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Energie & Rohstoffe > Energie

Das Gaswunder

Blitzschnell schafft Deutschland eine Infrastruktur für Flüssiggas. Und schon ist zu viel des Brennstoffs da.

Hofft auf bessere Zeiten, etwas Wärme undein Wunder: das Mädchen mit den Schwefelhölzern, wie es Künstler Danny Seidel sieht.Illustration: Danny Seidel

Ohne die mobile Polizeiwache wäre es eine unspektakuläre Baustelle. Eine Handvoll Bagger, eine Wiese, aufgewühlter Boden. Auf der anderen Seite der Straße der grüne Deich, dahinter der Anleger in der Nordsee. Zusammengenommen ist das Deutschlands wichtigstes Infrastrukturprojekt. Kurz vor Weihnachten wird hier das erste Flüssiggas anlanden. Carsten Feist steuert den Dienstwagen noch ein Stück weiter. Parken ist schwierig und nicht gern gesehen, selbst wenn der Oberbürgermeister von Wilhelmshaven vorbeikommt. Seit den Anschlägen auf die Ostseepipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 wird rund um die Uhr überwacht. Strategische In­frastruktur und so. Von der Mole des Hooksieler Außenhafens ist der Blick ohnehin besser.

 In der Luft hängt ein Hauch von totem Fisch, den auch der frische Westwind nicht wegblasen kann. Feist steht in seiner dunkelblauen Funktionsjacke am Geländer der Mole und schaut nach Südosten in die Weite des Jadebusens. Ganz hinten die Kräne des Jade-Weser-Containerhafens. Mittendrin der graue Strich des Anlegers, etwa 1,5 Kilometer lang, dann noch einmal ein paar hundert Meter im rechten Winkel abgeknickt. „Da vorn an der Brücke liegt dann ein 350 Meter langer Pott. Der sieht von hier aus wie ein Spielzeugschiff.“ Der Pott heißt „Höegh Esperanza“, das erste schwimmende Flüssiggas-Terminal für Deutschland. Fünf weiterer solcher LNG-Projekte (Liquified Natural Gas) gibt es, die die Abhängigkeit von russischem Pipelinegas beenden sollen. In Wilhelmshaven waren sie besonders schnell.

„Wir haben geliefert“

Wenn alles läuft wie geplant, und Oberbürgermeister Feist ist sich sicher, dann hat es seit dem Baustart im Juli rund 230 Tage gedauert, bis der erste Tanker um den 21. Dezember herum gelöscht werden kann. Sechs Monate Bauzeit direkt neben dem Nationalpark Wattenmeer und dem Naturschutzgebiet Voslapper Groden Nord – für Deutschland mit seinen ausufernden Genehmigungsverfahren wirkt das wie ein Wunder. Ein Gaswunder. Oberbürgermeister Feist würde das nie so nennen. Er sagt: „Wir haben geliefert.“

Etwa 77 Kilometer Luftlinie Richtung Ostnordost sitzt Frank Schnabel. Der schmale Mann mit Seitenscheitel und unauffälliger Brille ist eher der Typ graue Eminenz. Der Betriebswirt ist Chef im fast niedlichen Brunsbütteler Elbehafen und Geschäftsführer der Schramm-Gruppe, eines mittelständischen Hafenlogistikers. Sein Herzensthema: LNG. Die Technologie, die Erdgas durch Kühlung auf minus 162 Grad und ein Sechshundertstel seines Volumens schrumpfen lässt und damit wirtschaftlich transportfähig macht – per Schiff.

Schnabel hat zehn Jahre dafür geworben, alle haben genickt, nichts ist geschehen. Jetzt, im elften Jahr, kommen alle. Plötzlich geht das, was vorher Jahre gebraucht hätte – Genehmigungen, Anträge, Stempel, Entscheidungen –, in Tagen. Es sind mehrere Dutzend solcher Genehmigungen, archäologische Gutachten gehören dazu, und gebaut werden muss am Ende auch noch: eine drei Kilometer lange Pipeline, mit der die wertvolle Fracht ins nationale Netz eingespeist werden kann. Anfang des Jahres wird in Brunsbüttel das erste Flüssigerdgas ankommen. „Ich hadere damit, dass der Krieg der Auslöser ist, um eine gute Idee umzusetzen“, sagt Schnabel, aus dessen Büro die Elbe in all ihrer Breite genauso sichtbar ist wie die Einfahrt in den Nord-Ostsee-Kanal.

Es waren norwegische Reeder, die 2011 bei ihm nachfragten, ob Brunsbüttel nicht vielleicht eine LNG-Tankstelle für ihre Schiffe bauen könnte. Schnabel erkannte die Einsatzmöglichkeiten dieser Energieform. Neben Schiffen ließen sich, wie schon in China und den USA, Lastwagen betanken, die sauberer und leiser würden. Die Chemieindustrie hätte Bedarf, gleich nebenan im größten Industriegebiet Schleswig-Holsteins, zum Beispiel das Yara-Düngemittelwerk. Und nicht zuletzt: Das deutsche Gasnetz ließe sich beliefern, das damals allein an Pipelines hing und damit an den Mächten am anderen Ende der Leitung. Vor allem Russland, das zuletzt 55 Prozent des deutschen Gasbedarfs lieferte.

Viel Lob, wenig Hilfe

Besonders nach Wladimir Putins Annexion der Krim 2014 habe er sich gedacht, jetzt brauche Deutschland eine Alternative zur Gasversorgung via Nord Stream, berichtet der Brunsbütteler Hafenchef. Und tatsächlich fand Schnabel einen strategischen Partner: Das niederländische Staatsunternehmen Gasunie war auf der Suche nach einem Ort für ein LNG-Importterminal. Gemeinsam fuhren sie zu Sigmar Gabriel, damals Bundeswirtschaftsminister von der SPD. Der fand das Projekt „eine tolle Idee“. Geld oder Hilfe gab es nicht. Es gebe genügend Gas über die Pipeline aus Russland, hörte Schnabel aus dem Ministerium. Auch unter Gabriels CDU-Nachfolger Peter Altmaier blieb das so.

Dann überfiel Russland Ende Februar die Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einer „Zeitenwende“. Die Energiepreise schossen in die Höhe, besonders der Gaspreis kannte lange keine Grenze nach oben. Der Industriestandort Deutschland hatte ein schwerwiegendes Problem, ganze Geschäftszweige standen vor dem Aus. Andere Gasquellen mussten gefunden werden. Und der Kanzler überraschte Oberbürgermeister Feist (parteilos). „Bis zum 27. Februar, als Scholz Wilhelmshaven in seiner Regierungserklärung den Auftrag für das LNG-Terminal erteilte, wussten wir davon nichts.“ Aber dann ging es los. Jedenfalls so, wie das in Norddeutschland losgeht und wie Feist die Terminalbaustelle beschreibt: „Gelassen, unspektakulär, aber sehr zielorientiert.“

Ein Vorteil der Wilhelmshavener: Sie beschäftigen sich hier seit 30 Jahren mit dem Thema. „Die Firmen hatten 2019 umsetzungsfertige Pläne für ein LNG-Terminal“, sagt Feist, während der Wagen am kilometerlangen Deich entlangrollt. „Flächennutzung, Raumordnung, Trassenplanung, Bodenerkundungen: Alles war fertig.“ Doch der Markt habe damals kein LNG gewollt, weil russisches Pipelinegas unschlagbar billig gewesen sei. „Deshalb landeten die Pläne in der Schublade.“ Aus der sie der inzwischen verstaatlichte Düsseldorfer Energiekonzern Uniper wieder hervorzog. „Wir mussten die Pläne nur etwas überarbeiten. Das hat die Geschwindigkeit ermöglicht“, sagt Feist. Und natürlich war der Anleger schon da, der Kunststoffhersteller Vynova nutzt ihn seit Jahren für die Materialanlieferung. Die Schornsteine der Anlage stehen etwas weiter hinten auf dem Gelände, auf dem vorne die Polizei die Baustelle bewacht.

Der Bundestag hat noch das LNG-Beschleunigungsgesetz verabschiedet, um die Verfahren zu vereinfachen. Der Bund hat rund drei Milliarden Euro bereitgestellt und insgesamt fünf FSRU gechartert, um sie den Betreibern der verschiedenen LNG-Terminals zur Verfügung zu stellen. An der Nordseeküste kam dazu noch ein pragmatisches Vorgehen des Landes Niedersachsen. Und: „Das alles ging nur, weil wir in der Region eng zusammenarbeiten. Die Pipeline läuft schließlich von Wilhelmshaven aus durch den Landkreis Friesland und den Landkreis Wittmund.“ Auch habe das Projekt Vorrang in den Rathäusern. Anderes blieb liegen. Denn für Feist ist klar: „Wir handeln hier in nationaler Verantwortung.“

Die niedersächsische Hafengesellschaft NPorts hat den Anleger für 56 Millionen Euro erweitert, Netzbetreiber Open Grid Europe aus Essen die 26 Kilometer lange Pipeline vom Anleger zum nationalen Netz und das Kavernenspeichersystem bei Etzel gebaut, Uniper als Betreiber hat den Anschluss bereitgestellt.

„Gut, dass es Kritik gibt“

Feist ist wichtig, dass trotz des beschleunigten Verfahrens alle Gesetze genauso beachtet würden wie vorgesehen, einschließlich aller Umweltprüfungen. Rund 300 Einsprüche gab es zuletzt. „Ich finde es sehr gut, dass es Kritik gibt, die berücksichtigt werden muss.“ Gebaut wird wie schon beim deutschen Werk des US-Elektroautobauers Tesla in Grünheide bei Berlin zum Teil mit vorläufigen Zusagen. Wilhelmshavens Oberbürgermeister ist sich aber sicher: „Alle Einsprüche und Genehmigungen werden bis zur Inbetriebnahme vor Weihnachten abgearbeitet sein.“

Brunsbüttels Hafenchef Schnabel sagt: „Ich erlebe ein Positivbeispiel für das, was möglich ist, wenn man es nur politisch will.“ Für ihn ist das, was sich vor seinem Bürofenster abspielt, „die Blaupause für die Energiewende“. Noch im Juli 2021 konnte er im Brunsbüttler Industriegebiet ein anderes Bild sehen: 2000 Demonstranten aus der ganzen Republik, die gegen das geplante Terminal für Flüssigerdgas demonstrierten. Dabei lag der Bau in weiter Ferne. Sie schlugen Zeltlager auf, skandierten: „Sauberes Gas ist eine dreckige Lüge“ und „Ende Gelände“. Ein Redner rief: „Wer jetzt noch ein Frackinggasterminal baut, hat seinen moralischen Kompass komplett verloren.“ Die Polizei hatte mehrere Hundert Einsatzkräfte in dem Örtchen an der Elbmündung zusammengezogen. „Der Widerstand ist fast komplett zum Erliegen gekommen“, stellt Schnabel heute fest. Brunsbüttel sei zwar für viele ein kleines Nest. „Aber wir machen globale Wirtschaftspolitik.“


Zukunft Wasserstoff

Wilhelmshavens Oberbürgermeister steht jetzt auf dem Deich südlich des Containerhafens, 14,5 Kilometer vom neuen LNG-Anleger entfernt. Im Rücken liegt das Nordseehotel, dahinter direkt die Ölspeicher der NWO, wo ein Großteil der nationalen deutschen Ölreserve lagert. Den Platz steuert Feist gern mit Besuchern an. Der größte Ölhafen Deutschlands – viel Wasser, viel Himmel, ein langer Steg. „Hier legen die größten Öltanker der Welt an, das Öl geht über Pipelines nach Köln, Gelsenkirchen, Hamburg oder wird direkt gelagert. Dann haben wir da die beiden Kohlekraftwerke, eins bereits abgeschaltet. Das ist die Welt von gestern“, sagt Feist und macht eine Pause, in der nur der Wind zu hören ist, der an seiner Funktionsjacke zerrt. „Da vorn, hinterm Jade-Weser-Port mit den Containerbrücken, plant TES (Tree Energy Solutions) eine Wasserstofffabrik mit erneuerbarer Energie und einem Anleger für Wasserstoffimport. Das ist die Zukunft.“

TES baut bereits einen neuen Flüssiggasanleger, zunächst mit einem FSRU, das die Bundesregierung gechartert hat, dann soll ein stationäres Terminal entstehen, das später auf Wasserstoff umgestellt wird. Und plötzlich sind Wilhelmshaven, Stade in Niedersachsen, Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern und Brunsbüttel am Rand Deutschlands die Orte der Energiezukunft Deutschlands – was genauso zum Gaswunder passt, wie die Tatsache, dass der Gaspreis gerade sinkt.

Das liegt unter anderem daran, dass Länder, die auf russisches Pipelinegas angewiesen waren, gezeigt haben, dass es auch anders geht: Sparen, mehr fördern, in anderen Ländern einkaufen, auf andere Energieträger setzen, Solar- und Windanlagen bauen. Und weil Europa sich nicht davon entzweien lässt, dass Russland Energielieferungen als Waffe einsetzt. Für viele ist auch das eine wunderbare Entwicklung. Inzwischen sind so viele Schiffe mit Flüssiggas nach Europa unterwegs, dass der ein oder andere Händler schon mit dem Löschen wartet – hoffend, dass die Preise wieder anziehen.

Derweil spürt Brunsbüttel, dessen Atommeiler einst für Energie stand, die keiner mehr wollte, Aufbruchstimmung, ebenso Wilhelmshaven, obwohl Oberbürgermeister Feist zunächst nur eine mittlere zweistellige Zahl von neuen Arbeitsplätzen erwartet. Aber das LNG-Terminal funktioniert wie eine Zeitschaltuhr. „Die Wertschöpfung entsteht nicht durch den Import des Gases, sondern später, wenn sich Service- und Logistikunternehmen ansiedeln. Und Firmen, die sehen, dass wir regenerative Energien und Strom können.“ Dazu kommt der Vorteil des Hafens: Die Fahrrinne ist mindestens 17 Meter tief, so haben auch die größten Schiffe der Welt voll beladen immer noch genug Wasser unterm Kiel und können sogar ohne Probleme drehen, was in der Elbe vor Brunsbüttel oder Stade schwierig wird. Perspektivisch könnte deshalb in Wilhelmshaven noch ein drittes LNG-Terminal entstehen, dort, wo zurzeit noch Öl angelandet wird.

Wobei fraglich ist, ob es überhaupt dazu kommt. Oberbürgermeister Feist formuliert es so: „Niemand will endlos lange Laufzeiten für Flüssiggas. Das kann nur eine Übergangslösung sein. Wir müssen das Thema regenerative Energien enorm beschleunigen. Sieben bis zehn Jahre LNG, dann kommt Wasserstoff. Da sehen wir die Zukunft für Wilhelmshaven.“ Platz ist genug da. In den 70er-Jahren wurde großzügig eingedeicht, der Chemieboom blieb aber aus. Stattdessen: Natur. Und Chancen.

In Brunsbüttel weiden Kühe da, wo einmal Gastanks entstehen sollen. Das Entscheidende ist aber: Es ist keine Kuhwiese, sondern ein Gewerbegebiet, von dem sie sich ernähren. Im Dezember werden am Terminal die ersten Flüssiggastanker andocken. Und auf dem Gelände um Schnabels Büro herum beginnen dann die Bauarbeiten für ein LNG-Terminal auf dem Festland, dessen zwei Tanks je 165.000 Kubikmeter LNG fassen soll und später auf Wasserstoff umgestellt werden können. Die Norweger hatten vor elf Jahren nach einem 500-Kubikmetertank für ihre Schiffe gefragt. Aber das waren die Zeiten, bevor sich das Gaswunder bemerkbar machte. 

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