Michael Groß im Interview: Leben wir noch in einer Leistungsgesellschaft?
Michael Groß hat als Schwimm-Olympiasieger Geschichte geschrieben. Heute berät er Firmen zur Zukunftsfähigkeit. Ein Gespräch über künstliche Intelligenz und Leistungswillen.

Vom Olympischen Becken in die Chefetagen: Michael Groß, einst als "Albatros" bekannter Schwimmstar, hat eine bemerkenswerte Transformation vollzogen. Heute navigiert er als Change-Berater Unternehmen durch die Wellen des digitalen Wandels. In einem exklusiven Interview teilt der 60-jährige Groß seine Erkenntnisse über künstliche Intelligenz, generationsübergreifendes Wissensmanagement und die Zukunft der Arbeitswelt.
Das Gespräch führte Thorsten Giersch.
Vom Schwimmbecken zum Beraterpult
Sie wirken mit 60 fast noch so fit wie in den 80ern bei den Olympischen Spielen.
Michael Groß: Körper und Kopf sollten wirklich eine Einheit bilden und gleichermaßen gepflegt werden. Das gilt mit 20 genauso wie mit 60. Mäßig, aber regelmäßig, ist mein Motto. Ich mache etwas für die Ausdauer, Mountainbiken, viel Fitnessstudio. Aber auch Sportarten wie Wakeboarden und Katamaran fahren im Urlaub. Die Vielfalt macht es aus. Ich versuche, auf meinen Körper zu hören und mich nicht durch irgendwelche digitalen Helferlein unter Druck setzen zu lassen. Und das ist sehr wichtig, dass man ein Gefühl für sich bekommt, dafür, was mir guttut.
Unterschätzen viele Firmen, was Menschen jenseits der 50 und 60 noch leisten können?
Michael Groß: Ich habe mittlerweile Kunden, die sich gerade fragen, wie sie das Erfahrungswissen nutzen können, das noch im Haus ist. Es gehen in den nächsten Jahren 13 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerinnen in den Ruhestand, die Babyboomer. Aber es kommen nur acht Millionen nach. Daran wird auch qualifizierte Zuwanderung nicht wesentlich etwas ändern. Das heißt, wir haben die Anforderung, das an die jüngere Generation weiterzugeben, was die ältere Generation an Erfahrungswissen hat.
Welche Rolle kann Technologie dabei spielen?
Michael Groß: Künstliche Intelligenz kann da fantastische Dinge leisten, wie ich jetzt schon in operativen Projekten feststellen darf. Ein Beispiel: Ich halte viel von Reverse Mentoring, die jüngere Generation macht Mentoring für die ältere Generation. Die Jungen bekommen so von den Älteren etwas mit. Es ist nicht so, dass zwischen den Generationen eine Wand ist, ganz im Gegenteil. Viele in der jüngeren Generation wissen: Okay, wir sind vielleicht schneller, aber die ältere Generation kennt viele Abkürzungen.

Aber längst nicht alle Mentoring-Programme funktionieren.
Michael Groß: Meine Erfahrung ist, dass zu schnell operativ vorgegangen wird. Ich hatte das bei einem Maschinenbauer. Es knarzte mit dem Mentoringkonzept und dem generationsübergreifenden Wissensmanagement. Wir sind erst einmal zwei Schritte zurückgegangen und haben den individuellen Nutzen sauber definiert. Dann haben wir die Change Champions und Change Agents aktiviert. Das sind zwei Fachbegriffe aus meinem Handwerk. Die Champions sind diejenigen, die Dinge vormachen und wirklich zeigen, wie es geht. Die Agents sind die Meinungsführer, die diese Botschaft in die Organisation weitertragen. Das sind meistens nicht die Unternehmensleitungen, die das von Natur aus machen müssen, was man von ihnen auch erwartet. Meinungsführer sind dann „normale" Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sagen: „Komm, lass' uns mal darauf einlassen. Das könnte eine ganz gute Sache sein."
Was ist Leistung für Sie?
Michael Groß: Leistung besteht aus drei Elementen. Einmal das Talent, also, dass wir einen leichteren Zugang zu bestimmten Tätigkeiten haben. Dann das Wissen, also das Handwerk, um dieses Talent auszubauen. Und den dauerhaften Willen, die ersten beiden Dinge auch einzusetzen. Das ist ein fortlaufender Prozess. Wer bei Olympischen Spielen auf dem Startblock steht oder in der Wirtschaft Leistung bringt, braucht Durchsetzungskraft und Durchhaltevermögen. Übung macht den Meister – mehr denn je im KI-Zeitalter, das jetzt anbricht. Das Thema Weiterentwicklung ist sehr wichtig – als einzelne Person und als Organisation.
Wie sind Sie vom Schwimmer zum Change-Berater geworden?
Michael Groß: Es gab Anfang der 90er-Jahre eine wesentliche Grundsatzentscheidung für mich, als ich beschlossen habe, unternehmerisch aktiv und selbstständig zu sein. Ich wollte Dinge voranbringen, gestalten und neue Konzepte entwickeln. Ich habe mein zweites Unternehmen genau in der Dotcomkrise gegründet – wirklich zu einem schlechten Zeitpunkt. Aber meine klare Idee hat trotz der schwierigen Bedingungen funktioniert. Womöglich lag es an meiner sportlichen Herkunft, wo man sich auch permanent durchboxen muss. Es wird einem nichts geschenkt. Jedes Rennen fängt wieder bei null an. Ob man Olympiasieger ist oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle.
Sie leben den permanenten Wandel auch noch mit 60 Jahren?
Michael Groß: Als Jahrgang 1964 bin ich auch heute noch unternehmerisch aktiv, setze mich mit neuen Themen auseinander und finde das ganz fantastisch. Als Honorarprofessor habe ich sehr viel mit den nachrückenden Generationen zu tun.

Sehen Sie bei den jungen Menschen heute die Leistungsbereitschaft, den Willen zum Erfolg, wie es ihn früher gab?
Michael Groß: Absolut. Sie sind sicherlich ein bisschen rarer geworden. Ich frage meine Studierenden seit Jahren, wer von ihnen Führungskraft werden möchte. Und da hat der Anteil derjenigen, die das wollen, ganz klar abgenommen in den vergangenen zehn Jahren. Es gibt diejenigen, die nicht in die Gänge kommen. Es gibt die große, breite Masse. Und es gibt die Early Adopters, die voranmarschieren. Und diese Gruppe ist dünner geworden. Zehn, 15 Prozent meiner Studierenden sind diejenigen, die wirklich Gas geben.
Also wünschen sich Jüngere mehr Expertenstatus statt Führungsverantwortung?
Michael Groß: Den Trend gibt es mittlerweile in vielen Branchen, nicht mehr nur in der IT-Branche, wo das schon immer so war. Tendenziell nimmt die klassische Linienorganisation ab, dafür die Projektorganisationen mit lateraler Führung zu, also Führung ohne disziplinarische Verantwortung. Das ist auch das, was ich unterrichte und in Unternehmen vorantreibe. Die Herausforderung ist, parallel zu steuern und zu organisieren. Es wird zum Standard, dass eine Führungskraft immer seltener ganz klassisch eine Abteilung führt. Heute sollten die Strukturen wesentlich durchlässiger sein, um wechselnde Anforderungen aufnehmen zu können. Besonders im Zeitalter der digitalen Transformation ist wichtig, dass es verschiedene parallele Strukturen und Organisationsformen geben kann, in denen eine Führungskraft dementsprechend auch unterschiedliche Rollen und Funktionen einnehmen muss.
Wie wichtig sind bei Managern noch Titel als Statussymbole?
Michael Groß: Es gibt die interessante Bewegung bei Unternehmen, die Titel mehr oder weniger abgeschafft haben, sie wieder einzuführen. Titel sind eine Orientierung. Weniger um sich im Sinne einer klassischen Hierarchie über die Visitenkarte zu definieren – diese Zeiten sind sicherlich in vielen Organisationen mittlerweile vorbei. Es braucht eher bestimmte Führungskräftebeschreibungen wie Managing Director, um eine Vergleichbarkeit im Markt und Wettbewerb zu bekommen.
Ist künstliche Intelligenz angesichts des Arbeitsmarktes in Deutschland die einzige Chance, dass wir produktiv bleiben?
Michael Groß: Das unterschreibe ich. KI wird Jobs übernehmen, für die es keine Menschen mehr gibt, besonders bei uns in Deutschland. KI ist immer am Start für die Alltagsroutinen, beispielsweise im Kundenservice, in der Versicherungsbranche, Finanzbranche, Telekommunikation. Die Frage ist, wo ich als Mensch wirklich den Unterschied machen kann. Wir können uns wesentlich stärker auf die Dinge konzentrieren, die Spaß machen, die zum Beispiel den Unterschied machen in Richtung Kunde. Jedoch sollten wir realistisch bleiben: Die KI ist keine eierlegende Wollmilchsau.
Viele sind frustriert, dass KI-Systeme im Alltag nicht so helfen wie erhofft.
Michael Groß: Die kurzfristigen Wirkungen einer Technologie werden meistens überschätzt und führen zu einem Hype. Und die langfristigen Wirkungen einer neuen Technologie werden meistens unterschätzt. Das gilt bei KI umso mehr, weil KI kein neues starres IT-System ist, das es einzuführen gilt. KI entwickelt sich durch die Interaktion mit uns Menschen ununterbrochen weiter. Das vergessen die meisten. Es ist ein interaktives System, was dadurch besser wird, was wir Menschen mit ihm machen.
Das fällt schwer, wenn Sachen nicht funktionieren.
Michael Groß: Die Ernüchterung kommt dadurch, dass bislang viele Dinge Copilot-Funktionen sind, die aber noch nicht wirklich Geschäftsprozesse grundlegend verändern, geschweige denn neue Geschäftsmodelle aufbauen. Die nächste Evolutionsstufe ist wesentlich schwieriger zu erreichen, nämlich Geschäftsprozesse wie im Kundenservice neu aufzusetzen oder beispielsweise im Recruiting. Damit beschäftige ich mich auch sehr intensiv. Im Recruiting kann KI sehr viel leisten. Im vorhandenen rechtlichen Rahmen versteht sich.
Wo sind die Grenzen der KI?
Michael Groß: KI-Agenten unterstützen uns, bereiten viele Dinge vor, nehmen uns viele Standardaufgaben ab, sodass wir uns auf die wesentlichen menschenbezogenen Tätigkeiten konzentrieren können. Aber als Sprachwissenschaftler sage ich: KI wird noch Jahre brauchen, um viele Dinge zu verstehen, die wir Menschen mit unseren Zwischentönen transportieren. Ironie und Sarkasmus zum Beispiel. Es gibt in der Sprache die inhaltliche Ebene und die Bedeutungsebene. Sie können lustige Erfahrungen machen, wenn Sie KI dort aufs Glatteis führen, wo schon ein kleines Kind die Botschaft in einem Ausdruck versteht. Und deshalb werden Menschen auch in Zukunft viel kreativer sein als KI.