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Technologie > Energiewende

Atomkraft, ja bitte? Ein deutscher Glaubenssatz gerät ins Wanken

Atomkraft ist nicht gleich Atomkraft. Das weiß man allerdings vor allem außerhalb Deutschlands. Dort setzt man weiter auf diese Technologie.

Greta Thunberg macht auf Facebook gewöhnlich nicht viele Worte. Die Mehrzahl ihrer Posts besteht aus Fotos von Schülerdemos und kurzen Sätzen aus ihren Reden. Doch einmal holte die 18-Jährige weiter aus. 4000 Zeichen verwendete sie vor einigen Monaten, die in der Öffentlichkeit schnell auf einen Halbsatz reduziert wurden: Atomenergie, schrieb Thunberg, "kann ein kleiner Teil in einer sehr großen, neuen CO2-freien Energielösung sein". Die Wörter "Atomenergie" und "Lösung" reichten, um einen Großteil der Umweltbewegung in Rage zu versetzen. Ausgerechnet die Galionsfigur der Klimabewegung nun also als Befürworterin einer Technologie, die vor allem im deutschsprachigen Raum als mit den drei Gs versehen gilt: gefährlich, gestrig, Geschichte. 

Thunberg ruderte daraufhin zurück. Verwies darauf, dass sie lediglich eine Einschätzung des Weltklimarats IPCC zitiert habe. Dieses maßgebliche wissenschaftliche Beratergremium in Klimafragen hatte in einem Sonderbericht Dutzende von Szenarien untersucht, um zu klären, wie sich das in Paris beschlossene Ziel erreichen lässt, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu beschränken. Atomenergie, die heute weniger als drei Prozent des weltweiten Energiebedarfs deckt, spielt in vielen dieser Szenarien eine Rolle. Zwar verweist der IPCC in demselben Bericht auch auf Risiken der Technologie: hohe Kosten, ungelöste Entsorgungsfrage, hoher Ressourcenverbrauch. Und dennoch war die Diskussion damit in der Welt. Beziehungsweise in der Welt minus Deutschland.

Denn tatsächlich ist es ja so: Seit dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima vor zehn Jahren gibt es in Deutschland einen energiepolitischen Glaubenssatz: Atomkraft? Nein danke. Das ist hier nun Regierungspolitik von den Grünen über die SPD bis hin zu CDU und CSU, selbst in der FDP hält man das Thema klein. Und auch in der deutschen Wirtschaft geht es öffentlich vielen so. Selbst Energiemanager wie der langjährige E.On-Chef Johannes Teyssen verkünden öffentlich, dass es nie mehr Nuklearenergie in Deutschland gebe. Und tatsächlich sind die Argumente ja einleuchtend: Die Atomenergie ist seit Tschernobyl und Fukushima die gefährlichste Energietechnologie der Welt, gleichzeitig war sie wirtschaftlich nie rentabel, wurde immer staatliche subventioniert. Und eine Lösung für die Entsorgung des nuklearen Mülls in Deutschland gibt es auch bis heute nicht. Die will man frühestens Mitte der 30er-Jahre finden, wenn bereits alle deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet sein werden.

Doch zehn Jahre nach Fukushima muss man auch sagen, dass sich zwei Dinge geändert haben: Deutschland ist mit Österreich und der Schweiz der einzige relevante regionale Block in der Welt, der die Atomenergie für ein Auslaufmodell hält. Und längst arbeiten Forscherinnen und Forscher weltweit an Technologien, die deutlich weniger gefährlich als die bisher bekannten Atomkraftwerke sind. Und die Welt baut auf diese Technologien: Ob China, Indien, die USA oder auch Frankreich und Großbritannien – weltweit planen und bauen Staaten Dutzende neue Atomkraftwerke. Fast alle mit neuer Technologie, fast alle diese Länder bauen vor allem auf den Beitrag, den die Atomenergie zum Erreichen der weltweiten Klimaziele leisten kann. Schließlich ersetzen die Nuklearwerke weltweit vor allem Kohlekraftwerke, die dem Klima schaden wie sonst keine Technologie auf der Welt. Was ist also dran an dem neuen Boom?

Die Pläne der Europäer

Einer der entschiedensten Befürworter ist Frankreich. Für Staatspräsident Emmanuel Macron steht fest: "Unsere ökologische und energetische Zukunft hängt auch von der Kernenergie ab." Er sei nie ein Befürworter der Kernkraft gewesen, gehe aber davon aus, dass diese in den kommenden Jahrzehnten eine Säule des Energiemixes sein müsse. Frankreich erzielt rund 80 Prozent seiner benötigten Stromproduktion aus der Atomkraft. Auch Großbritannien hat die Kernenergie noch nicht abgeschrieben. Im Gegenteil. Der "Aktionsplan zur Entkarbonisierung", der das Ziel hat, den Ausstoß von Treibhausgasen im Land bis 2050 komplett zu beenden, sieht den Bau neuer Mini-Atomreaktoren vor. 15 dieser von Rolls-Royce geplanten Reaktoren mit einer Kapazität von 440 Megawatt – genug, um eine 500.000-Einwohner-Stadt zu versorgen – sollen in den kommenden neun Jahren ans Netz gehen.

Ausbaupläne gibt es zudem in Tschechien. Dort will die Regierung den Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung bis 2040 von derzeit rund 34 Prozent auf 50 Prozent erhöhen. Auf der anderen Seite des Atlantiks setzt US-Präsident Joe Biden ebenfalls auf eine Beibehaltung der Kernenergie. Im Wahlkampf hat er sich für den Bau von kleineren und mobilen Mini-Reaktoren ausgesprochen. Das von Bill Gates gegründete Unternehmen TerraPower will Atomkraftwerke mit einer Leistung von je 345 Megawatt errichten.

Dabei ist TerraPower nicht allein. In Kalifornien arbeiten derzeit gut 50 Start-ups an der Entwicklung neuer Nukleartechnologien. Aus dem Silicon wird das Nuclear Valley. Dabei experimentieren die Ingenieure mit neuartigen Kühlmethoden wie dem Einsatz von flüssigem Natrium. "Ich würde erwägen, den Atomausstieg infrage zu stellen, ja, vor allem weil wir noch nicht über ausreichend regenerative Energiequellen verfügen", sagte deswegen etwa auch Volkswagen-Chef Herbert Diess vor einigen Wochen auf einer Veranstaltung. Ähnlich äußerte sich Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle.

Der deutsche Informatiker und Physiker Rainer Klute plädierte deswegen bereits öffentlich dafür: "Weil Physiker und Ingenieure in den vergangenen Jahren, unbemerkt von einer atomhysterischen Öffentlichkeit, gewaltige Fortschritte gemacht haben." Klute ist Chef des Vereins Nuklearia e.V., der aus einer Arbeitsgruppe der Piratenpartei hervorgegangen ist und sich als streng unabhängig von der Atomwirtschaft bezeichnet. Er setzt sich für eine "nukleare Re-Alphabetisierung" Deutschlands ein.

Was technisch geht

Tatsächlich gibt es neben den Mini-Reaktoren, auf die die angelsächsischen Staaten bauen, weitere Innovationen, die eine neue Debatte über die Technik forcieren. Dazu gehören moderne Reaktoren, die Energie aus bereits angefallenem Atommüll gewinnen können. Allein aus den gebrauchten Brennelementen in den verschiedenen Zwischenlagern könnte Deutschland 250 Jahre lang komplett mit Strom versorgt werden, rechnen Befürworter dieser Technik vor. Die Reaktoren dieser vierten Generation würden damit nicht nur die Endlagerfrage lösen, sie würden auch die Menge des nutzbaren Urans um das 50- bis 80-Fache strecken, sodass es für Zehntausende Jahre Stromerzeugung reichen würde – und das alles klimafreundlich und emissionsfrei.

Diese Technik umgeht einen Nachteil der bisherigen Leichtwasserreaktoren. Die brauchen Brennstoff für einen Teil des Urans. Um eine kontrollierte nukleare Kettenreaktion in Gang zu setzen, werden die Brennstäbe mit Neutronen beschossen. Jede dadurch erzeugte Kernspaltung entlässt weitere Neutronen, die wiederum Kernspaltungen auslösen. Die freien Neutronen, die "Antreiber"‚ der Kettenreaktion, werden durch das Kühlwasser im Reaktor stark abgebremst. Das ist einerseits erwünscht, weil langsame Neutronen das Uran-235 leicht spalten. Allerdings bleibt der Großteil des Urans, das nicht spaltbare Uran-238, praktisch ungenutzt.

Benutzt man nun andere Kühlmittel als Wasser, das die Neutronen nicht so stark abbremst, könnten die schnellen Neutronen auch das Uran-238 spalten – ein gewaltiger Vorteil! Nun, ein solches Kühlmittel gibt es: flüssiges Natrium. Reaktoren, die mit nicht abgebremsten Neutronen arbeiten, heißen "schnelle Reaktoren". Sie sind in verschiedenen Varianten seit den 1950er-Jahren in Betrieb, auch als stromerzeugende Leistungsreaktoren. Uran-238 kommt in der Natur reichlich vor, es wird in Minen abgebaut. Auch die bisher abgebrannten Atomstäbe bestehen zum größten Teil aus Uran-238, und Anreicherungsanlagen lassen große Mengen abgereichertes Uran-238 zurück. Andere Teile bisherigen Atommülls lassen sich offenbar nutzen, um sie auf diese Art in Energie umzuwandeln.

Natriumgekühlte Schnellreaktoren zählen zur vierten Generation von Kernreaktoren, deren Entwicklung ein Zusammenschluss von 14 Staaten koordiniert, darunter Russland, die USA, Frankreich und Kanada. Deutschland gehört nicht dazu. Die Bundesrepublik hat es verpasst, diese Technik weiterzuentwickeln. Dabei stand auch Deutschland mit dem Schnellen Brüter in Kalkar in den 1980er-Jahren kurz davor, das Atommüllproblem zu lösen, noch bevor es eines wurde. Mit Abstand führend ist Russland, auch in China sollen Schnellreaktoren ab Mitte des Jahrhunderts die vorherrschende Reaktortechnik stellen. Der nächste natriumgekühlte Leistungsreaktor dürfte 2020 in Indien in Betrieb gehen.

Klein, aber fein?

Auf die alte Technik, dafür neue Dimensionen setzt dagegen Rolls-Royce. Der Tech-Konzern aus Großbritannien, der nichts mehr mit der Automarke zu tun hat, plant die Mini-Nuklearkraftwerke, die Großbritannien 2029 in Betrieb nehmen möchte. Diese Anlagen werden in einer Fabrik gebaut und sind so "mini", dass die Reaktoren auf der Straße zum Bestimmungsort transportiert werden können. Es gibt bereits zwei Standorte in Wales und einen im Nordwesten Englands. 15 sollen es insgesamt werden. Die Mini-Reaktoren werden in Serie produziert – dadurch erwartet man eine enorme Kostenersparnis. Der Trick besteht darin, vorgefertigte Teile sowie fortschrittliche digitale Schweißverfahren und eine robotergestützte Montage zu nutzen. Diese Teile werden an die Baustelle geliefert und dort zusammengeschraubt.

Small Modular Reactors – SMR – heißt die Technik. Im Gegensatz zu einzelnen Blöcken mit großer Leistung, die nach kundenspezifischen Vorgaben individuell gebaut werden, sollen diese Mini-Reaktoren seriell hergestellt werden. Standardisierte Prozesse und gleiche Bauteile sollen die Kosten senken. Laut MIT Review wäre NuScale Power mit Sitz in Portland in der Lage, 60-Mega watt-Anlagen zu bauen. Sogar ein Vertrag über den Bau von zwölf Mini-Reaktoren ist abgeschlossen, nur ist die Finanzierung nicht gesichert. Denn die Serienfertigung hat ein Problem: Es muss eine ganze Reihe von Kunden gefunden werden, denn nur eine größere Stückzahl macht den Bau wirtschaftlich attraktiv. Hinzu kommt das Sicherheitsdilemma: Die kleinen Reaktoren benötigen die gleiche Schutztechnik und die gleichen Sicherheitsvorkehrungen etwa vor terroristischen Anschlägen wie ihre großen Brüder. Das treibt die Kosten pro Megawatt nach oben.

Große Hoffnung Super-Reaktor

Die größte Hoffnung für unbegrenzte Energie ohne Klimaemissionen bleiben die Fusionsreaktoren. Sie wären eine gänzlich neue Generation an Atomkraft – und versuchen, die Mechanismen der Sonne nachzubilden. Auch dort entsteht schließlich ständig Energie. Dabei muss man den Plasmastrom im Reaktor mit seinen extrem hohen Temperaturen beherrschen. Die Vorteile des Fusionsreaktors sind bestechend. Das System ist schon im Konzept "sicher": Sollte es zu Störungen kommen, würde das Plasma nicht weiter komprimiert werden, die Fusion der Atome würde sofort stoppen. Die Anlage könnte zwar beschädigt werden, aber es gäbe keinen Atom-GAU. Außerdem würde kaum radioaktiver Abfall entstehen, ein weiterer Risikofaktor bei den bestehenden Atomkraftwerken.

Allerdings hat die Technologie noch ein Problem: Sie ist so unglaublich komplex, dass es keinen verlässlichen Zeitplan für ihren Einsatz gibt. Europa fördert seit 2010 den ITER-Reaktor in Südfrankreich. Es ist die erste Anlage, die nach diesem Prinzip Energie erzeugen soll. Aber Verzögerung im Bau, Kostenexplosionen und politischer Widerstand setzten dem Projekt zu. Laut "MIT Technology Review" ist General Fusion aus Vancouver mit einem einfacheren Fusionssystem weiter. Dort hofft man, dass die Fusionsreaktoren in 10 bis 15 Jahren einsatzbereit sein könnten. TAE Technologies aus Kalifornien verspricht sogar, einen Fusionsreaktor innerhalb von fünf Jahren zur kommerziellen Reife zu bringen.

Und Deutschland?

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist es still geworden um dieses hierzulande hochumstrittene Thema. Der letzte Spitzenpolitiker, der ein Comeback des Themas versuchte, war der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). "Ob das nötig ist, wird davon abhängen, ob die Energiewende klappt, ob die Kosten im Rahmen bleiben und die Versorgungssicherheit gewährleistet ist", sagte der CDU-Politiker im vergangenen Jahr. "Es ist eine Frage, die in zehn oder 15 Jahren ansteht." Damit die Bürger und Politiker aber frei entscheiden könnten, dürfe sich Deutschland nicht komplett aus dem Thema herausziehen. "Kernforschung muss weiter betrieben und gefördert werden. Wir müssen technologieoffen bleiben. Das heißt nicht, dass wir gleich neue Kraftwerke bauen. Aber wir müssen die Kompetenz dafür behalten." Es sieht bisher nicht danach aus, als habe ihn jemand erhört.

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