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Technologie > Interview

„Der deutsche Ingenieur denkt stets mit Puffer“

Christian Wendler leitet den Automatisierungs-Spezialisten Lenze. Er hat eine sehr genaue Vorstellung davon, wie die Industrie Energiekosten sparen kann. Und er fällt nicht ein in den Chor derjenigen, die über schlecht ausgebildete Nachwuchskräfte klagen. Im Gegenteil.

Die Energiepreise sind rapide gestiegen. Sehen Sie die Gefahr der Deindustrialisierung in Deutschland?

Ich sehe zwei gegenläufige Trends. Es gibt ein Decoupling, also eine Entkopplung von Asien und insbesondere von China, das auf der anderen Seite, also bei uns, zu einem Reshoringprozess führt, zu einer Rückverlagerung von Produktion hierher. Beides sind für uns als Entwickler von Antriebstechnik und Automation positive Trends, denn es geht darum neue Anlagen zu liefern, die effizienter funktionieren und damit die Energiepreise abfedern. Der andere Trend ist das, was Sie beschreiben: die Gefahr einer Deindustrialisierung in Deutschland. Letzte Woche hatte ich Gäste aus Kanada zu Besuch, die heftig für ihren Standort warben. Im Moment sieht es so aus, als schreite die Deindustrialisierung schneller voran, während das Decoupling dauert. Das ist für uns in Deutschland eine Herausforderung, wenn wir die Reshoring-Effekte für unser Land nutzen wollen.

Zwei gegenläufige Trends. Dazu Inflation, angespannte Lieferketten, Fachkräftemangel, Energiepreise vom Mond – alles etwas viel auf einmal, oder?

Als Unternehmer sind wir gewohnt, verschiedene Szenarien abzubilden und Alternativen zu bewerten. Es gibt immer unterschiedliche Rahmenbedingungen, auf die wir uns vorbereiten müssen. Was aber stimmt: Die Rahmenbedingungen haben extrem unterschiedliche Auswirkungen. Der Hebel ist sehr lang . . .

. . . wenn zum Beispiel ein Angriff Chinas auf Taiwan stattfinden würde . . .

Das ist genauso ein extremes Szenario, das wir bedenken müssen. Der deutsche Mittelstand ist in China und Taiwan unterschiedlich engagiert. Aber natürlich würde das sofort zu weiteren Problemen in der Zulieferkette führen. Wir müssten Zulieferer aus anderen Regionen erschließen. Es gibt bisher aber weder die Fabriken auf der Welt, die das leisten können, was taiwanesische Fabriken im Halbleiterbereich leisten. Noch lassen sich die Rohstoffe, die zur Herstellung nötig sind, so schnell umlenken.  


Hilft die Digitalisierung, wenn es darum geht, die Energiepreise abzufedern? Haben Sie konkrete Beispiele?

Wir sehen zwei Wege: Zum einen helfen digitale Daten dabei, Komponenten und Materialien genauer auf ihre tatsächliche Nutzung auszulegen. Es ist bisher so: Jeder Ingenieur sorgt dafür, dass Reserven bei den Prozessen oder den Teilen, für die er verantwortlich ist, vorhanden sind. Der deutsche Ingenieur denkt stets mit Puffer. Dadurch entsteht in einem Prozess eine Kette von Reserven, die Arbeitsprozesse am Ende ineffizient machen.


Kann denn ein deutscher Ingenieur ohne Reserven gut schlafen?

Wenn er über genaue Daten verfügt, was tatsächlich gebraucht wird, schon. Ansonsten legt er zum Beispiel einen Motor stets größer aus, als er benötigt wird, was unnötig Energie verbraucht.


Und was ist der zweite Weg, von dem sie sprechen?

Wir wissen oft nicht, wieviel Leistung in einem System verbraucht wird. Wir lassen Logistiksysteme zur Sicherheit unter Volllast laufen, damit alles möglichst schnell geht. Dabei gibt es optimalere Bewegungsabläufe. Ich vergleiche das immer mit einem Auto: Wenn es von roter Ampel zu roter Ampel spurtet, verbraucht es sehr viel Energie. Wenn es langsam fährt und dadurch die grüne Welle erwischt, ist es genauso schnell am Ziel, aber verbraucht deutlich weniger.

 
Ist der Mittelstand in Deutschland solchen Lösungen gegenüber offen? Er wird ja oft als nicht der Schnellste in Sachen Digitalisierung beschrieben.

Es braucht Mut, und es kostet Geld. Wenn die eigene Fachkompetenz fehlt und sich Mittelständler Wissen dazu kaufen müssen, kann das richtig teuer werden und die Gefahr des Scheiterns ist da. Dazu kommt: Jedes Unternehmen hat ja auch ein Tagesgeschäft, das nicht behindert werden darf. Deswegen muss man den Digitalisierungsprozess in Häppchen teilen, Geld schrittweise ausgeben und Zwischenerfolge erzielen. Das geht. Der Mittelstand ist nicht zu langsam, er hat bloß manchmal einfach nicht die Kompetenz im eigenen Haus.
 

Die hat je kaum einer. Es mangelt an IT-Fachkräften. Woher kommen die bei Ihnen?

Wir gehen unterschiedliche Wege. Vor 20 Jahren haben wir ein Digital-Startup gegründet. Da beschäftigen wir 250 IT-Fachkräfte, die uns helfen. Wir arbeiten eng mit Universitäten wie zum Beispiel in Bremen zusammen und werben gezielt junge Leute an. Wir bieten eine attraktive Bezahlung und ein attraktives Arbeitsumfeld, und wir suchen global nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und finden sie. Ich meine übrigens im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen: Die Jugend ist hervorragend ausgebildet in puncto Digitalisierung.


Der Fachkräftemangel behindert Sie nicht?

Im 75. Jubiläumsjahr haben wir das erfolgreichste Geschäftsjahr der Unternehmensgeschichte geschrieben. Umsatz, Gewinn, Auftragseingang – alles im Rekordbereich. Ich sehe vier strategische Trends und spreche von den „vier D“: Decarbonisierung, Demographie, Decoupling, Digitalisierung – die Trends werden zu einem erhöhten Bedarf nach Leistungen führen, wie wir sie liefern können. Aber es gibt kurzfristige Risiken: Die Lieferketten-Unterbrechung ist für uns das aktuell größte Risiko. Wir haben Verwerfungen und Engpässe in der Halbleiterversorgung.

 

Und dann muss der Staat einspringen. Führt eigentlich die helfende Hand des Staates immer mehr dazu, dass die Marktwirtschaft zurückgedrängt wird?

Die Parteien haben unterschiedliche Perspektiven auf Marktwirtschaft. Manche wissen, dass starke Subventionen mittelfristig eine starke Inflation heraufbeschwören. Andere warnen zu Recht davor, dass Teile der Gesellschaft nicht abgehängt werden dürfen. Da muss der Staat für Ausgleich sorgen, ohne aber gleich die administrativen Anforderungen in die Höhe zu schrauben.

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