitig ergänzen und gegenseitig den Erfolg gönnen.
Macht man im Moment des Erfolgs die größten Fehler?
- Ralf Rangnick: Was ich immer wieder erlebt habe, egal, ob in der Bezirksliga oder in der Champions League: In dem Moment, wo der Erfolg Einzug hält, besteht die Gefahr, dass auf der Führungsebene der ein oder andere meint, er habe vielleicht nicht genug vom Erfolgskuchen oder vom Scheinwerferflicht abbekommen. Und in dem Moment, wo das passiert, entstehen plötzlich zwischenmenschliche Dissonanzen.
Was war deine größte Leistung? Die Titel?
- Ralf Rangnick: Nein. In Hoffenheim spielten wir in der dritten Liga vor tausendfünfhundert Zuschauern im kleinen Dietmar-Hopp-Stadion. Wenn fünf Hoffenheim-Fans im Trikot nebeneinanderstanden, war das schon viel. Dann sind wir aufgestiegen und ein Jahr später ging es als kleinster Verein der zweiten Liga in die erste Bundesliga. Plötzlich hätten wir siebzig-, achtzigtausend Zuschauer haben können, wenn das Stadion so viel hergegeben hätte. Wir stiegen zweimal auf und waren in der Winterpause Tabellenführer der Bundesliga.
Ähnlich war es mit Red Bull in Leipzig.
- Ralf Rangnick: Wir haben in der vierten Liga angefangen und sind binnen vier Jahren dreimal aufgestiegen. Längst spielt der Verein praktisch jedes Jahr Champions League. Ich wage jetzt mal die Prognose, das hat es in den vergangenen hundert Jahren nicht gegeben und es wird wahrscheinlich in den nächsten hundert Jahren auch nicht mehr passieren. Das sind Dinge, die sind für mich herausfordernd, weil sie unwahrscheinlich und unmöglich erscheinen.
Kaum eine Führungskraft gibt zu, einige Mitarbeiter lieber zu mögen als andere. Aber Ungleichbehandlung richtet enorme Schäden an. Wie gehst du mit dem Problem „Lieblingsspieler“ um?
- Ralf Rangnick: Das ist natürlich ein Thema. Auch jetzt in der österreichischen Nationalmannschaft habe ich zu bestimmten Spielern eine engere Bindung als zu anderen. Aber du darfst das niemanden spüren lassen. Es muss bestimmte Regeln geben, die gelten für alle. Pünktlichkeit, Disziplin und so weiter. Trotzdem muss ein Trainer jeden Spieler anders behandeln.
Wo nimmst du all die Energie her?
- Ralf Rangnick: Von den Spielern und Mitarbeitern. Wir geben uns gegenseitig Kraft. Ich freue mich jetzt schon saumäßig auf den nächsten Lehrgang in der Nationalmannschaft. Wenn man mich zum Beispiel fragt, wie viele Stunden in der Woche ich arbeite: Keine Ahnung. Ich müsste erst einmal überlegen, wie viel von dem, was ich im Moment gerade mache, eigentlich Arbeit ist.

Der Teammanager
Ralf Rangnick, geboren in Backnang, Baden-Württemberg, startet seine Karriere als Spieler bei den Amateuren des TSV Stuttgart und beendet sie mit 30 beim TSV Lippoldsweiler im defensiven Mittelfeld. Da hat er schon erste Erfahrung als Trainer. Danach bringt er verschiedene Mannschaften bis in die Bundesliga. Inzwischen trainiert der 66-Jährige die österreichische Nationalmannschaft.
Ralf Rangnick
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Geboren: 29. Juni 1958 in Backnang, Deutschland
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Studium: Englisch und Sport auf Lehramt an der Universität Stuttgart
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Spielerkarriere: Amateurfußballer (u.a. VfB Stuttgart II, SSV Ulm)
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Trainerkarriere:
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1983–1985: Viktoria Backnang (Spielertrainer)
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1997–1999: SSV Ulm (Aufstieg in 2. Bundesliga)
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1999–2001: VfB Stuttgart
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2001–2004: Hannover 96 (Aufstieg in Bundesliga)
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2004–2005: Schalke 04 (Vizemeister)
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2006–2011: TSG Hoffenheim (Aufstieg von Regionalliga in Bundesliga)
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2011, 2015–2016, 2018–2019: RB Leipzig (Trainer + Sportdirektor, mehrfach interim)
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Funktionärsrollen:
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2012–2015: Sportdirektor bei Red Bull Salzburg und RB Leipzig
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2019–2021: Head of Sport and Development Soccer bei Red Bull
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2021–2022: Interimstrainer bei Manchester United
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Seit 2022: Teamchef der österreichischen Nationalmannschaft
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Bekannt für: "Gegenpressing", moderne Spielphilosophie, Talentförderung
